22. KAPITEL

Mitte der Woche war Jane so weit, dass sie jede Sekunde an Chase dachte. Er war ihr ja schon nicht aus dem Kopf gegangen, als sie noch miteinander geschlafen hatten. Aber jetzt grenzte ihr Zustand an Besessenheit.

Sie wollte ihn anrufen. Sie wollte anrufen und ihm erzählen, dass ihre Mutter bei ihr zu Besuch war. Doch dann hätte sie auch erklären müssen, dass sie ihre Mom noch nie eingeladen hatte, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie nur zwanzig Autominuten weit voneinander entfernt wohnten, wohl einen ziemlich erbärmlichen Eindruck gemacht hätte.

Jane goss zwei Gläser Limonade ein und setzte sich neben ihre Mom auf die Couch.

„Und Jessie sieht also gut aus?“

Ihre Mutter nickte. „Ja, sehr sogar. Und seine Anwältin sagt, wenn er sich weiter so gut benimmt, wird er in sechs Monaten wegen guter Führung entlassen.“

„Das wäre schön.“

„Willst du ihn denn gar nicht besuchen? Donnerstags ist bis zwanzig Uhr Besuchszeit. Dann hast du nach der Arbeit noch eine Stunde Zeit.“

Jane sah ihre Mutter an. Ihr war noch nie aufgefallen, wie tief die Falten um ihre Augen geworden waren. „Ich glaube eher nicht, Mom. Aber ich habe ihm vor ein paar Tagen geschrieben.“

„Ja, das hat er mir erzählt. Und danke, dass du die Anwältin bezahlt hast. Sie war wirklich gut. Eines Tages werde ich dir das alles zurückzahlen.“

„Das brauchst du nicht. Ich habe das gern getan.“

„Danke, aber ich möchte es so.“ Ihre Mom nippte an ihrer Limo und sah sich nervös um. „Es ist wirklich hübsch hier, Jane. Wie im Fernsehen.“

„Danke.“

Als sich ihre Mutter mit ihren neonrosa lackierten Fingernägeln unsicher über den Rock strich, zog sich Janes Magen schmerzhaft zusammen. Ihre eigene Mom fühlte sich in ihrem Haus unwohl. Sie wusste nicht, worüber sie mit ihrer Tochter reden sollte. Und Jane ging es nicht anders. Die ganze Situation war einfach schrecklich. Schrecklich und beschämend.

„Oh!“, sagte ihre Mom. „Wusste ich doch, dass ich dir noch etwas erzählen wollte. Erinnerst du dich noch an Mrs Jackson? Die alte Dame von nebenan? Sie ist vorbeigekommen, um mich zu besuchen.“

Jane nickte. Ihr grauste vor dem, was als Nächstes kommen würde.

„Also, sie hat gehört, was du aus dir gemacht hast, und hat sich köstlich darüber amüsiert.“

Jane zog den Kopf ein. Dann machten die Gerüchte jetzt also die Runde.

Greg war zwar wegen Einbruchdiebstahls angeklagt worden, aber die Geschichte hatte es nicht in die Zeitungen geschafft. Wahrscheinlich versuchte das Büro der Staatsanwaltschaft, die Sache geheim zu halten. Allerdings war Greg umgehend gefeuert worden, und Jane hatte zu ihrer Erleichterung erfahren, dass er zu seinen Eltern gereist war.

Doch seine Abwesenheit änderte nicht das Geringste. Denn vor seiner Abreise hatte er seine gesamte Energie darauf verwendet, Janes Geschichte in Umlauf zu bringen. Mitch, der Zahnarzt, hatte schon angerufen, um zu fragen, ob bei ihr alles in Ordnung sei, und heute war Lori im Büro vorbeigekommen, weil Mr Jennings ihr Bruchstücke der Gerüchte erzählt hatte. Zum Glück hatte sie Janes Bedenken aber nur mit einem Augenrollen quittiert und sie zum Lunch geschleppt, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sonderlich angenehm war die Mittagspause trotzdem nicht verlaufen. Jane hatte sich die ganze Zeit über gefragt, ob die anderen Restaurantgäste sie kannten und was sie wohl von ihr hielten.

Jetzt konnte sie sich nirgendwo mehr verstecken.

