10

Es war Kate gelungen, das Thema Estelle während des restlichen Abends ruhen zu lassen. Nachdem Jon am folgenden Morgen zur Arbeit gegangen war, machte sie sich jedoch sofort auf den Weg zum Bahnhof und stieg in den nächsten Zug nach London. Um kurz nach elf stand sie vor Estelles Haustür.

Sie klingelte.

Keine Antwort.

Sie klingelte erneut und wartete. Allmählich wurde sie wirklich nervös! Sie legte den Finger auf den Klingelknopf und behielt ihn unhöflich lang dort. Als sie kurz unterbrach, näherten sich drinnen zögernd Schritte, denen sie mit mehreren kurzen Klingelsalven Mut zu machen versuchte. Endlich wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet.

»Peter?« Sie sah ein schmales Stück seines Gesichts, das sehr blass war und unter dem Auge tiefe Schatten zeigte.

»Kennen wir uns?«

»Ich bin Kate. Kate Ivory. Wir haben gestern miteinander wegen Estelle telefoniert.«

»Stimmt.« Er machte keine Anstalten, die Tür weiter zu öffnen.

Weil ihr Peter irgendwie merkwürdig erschien, sprach sie besonders langsam und deutlich. »Ich bin extra aus Oxford gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Dürfte ich vielleicht einen Augenblick reinkommen?«

Nach einer kurzen Pause wurde die Tür widerwillig geöffnet. Vor Kate stand eine zerzauste, sichtlich schwankende Gestalt.

»Peter?«

Wacklig trat er einen Schritt zurück, um sie einzulassen. Nein, der Mann war nicht verwirrt. Er war schlicht betrunken! Und das um elf Uhr vormittags. Im Haus herrschte Dämmerlicht, weil sich offenbar noch niemand die Mühe gemacht hatte, die Vorhänge zu öffnen. Kates Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie drehte sich zu Peter um, der sich unsicher am Türpfosten des Wohnzimmers festhielt.

»Was ist hier los?«, fragte sie scharf.

Er zuckte zurück. »Was meinen Sie?«

»Man braucht sich doch hier nur umzusehen, um zu wissen, dass Estelle nicht nur mit einer Freundin zum Mittagessen gegangen ist. Sie ist schon mehrere Tage fort, nicht wahr?«

Peter fuhr zusammen. »Hören Sie um Himmels willen auf, so zu schreien.«

Dabei hatte Kate keineswegs geschrien, sondern lediglich mit Nachdruck gesprochen. Sie durchquerte den Raum und öffnete die Vorhänge. Es roch nach schalem Whisky und kalten Pizzaresten, und im Zimmer herrschte ein furchtbares Durcheinander. Und das in Estelles Haus, der erklärten Minimalistin!

»Estelle hat Sie verlassen, nicht wahr?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil ich Estelle kenne, und zwar seit Jahren. Sie ist ausgezeichnet organisiert und sehr ordentlich. Geradezu penibel! Ein solches Chaos würde sie niemals dulden.«

Peter blickte sich um, als sähe er den Raum zum ersten Mal. »Stimmt, es ist ganz schön zugemüllt hier. Aber unsere Mrs Trench kommt diese Woche nicht. Sobald sie wieder da ist, ist im Handumdrehen alles wieder sauber.«

»Und wann kommt Estelle zurück?«

»Was geht Sie das an? Ich weiß überhaupt nicht, was Sie hier wollen. Was Estelle und ich tun, geht Sie absolut nichts an.«

»Und ob es mich etwas angeht, wenn meine Agentin plötzlich ohne ein Wort verschwindet! Ausgerechnet zu einer Zeit, in der ich dringend ihre Hilfe benötige.« Kate sah geflissentlich über die Tatsache hinweg, dass sie sich im Privathaus der Livingstones befand und nicht etwa in Estelles Büro. »Wo ist die Küche?«

»Warum?«

Aber Kate stellte bereits schmutzige Tassen und Teller zusammen und sammelte fettige Pizzakartons von Couch und Tisch. »Ich dachte, eine Tasse Kaffee könnte uns beiden guttun.« Wenn sie ein paar einigermaßen vernünftige Sätze aus Peter herausbekommen wollte, musste sie zunächst dafür sorgen, dass er nüchtern wurde.

