16. KAPITEL

Jane starrte Greg Nunns Wohnungstür an, als wäre sie das Tor zur Hölle. Wenigstens verhinderte das friedliche, warme Licht der Abendsonne, dass sie weitere finstere Fantasien entwickelte.

Sie wollte nicht an diese Tür klopfen. Nein, sie konnte nicht. Aber genauso wenig konnte sie es bleiben lassen.

Sie warf einen Blick zurück zu Chase, der sie geduldig vom am Straßenrand geparkten Truck aus beobachtete. Er ließ das Fenster herunter. „Alles okay?“, rief er.

„Ja“, log sie.

Ihr Bruder war nicht festgenommen worden. Aber der Mord hatte es in die Zeitungen geschafft, inklusive der Information, dass ein Mann aus der Gegend verhört worden war. Außerdem hatte es geheißen, die Polizei könne noch nicht ausschließen, dass ein Zusammenhang mit dem Mord an Michelle Brown bestünde.

Wenn der Name ihres Bruders mit einer Mordserie in Verbindung geriet oder Jessie, Gott bewahre, von der Öffentlichkeit für den Täter gehalten wurde, dann …

Sie musste das hier tun.

Jane ging die letzten paar Schritte auf Gregs Tür zu und klopfte zaghaft.

Zuerst passierte gar nichts. Wenn Greg nicht zu Hause war, hatte sie noch eine Schonfrist. Vielleicht ein paar Stunden, mit etwas Glück sogar einen ganzen Tag. Jane klopfte erneut und wartete weiter. Leider machte Greg einige Sekunden später die Tür auf. Jane rutschte das Herz in die Hose.

„Jane?“ Seine Augen weiteten sich etwas, vermutlich aus freudiger Überraschung. „Was machst du denn hier?“

„Ich muss mit dir reden.“

„Wie schön! Komm doch rein.“

„Nein! Ich … Also, ich kann nicht reinkommen.“

Greg kniff argwöhnisch die Augen zusammen und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen. Er trug eine Strickjacke. Allen Ernstes: eine Kaschmir-Strickjacke. Jane unterdrückte den Impuls, sich nach Chase in seinem verblichenen T-Shirt, das sich über seinen Muskeln spannte, umzusehen. Aber ihre Selbstbeherrschung half nicht: Gregs Blick wanderte trotzdem über ihre Schulter.

„Wer zum Teufel ist das denn?“

„Niemand“, sagte sie automatisch und fühlte sich schon in der nächsten Sekunde schuldig. Mist. Sie holte tief Luft, dann straffte sie die Schultern und zwang sich, ihre geballten Fäuste zu entspannen. „Ich möchte … ähm, also … Ich muss mit dir über Jessie MacKenzie sprechen.“

„Wen?“, schnappte Greg.

„Jessie MacKenzie. Die Polizei hat den Verdacht, dass er etwas mit der Mordserie zu tun hat. Und ich dachte, vielleicht weißt du mehr darüber.“

„Was zum …?“ Er zog seine gezupften Augenbrauen zusammen. „Warum interessierst du dich überhaupt für den Fall?“

Jane wollte schlucken, aber ihre Kehle war zu trocken. Als hätte es nicht schon gereicht, dass sie ihren gekränkten Ex um Hilfe bitten musste. Nein, sie musste ihm dabei auch noch erklären, dass sie ihn die ganze Zeit über belogen hatte. Dass ihr ganzes Leben eine einzige Lüge war.

„Ich weiß, dass Jessie unschuldig ist. Aber die Polizei scheint fest überzeugt zu sein, dass er der Täter ist. Deswegen wollte ich dich um Hilfe bitten. Weil du doch meintest, dass ich dir wirklich wichtig bin, und …“

Seine Lippen zuckten vor Ungeduld. „Ich habe gesagt, dass ich Gefühle für dich hatte. Vergangenheitsform, Jane. Trotzdem würde ich gerne wissen, warum du dich für Jessie MacKenzie interessierst!“

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Chase die Schuld in die Schuhe schieben sollte. Der Typ da im Auto heißt Chase. Ich arbeite mit ihm zusammen. Jessie ist ein Freund von ihm, und er hat mich um Hilfe gebeten. Auf jeden Fall unverfänglicher als die Wahrheit. Aber auch eine Lüge, die in dem Moment auffliegen würde, in dem Greg bei den Cops Fragen stellte. Außerdem waren Lügen das Letzte, was Jessie im Augenblick gebrauchen konnte. Seine Situation war so schon schlimm genug.