Ihre Mom lächelte und tätschelte ihr die Hand. Die Ängste ihrer Tochter schienen völlig an ihr vorbeizugehen. „Und erinnerst du dich noch an ihre Tochter Patricia? Sie ist erst einundzwanzig und hat gerade einen Ägypter geheiratet und ist mit ihm in seine Heimat umgezogen. Könntest du dir das vorstellen? Mit einem Mann aus einer so fremden Kultur verheiratet zu sein? Und dann so weit weg …“ Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge.

Jane war erstaunt, dass ihre Mom empört über eine Frau war, die mit einundzwanzig einen Ägypter heiratete. Schließlich war sie gerade mal neunzehn gewesen, als sie ihren ersten Sträfling geheiratet hatte. Nur drei Jahre älter als Jane in jener Nacht, in der sie mit drei Fremden zu einer Party gefahren war.

Ihre Mutter plauderte über Mrs Jacksons ersten Besuch bei ihrer Tochter in Ägypten, doch Janes Gedanken schweiften in die Vergangenheit.

Ihre Mom hatte ein paar wirklich dumme Fehler gemacht. Aber es war auch niemand da gewesen, der sie davon hätte abhalten können. In Anbetracht der Fehler, die Jane in ihrem eigenen Leben gemacht hatte, hätte es ihr eigentlich leichtfallen müssen, ihrer Mom zu verzeihen.

Doch es war alles andere als leicht. Vielleicht, weil sie sich auch ihre eigenen Fehler verzeihen musste, wenn sie ihrer Mom vergeben wollte. Und diese Vorstellung war so ungeheuerlich, dass ihr bei dem bloßen Gedanken ganz flau im Magen wurde.

Vielleicht schaffte sie es ja, wenn sie kleine Schritte machte.

„Mom, ich dachte, wir könnten am Wochenende vielleicht zusammen einen Film angucken. Ich könnte mit einer DVD und einer Familienpizza bei euch vorbeikommen.“

Eine Sekunde lang sah ihre Mutter aus, als hätte Jane gerade vorgeschlagen, die nächste Bank auszurauben. Und dann lächelte sie so breit, dass ihre Backenzähne zu sehen waren. „Das wäre toll, Schätzchen! Vielleicht kann Grandma Olive ja auch dazukommen.“

Jane schnitt eine Grimasse, riss sich aber gleich wieder zusammen. „Ja, sicher. Wie du möchtest.“

„Seit Jessie weg ist, ist sie ein bisschen einsam.“

„Natürlich.“ Einsam wie ein Kampffisch, nachdem er seine Jungen aufgefressen hat. „Wie du möchtest, Mom.“

„Oh, das wird so ein Spaß! Seit ein paar Tagen gibt es den neuen Teil von The Fast … the Furious in der Videothek. Hast du den schon gesehen?“

„Ähm … nein.“

„Okay, ich kümmere mich um die Pizza, und du bringst den Film mit, okay? Oh, ich bin richtig aufgeregt!“

Janes Gewissen wurde angesichts der Begeisterung ihrer Mom noch schlechter. Zum Glück schien ihre Mutter sowieso aufbrechen zu wollen, denn sie sammelte ihre Handtasche und ihr Handy zusammen.

„Ich muss nach Hause und Abendessen für deinen Dad kochen. Denk doch noch mal drüber nach, ob du Jessie nicht vielleicht doch besuchen willst, okay? Und wir sehen uns dann am Wochenende. Oh Jane, ich freue mich so.“

Jane stand auf und wartete verlegen. Als ihre Mutter an ihr vorbeilief, streckte Jane die Arme aus und zog sie in eine kurze Umarmung. „Ich liebe dich, Mom.“

„Oh, Schätzchen, das ist so süß von dir! Ich liebe dich auch.“

„Dann sehen wir uns am Wochenende. Passt dir Samstag?“

„Ach, du kennst uns doch. So alte Ehepaare wie uns stört man höchstens mal am Sonntag.“

Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, zuckte Janes Blick zu ihrem Telefon. Sie war so nervös, dass ihre Hände zitterten. Sie musste unbedingt mit jemandem reden! Ob Chase zu Hause war?

Als ob das eine Rolle gespielt hätte. Sie hatte Schluss gemacht. Er bedeutete ihr nichts mehr.