Etwas, was einem Lächeln ziemlich nah kam, huschte über Peters Gesicht. Er ging Kate voraus in die Küche, die aussah, als wäre jeder Teller und alles im Haus befindliche Besteck benutzt, aber nicht gespült worden. Auf der Anrichte war Kaffeepulver verstreut, und rings um den Toaster lag ein ganzer Krümelberg. Daneben stand eine leere Whiskyflasche. Instantkaffee? Toast und Whisky zum Frühstück? Kate brauchte mehrere Minuten, um die Espressomaschine notdürftig zu reinigen, ein Päckchen Kaffee zu öffnen und eine großzügig bemessene Menge in die Maschine zu füllen. Sie stellte zwei Espressotassen unter die Tülle, spülte ein Glas und füllte es mit kaltem Wasser.

»Trinken Sie das«, sagte sie zu Peter. »Wenn Estelle zurückkommt und Sie in diesem Zustand vorfindet, ist sie sofort wieder weg.«

»Ich dachte, Sie wollten Kaffee machen.« Er klang schon wieder bockig.

»Zuerst müssen Sie viel Wasser trinken.« Sie hätte ihm Fruchtsaft gegeben, aber im Kühlschrank war keiner.

Die Espressomaschine erwachte zum Leben, fauchte und spie zwei schmale Rinnsale einer schwarzen Flüssigkeit in die Tassen. Zufrieden stellte Kate fest, dass Peter sein Glas geleert hatte und füllte es erneut.

»Haben Sie zufällig Aspirin dabei?«, fragte Peter jammernd.

»Leider nicht.«

Im Wohnzimmer hielt Kate Ausschau nach einem freien Plätzchen, wo sie die Tassen abstellen konnte. Peter wischte drei leere Chipstüten, eine schmutzige Tasse und zwei Bierdosen vom Sofa und warf eine auseinandergefaltete Zeitung in die Ecke.

»Dieser Mistkerl von einem Journalisten! Ein echtes Käseblatt!«, schimpfte er dabei. »Es geht doch wirklich niemanden etwas an, wie viel ein Käufer für ein Buch bezahlen will.«

Auf dem Couchtisch lagen eine Menge zerknittertes, braunes Papier, Wellpappe und ein Stapel alter Bücher herum. Peter ließ sie, wo sie waren. Stattdessen leerte er einen kleinen Glastisch, indem er alles, was darauf lag, einfach auf den Boden kippte. Den Tisch stellte er vor Kate. »Nehmen Sie den hier.« Aus einer dunklen Ecke zog er einen verblichenen Lehnstuhl heran, der den Abdruck seines Körpers trug. Dankbar sank er in die abgenützten Polster und schloss die Augen.

Kate wartete so geduldig, wie es ihr unter den gegebenen Umständen möglich war. »Und?«, fragte sie schließlich mit lauter Stimme. Schließlich konnte Peter schon wieder eingedöst sein. »Hier ist sie jedenfalls nicht. Und in ihrem Büro ist sie auch nicht. Also?«

Peter antwortete nicht.

»Ich hege auch begründete Zweifel daran, dass sie mit Freunden zum Mittagessen ist oder mit einer alten Tante Tee trinkt.«

»Vermutlich haben Sie recht.«

»Seit wann ist sie fort?«

»Seit Samstag.« Er presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, als bereue er, zu viel verraten zu haben.

»Natürlich geht es mich nichts an, ob Estelle und Sie Streit hatten, und darüber will ich auch gar nichts wissen. Aber Estelle ist meine Agentin, und sie hat mir versprochen, einen Entwurf mit mir zu besprechen, den ich ihr vergangene Woche geschickt habe. Deshalb will ich auch nur wissen, wie ich Kontakt mit ihr aufnehmen kann.«

Peter holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Da gibt es ein gewisses Problem.« Er sprach noch immer mit schwerer Zunge, obwohl er jetzt etwas wacher wirkte als bei Kates Ankunft. Sein zweites Glas Wasser hatte er nicht geleert, aber der Kaffee schien ihm gutzutun. »Ich weiß nämlich selbst nicht, wo sie ist. Meine Anrufe hat sie ebenfalls nicht beantwortet. Nicht, dass Sie glauben, wir hätten Streit gehabt. Absolut nicht. Doch als ich Samstagabend nach Hause kam, war sie nicht da.«

Kate hob ihre Kaffeetasse und starrte Peter über den Rand hinweg an. Er sprach jetzt ruhiger und zusammenhängender, trotzdem glaubte sie ihm nicht. »Wollen Sie etwa behaupten, dass sie einfach so verschwunden ist, ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Nicht einmal einen kleinen Zettel?«

»Nichts. Ich habe diese Möchtegern-Autoren im Verdacht, die sie dauernd mit ihren unsäglichen Romanen bombardieren. Einige rufen sogar hier zu Hause an oder kommen mit ihren Manuskripten an die Haustür. Sie haben ja keine Ahnung, wie hartnäckig und fordernd Ihre Kollegen sein können.«

»Aber ich werde doch längst verlegt«, protestierte Kate. »Estelle ist seit zehn Jahren meine Agentin. Außerdem wollte sie mit mir reden. Jetzt fangen Sie nur nicht an, mich mit ihrem Verschwinden in Verbindung zu bringen.« Sie starrte ihn an, bis er ihren Blick erwiderte.

»Nun, vielleicht nicht Sie persönlich. Aber Estelle wurde immer wieder von irgendwelchen Schreiberlingen bedrängt, die fest daran glauben, Estelle könne sie im Handumdrehen reich und berühmt machen. Einer hat sogar mit Selbstmord gedroht, falls sie ihn ablehnen würde.«

»Ich bin sicher, es steckt mehr dahinter als ein übereifriger Möchtegern-Autor. Estelle hat schon seit Jahren mit solchen Leuten zu tun und wird sich nicht plötzlich von ihnen stören lassen. Haben Sie die Polizei informiert?«

»Das ist wohl nicht nötig.«

»Ihre frisch angetraute Ehefrau verschwindet ohne ein Wort, und Sie haben vier Tage später noch nichts unternommen?« Kate wartete. Sie hoffte immer noch, Peter würde ihr endlich anvertrauen, was wirklich geschehen war. »Sie wirken nicht einmal besonders beunruhigt«, fügte sie hinzu.

»Natürlich mache ich mir Sorgen. Aber ich habe nichts Falsches getan und sehe nicht ein, warum ich …« Er schlug sich die Hand vor den Mund, als wolle er die Worte zurückholen, die er gerade ausgesprochen hatte.

»Sie haben mir noch längst nicht alles gesagt, nicht wahr? Was haben Sie getan?« Sie überlegte kurz, ob sie mehr aus Peter herausbekommen würde, wenn sie ihm einen großen Whisky einschenkte. Doch sie schob den Gedanken beiseite, nahm ihm die leere Kaffeetasse weg und hielt ihm das noch fast volle Wasserglas hin.

»Ich mag das Zeug nicht«, murrte er. »Und ich habe ihnen schon mehrmals gesagt, dass es Sie nicht im Mindesten etwas angeht, wo Estelle geblieben ist. Ich weiß nicht, warum sie verschwunden ist. Auf mich wirkt es fast so, als hätte sie für ihn Partei ergriffen.«

»Für wen?«

»Ich habe ihr gesagt, dass das nun mal mein Job ist. Ich kaufe und verkaufe Bücher. Das ist doch ganz einfach zu verstehen, oder?«

»Sicher!« Kate hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

»Mein Vater ist einfach viel zu früh gestorben. Aber welche Folgen das für mich hatte, interessiert anscheinend niemanden! Ich musste mich um meine Mutter und meinen kleinen Bruder kümmern. Und obwohl das alles schon Jahrzehnte her ist, hat sich keiner der beiden die Mühe gemacht, so erwachsen zu werden, dass er Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. Im Gegenteil, mit den Jahren wird es immer schlimmer.« Peter starrte in Selbstmitleid versunken seine Hände an.