Aber sie musste einfach irgendjemandem erzählen, dass sie einen Schritt auf ihre Mom zugegangen war. Natürlich konnte sie auch Lori anrufen. Allerdings würde Lori nicht verstehen, wie viel dieser kleine Schritt bedeutete.

Jane seufzte tief, ging zu ihrem Couchtisch und versuchte, das Handy durch intensives Anstarren zum Klingeln zu bewegen. Wie harmlos es mit seinem schwarzen Display wirkte!

Es war vorbei. Chase war kein Mann, mit dem sie zusammen sein wollte. Sie hatte einen klaren Schlussstrich gezogen.

Trotzdem versuchte sie weiter, das Handy zu hypnotisieren.

Er hatte gesagt, dass er nicht mehr benutzt werden wollte. Aber das war Tage her. Mittlerweile hatte er es garantiert dringend nötig.

Vielleicht konnte sie ihn ja für Sex und eine kurze Unterhaltung in ihre Wohnung locken? Natürlich nur ausnahmsweise. Weil sie so unter Stress stand.

Jane klappte das Handy auf.

Sie hatte sich geschworen, ihn nicht anzurufen, aber das ließ sich umgehen.

Nervös tippte sie eine SMS ein.

Willst du vorbeikommen?

Sie drückte auf Senden und zählte bis zehn, und weiter bis zwanzig. Dann legte sie das Handy zurück auf den Couchtisch und ging davon weg. Es funktionierte: Nach wenigen Sekunden piepte das Gerät. Jane raste zurück und las Chases Nachricht.

Abendessen? Ein Spaziergang? Es ist ein wunderschöner Abend.

Sie bedachte das Handy mit einem mürrischen Blick.

Ich dachte, wir treffen uns bei mir.

Diesmal legte sie das Telefon gar nicht erst wieder hin. Sie starrte es einfach nur an und wartete ungeduldig auf die Antwort.

Nein danke. Gute Nacht.

„Du verdammter Scheißkerl“, fluchte sie leise und schmiss das Handy aufs Sofa. „Was für ein Mann sagt denn bitte Nein zu Sex?“

Jetzt blieb ihr nur noch eine Runde Boxtraining, um Dampf abzulassen. Nur dass sie mittlerweile sogar beim Boxen an Chase denken musste. Aber wenigstens konnte sie sich dabei vorstellen, dass sie ihm die Nase blutig schlug.

Der bloße Gedanke weckte Schuldgefühle, die Schuldgefühle erinnerten sie an ihre Mom, und der Gedanke an ihre Mom erinnerte sie an Jessie.

Was ihre Mom betraf, hatte sie den ersten Schritt gewagt. Mit Chase war alles vorbei. Aber was war mit Jessie? Sie warf einen Blick auf die Uhr.

Da ihr Ruf jetzt schon so gut wie ruiniert war, hatte sie sich geschworen, nie wieder einen Fuß in ein Gefängnis zu setzen. Denn wenn irgendjemand sie dort sah, würde der spannenden Geschichte um die wahre Identität der Jane Morgan ein weiteres pikantes Detail hinzugefügt werden. Dann würde sich Mitch erinnern, dass er sie vor der Polizeiwache gesehen hatte. Und alle würden sich fragen, was sie im Gefängnis gewollt hatte. Ob sie vielleicht in die Fußstapfen ihrer Mutter trat.

Sie konnte ihren Bruder einfach nicht besuchen.

Andererseits hatte sie sich auch geschworen, eine bessere Schwester zu werden. Ein besserer Mensch.

Ihre Beziehung zu Chase war definitiv vorbei, aber ihren Bruder konnte sie nicht einfach so wegschieben. Nicht, wenn sie ihm helfen wollte.

Jane schnappte sich ihre Schlüssel und hastete nach draußen, ehe ihre Feigheit sie aufhalten konnte.

Als sie eine halbe Stunde später Jessie gegenübersaß, fiel ein Teil ihrer Anspannung von ihr ab. Er sah tatsächlich gut aus.