Kate brachte die Kaffeetasse in die Küche.

»Es ist sicher nicht leicht für Sie, wenn Estelle mit der Art Ihres Broterwerbs nicht einverstanden ist«, erklärte sie dann und setzte sich wieder zu ihm. »Aber sie kann doch deshalb nicht auf Dauer fortbleiben, oder?«

»Weiß der Himmel. Das Ganze ist ein Riesendurcheinander. Und ich werde ihm keinesfalls geben, was er von mir verlangt.«

»Von wem sprechen Sie?«

»Von niemandem.«

Sie bewegten sich im Kreis. Kate zog ihre Jacke an und griff nach ihrer Tasche. Zeit zu gehen. »Irgendwann muss sie doch zurückkommen, oder?«

»Keine Ahnung. Vielleicht auch nicht.«

»Oh doch, sie wird zurückkommen. Die Frage ist bloß, wann sie es tut. Sie können mich ja anrufen, wenn Sie etwas erfahren.«

Sie hatte eben die Haustür erreicht, als das Telefon klingelte. Peter blickte sich hektisch um, fand das Telefon und drückte überstürzt mehrere Knöpfe, ehe er den richtigen fand.

»Estelle? Bist du das?« Er brach ab und lauschte. »Nein, sie ist nicht da. Wer spricht da bitte?«

Kate strengte sich an, um etwas zu verstehen, doch Peter hielt den Hörer fest an sein Ohr gepresst.

»Ich sagte Ihnen doch, sie ist nicht da«, fauchte er. »Sie müssen doch wissen, wo sie ist, nicht ich!«, fügte er mit ungehaltener Stimme und unnatürlich rotem Gesicht hinzu. »Nein, sie hat heute noch nicht angerufen.«

Die nächste Pause dauerte länger. Peter hörte dem Anrufer zu.

»Nein. Es gehört mir. Ich habe es rechtmäßig erworben. Halten Sie sich da raus! Sie gehörten ihr, nicht Ihnen. Sie bekommen keinen müden Penny.« Und dann plötzlich: »Und wo ist sie? Sagen Sie ihr, sie soll zurückkommen, wo sie hingehört.« Wutentbrannt warf er das Telefon auf den Tisch.

Kate wartete auf eine Erklärung. Erschrocken sah sie, dass sich Peters Augen mit Tränen füllten. »Sie hat heute Morgen um halb sieben sein Haus verlassen«, jammerte er. »Angeblich wollte sie nach Hause, um mit mir zu reden. Aber sie ist nicht gekommen und hat auch nicht angerufen.«

Kate blieb ruhig. »Viereinhalb Stunden«, stellte sie nach einem Blick auf die Uhr fest. »Wo ist sie aufgebrochen?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Wer war denn der Anrufer?«

»Ich weiß nicht.« Er hatte eine trotzige Miene aufgesetzt. Sein Blick irrte durch das Zimmer. Er weiß es sehr wohl, dachte Kate, aber er sagt es mir nicht.

»Aber Sie müssen doch wissen, mit wem Sie gesprochen haben.«

»Nein, ich habe keine Ahnung.« Mühsam stand er auf. Trotz des Kaffees schwankte er noch immer. Mit unsicheren Schritten ging er auf ein Sideboard in der gegenüberliegenden Ecke zu. Zu spät bemerkte Kate, dass er das Tablett mit den Flaschen im Visier hatte. Gin und Whisky schienen leer zu sein, aber in der Flasche mit dem Brandy entdeckte sie noch etwa zwei Zentimeter Flüssigkeit.

»Ich glaube, das ist keine besonders gute Idee«, wandte sie ein, als er den Rest Brandy in ein schmieriges Glas schüttete.

»Schnauze.« Er kippte den halben Inhalt des Glases hinunter, ehe er sich wieder an Kate wandte. »In meinem Haus kann ich trinken, soviel ich will.«

In Estelles Haus, dachte Kate. Der Kerl säuft offenbar, seit sie weg ist. »Ich glaube kaum, dass sie freiwillig für ganze vier Tage mit einem völlig Fremden verschwindet«, sagte sie, um ihn wieder auf das eigentliche Problem zurückzubringen.

Ihr Blick fiel auf das Durcheinander auf dem Couchtisch. Zwischen allerlei Krimskrams lag ein handgeschriebener Brief. Kate konnte nur wenig entziffern. Die Unterschrift lautete Adela Carston, und in der ersten Zeile stand: Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich. Wir haben uns auf Estelles Hochzeit kennengelernt und sprachen kurz über Bücher. Auch, dass der Briefkopf eine Adresse in Oxford trug, konnte sie erkennen. Sie erinnerte sich an ein fliederfarbenes Kleid mit passendem Hut. Hatte die dazugehörige Dame nicht mit ihnen am Tisch gesessen und über die guten alten Zeiten gesprochen? Kate wusste noch, dass die alte Dame ein wenig unklar geredet und gegen Ende der Veranstaltung eindeutig verwirrt gewirkt hatte. Was mochte sie Peter geschrieben haben?

Peter hatte sein Glas geleert, griff hastig nach dem Brief, faltete ihn zusammen und steckte ihn ein. »Sie sollten jetzt gehen«, sagte er. »Es gibt hier nichts für Sie zu tun.«

»Er glaubt, dass Sie etwas haben, was eigentlich ihm gehört, nicht wahr?«, fragte Kate. »Oder gehört es Estelle?«

»Es gehört mir, und ich habe ihm unmissverständlich klargemacht, dass er es nicht bekommen wird. Und Lösegeld zahle ich schon gar nicht.«

»Lösegeld?«

»Was? Halten Sie um Himmels willen den Mund, und gehen Sie endlich!«

»Warum rufen Sie nicht die Polizei?«

»Was glauben Sie wohl, was die davon hält? Meine Frau geht mit einem Mann auf und davon, bleibt vier Tage bei ihm und verschwindet dann erneut. Die Polizei würde mich doch auslachen! Was würden Sie denken, wenn Sie Estelle nicht kennen würden?«

»Es klingt tatsächlich ein bisschen seltsam.«

»Seltsam

»Machen Sie sich denn keine Sorgen um Estelle?«

»Was glauben Sie wohl?«

»Tut mir leid. Natürlich sind Sie beunruhigt.« Kate bemühte sich um einen freundlich mitfühlenden Tonfall. »Hören Sie, Peter, jedenfalls müssen Sie mit der Angelegenheit ab sofort nicht mehr allein zurechtkommen. Ich kann Ihnen sicher helfen, Estelle zu finden und sie davon zu überzeugen, wieder nach Hause zu kommen. Ehe ich allerdings damit anfange, müssen Sie mir wirklich alles erzählen.«

»Sie?« Peter starrte sie an und lächelte dann zum ersten Mal an diesem Morgen. »Was könnten Sie schon tun?«

»Ich habe schon früher Leuten in schwierigen Situationen geholfen.« Sie hätte ihm erzählen können, dass sie sich dabei in ihrem Eifer mehrmals in Lebensgefahr gebracht hatte, doch dafür schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt zu sein.

In diesem Augenblick piepste Peters Handy. Er blickte auf das Display. »Eine SMS.«

»Von Estelle?«

»Von einer Nummer, die ich nicht kenne.«

»Und was steht drin?«

Sie trat auf ihn zu und versuchte, ihm über die Schulter zu blicken. Er zog sich zurück, doch sie blieb hartnäckig.