„Hey, Schwesterherz“, sagte er in den verbeulten Hörer auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe. „Hätt nich gedacht, dich hier zu sehen.“

„Ich wollte mal hören, wie es dir geht.“

Er zuckte die Achseln. „Ganz okay eigentlich. Na ja, also dafür, dass ich im Knast sitze.“

„Klar.“

„Danke für den Brief.“

„Gern“, erwiderte sie. Plötzlich wusste sie nicht mehr, worüber sie eigentlich mit Jessie sprechen wollte. „Brauchst du irgendetwas?“

„Mom hat mir Kippen mitgebracht. Ein paar Bücher wären toll. Früher hab ich doch immer diese Sci-Fi-Dinger gelesen, weißt du noch?“

Ja, plötzlich konnte sie sich erinnern. Er war dreizehn gewesen und hatte wieder mal gefragt, ob er bei ihr übernachten dürfte. Und wie immer hatte sie Nein gesagt. Da hatte Jessie eins von diesen Büchern gegen die Wand geschleudert, ehe er seine Zimmertür hinter sich zugeknallt hatte.

Jane nickte. „Ich hör mich mal um, was man derzeit so liest.“ „Cool, danke.“

Danach schwiegen sie sich eine Weile an. Sie hatten nicht viel Zeit miteinander, aber Jane wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Es tut mir leid, dass ich dich immer abgewimmelt habe?

„Hey!“, sagte Jessie plötzlich, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ich hab gehört, dass sie endlich jemanden festgenommen haben. Wegen der Morde.“

„Ja, das stimmt“, sagte Jane.

„Mann, ich bin echt derbe erleichtert. Das is super!“ „Ja, das ist es wohl.“

„Findest du nich?“

Jane sah ihn an, sah in diese großen blauen Augen, die er schon als kleiner Junge gehabt hatte. Sie wollte ihn nicht verletzen. Aber sie wollte ihn auch nicht mehr wie ein Kind behandeln. Nicht jetzt, wo er endlich die Chance hatte, zu einem Mann zu werden.

Sie straffte die Schultern. „Der Täter ist Schlosser. Alle drei Frauen haben ihn nach den Handtaschendiebstählen beauftragt, bei ihnen zu Hause die Schlösser auszutauschen.“

Jessie nickte.

„Er hat sich Kopien von den Schlüsseln angefertigt“, sagte Jane.

„Echt fies, Mann.“

Er kapierte es einfach nicht. Jane atmete tief durch und sagte so deutlich sie konnte: „Jessie, wenn du Michelle Browns Handtasche nicht gestohlen hättest, wäre sie wahrscheinlich noch am Leben.“

Jessie entgleisten die Gesichtszüge. „Aber … aber das wollte ich doch nich“, flüsterte er geschockt.

„Ich weiß. Da draußen ist ein Mörder herumgelaufen, und dafür kannst du nichts. Aber deine Handlungen hatten Konsequenzen, Jessie. Es geht doch schon damit los, dass du das Leben eines Menschen zerstören kannst, wenn du ihm das Geld für die Miete klaust oder für den Kindergarten. Und es können auch noch viel schlimmere Dinge passieren. Wie das, was Michelle Brown widerfahren ist. Ich weiß, dass du nichts davon wolltest, aber … Egal, ob du es wolltest oder nicht, es ist passiert, Jessie.“

Er blickte betreten auf die zerkratzte Tischplatte und rieb sich die Augen. Jane fühlte sich, als hätte sie ihm gerade ein Messer in den Rücken gerammt. Aber hier ging es nicht um sie. Es war wichtig, dass er seine Zeit im Gefängnis zum Nachdenken nutzte. Und sie wollte dafür sorgen, dass seine Gedanken die richtige Richtung einschlugen. Sie wollte, dass er sein altes Leben so tief bereute, dass er ein neues anfing. Reue konnte ein mächtiges Werkzeug sein.

„Ich liebe dich“, sagte Jane im selben Moment, als die Glocke sie auf das Ende der Besuchszeit aufmerksam machte.

Jessie sah auf. In seinen Augen glitzerten Tränen. „Das mit Michelle tut mir leid. Und es tut mir leid, dass ich dich und Dad so enttäuscht hab. Und Mom auch. Es tut mir wirklich, wirklich leid.“

Jane nickte. Eine Träne rollte ihre Wange hinab. „Ich komme dich nächste Woche wieder besuchen, okay?“

Ihr Liebesleben war eine Sache. Darauf konnte sie verzichten, wenn es sein musste. Aber ihre Familie … Nein, die wollte sie nicht ein zweites Mal verlieren.