»Geben Sie mir, was Sie mir schulden, und E …« Peters Hand verdeckte den Rest.

»Von wem kommt das?«, bohrte Kate nach.

»Keine Ahnung. Die ganze Geschichte ist ein wahrer Albtraum.«

»Überlegen Sie sich mein Angebot, Peter. Ich könnte Ihnen helfen, Estelle zu finden.«

»Auf Drohungen reagiere ich grundsätzlich nicht. Und Sie gehen jetzt!«

Ich weiß noch genau, wie dieses Gefühl in mir wuchs, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.

Es war kurz vor meinem vierten Geburtstag. Ich stand auf Zehenspitzen am Fenster, um besser hinaussehen zu können. Obwohl ich noch sehr jung war, nahm ich alle Einzelheiten genau auf und konnte mich an sie erinnern, als hätte ich sie wie Fotos in ein Album geklebt. Manchmal glaube ich, dass die Bilder meiner Erinnerung genauer und lebendiger sind, als es ein Foto nach so vielen Jahren sein könnte. Bei anderen Erinnerungen hingegen frage ich mich, ob ich nicht unabsichtlich einzelne Details verändert habe. Vielleicht werden die winzigen elektrischen Impulse, aus denen unsere Erinnerung besteht, mit den Jahren schwächer. Möglicherweise verlieren sie auf ihrem verworrenen Weg durch unser Gehirn manche Informationen, oder sie nehmen einzelne Fragmente aus einer anderen Zeit auf. Ich erinnere mich zum Beispiel an sehr viel Blut, an dunkelrote Pfützen, die im Laternenlicht fast schwarz wirkten. Dabei weiß ich genau, dass es nicht so gewesen sein kann.

Es war im Winter. Schon um fünf Uhr ging der trübe Nachmittag in völlige Dunkelheit über. Vor den Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. Nur die Straßenlaternen warfen Lichtkegel auf die finstere Straße. Ein regnerischer Samstag. Die Menschen saßen zu Hause, tranken Tee, hörten Radio oder sahen fern. Niemand nahm wahr, was auf der Straße geschah.

Ich hatte den Vorhang ein paar Zentimeter zurückgeschoben und war auf einen Stuhl geklettert, weil ich wissen wollte, was draußen vor sich ging. Ich lehnte meine Stirn gegen die Fensterscheibe. Sie war kalt und feucht und roch nach Zigaretten. Ich wickelte mich in den schweren Vorhang. Seine Farbe war ein langweiliges Rostrot mit einem erhabenen Muster. Am Saum hatte er eine Borte, und er war so staubig, dass Spuren davon auf meinem Ärmel zurückblieben.

Wegen der kühlen Witterung war das Fenster geschlossen. Die Straßengeräusche drangen nur gedämpft zu mir herauf. Ich fühlte mich sicher an meinem Standort, von dem aus ich das Drama auf dem Bürgersteig draußen beobachtete. Auch jetzt höre ich wieder den schrillen Ton, den ich immer an dieser Stelle der Geschichte vernehme. Es ist ein knirschendes, schabendes, nicht nach Mensch klingendes Geräusch, von dem ich nicht weiß, wo es herkommt. Es verursacht mir Zähneklappern, und da zu diesem Zeitpunkt außer mir niemand wusste, was geschehen war, konnte niemand geschrien haben. Noch nicht.

Mir ist, als müsste ich meinen Standort verlassen und meine Hände waschen. Dabei trifft mich nicht die geringste Schuld. Warum auch? Aber irgendetwas klebt trotzdem an meinen Fingern: der Geruch von gekochtem Kohl, der klebrige Nikotinfilm des Fensters, der Staub des Vorhangs. Rostrote Vorhänge. Die Farbe verblichener, eingetrockneter Blutflecke. Das Blut aber, das ich an jenem Abend sah, hatte sich als schwarze Lache auf dem Bürgersteig ausgebreitet. Nur unter der Straßenlaterne zeigte sich ein dunkelrotes Glühen.