Jane wollte Gregs Blick ausweichen, aber sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sich selbst kaum hören konnte. „Jessie ist mein Bruder.“

Schlagartig wurde Gregs Blick hellwach. „Wie bitte?“ „Er ist mein Bruder.“

„Jessie MacKenzie?“

„Genau. Und deswegen wollte ich gerne wissen, ob …“

„Jessie MacKenzie ist dein Bruder?“ Er presste die Lippen so fest zusammen, dass sie an den Rändern weiß wurden. „Das ist ja wohl ein Witz, oder?“

„Nein“, stieß sie hervor.

„Dann warst du gar nicht mit Michelle Brown befreundet? Du hast wegen deines Bruders bei mir angerufen?“

„Stimmt.“ Ihr Puls legte noch einen Zahn zu.

Greg musterte sie abschätzig von Kopf bis Fuß. „Sag mal, willst du mich veräppeln? Dein Dad saß im Knast? Wegen Mordes?“

„Stiefvater“, murmelte Jane. „Und das Urteil wurde aufgehoben. Er war unschuldig.“

„Und darüber wolltest du mit mir sprechen?“, fauchte Greg. „Du hast mich angelogen! Monatelang!“

„Tut mir leid, Greg. Ich habe nie … Ich spreche einfach nie über meine Familie.“

„Aber du hast so getan, als würdest du aus einer guten Familie stammen. Und jetzt entpuppst du dich als … mir fehlen die Worte!“

Fassungslosigkeit und Wut flammten in Janes Brust auf, aber sie durfte nichts davon nach außen dringen lassen. Sie brauchte Gregs Hilfe.

„Und dass du versucht hast, für diesen Mörder Informationen aus mir herauszulocken, ist der beste Beweis dafür, was für ein Stück Dreck du bist.“

„Aber er ist unschuldig!“

„Ich … Gott, ich kann nicht glauben, dass ich solchen Abschaum wie dich fast meinen Eltern vorgestellt hätte!“

Der Schock traf sie wie ein Faustschlag. Sie hätte damit rechnen müssen. Aber es war zehn Jahre her, dass sie zum letzten Mal als Abschaum bezeichnet worden war. Außer von sich selbst, natürlich.

Der Schock wich dem alten Schmerz. Doch Jane drängte das vertraute Gefühl bis in den hintersten Winkel ihres Herzens zurück. „Ich will mit dir über Jessies Fall sprechen. Ich weiß, dass die Polizei ihn verdächtigt. Und ich möchte dich bitten, dir das Beweismaterial etwas genauer anzusehen. Für mich.“

„Für dich?“ Sie hatte Greg immer für einen anständigen Mann gehalten. Etwas aggressiv vielleicht und leicht provozierbar, aber trotzdem anständig. Doch jetzt … jetzt waren seine Züge so verzerrt, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Grausam und hässlich. Auf seinen Wangen prangten rote Flecken, und in seinem Blick flackerte Hass. „Du hast dich von mir getrennt, Jane. Und jetzt stehst du hier vor meiner Tür und bittest um meine Hilfe?“ Der bittere Hohn in seiner Stimme war kein gutes Zeichen. Aber wenn er wollte, dass sie vor ihm herumkroch, dann würde sie eben kriechen.

„Das mit der Trennung tut mir leid, Greg. Aber es hat nun mal nicht funktioniert.“ Sie durchforstete ihr Gehirn nach einer guten Ausrede. „Jetzt weißt du ja selbst, dass wir aus verschiedenen Welten stammen.“

Er legte den Kopf schief. „Na, da könntest du ausnahmsweise mal recht haben. Mein Bruder ist jedenfalls kein Mörder.“

„Meiner auch nicht! Ich schwöre, dass er es nicht getan hat, Greg. Ich weiß es. Die letzte Leiche wurde erst einen Tag nach dem Mord gefunden, oder?“

„Woher weißt du das?“

„Das spielt keine Rolle. Aber es spielt eine Rolle, dass Jessie an diesem Tag mit mir zusammen war. Er kann sie gar nicht umgebracht haben.“

Greg schnaubte belustigt. „Was stellst du dir eigentlich vor? Dass ich meinem Chef erkläre, dass ich Jessie nicht mehr verdächtige, weil du schwörst, dass er unschuldig ist? Du, seine eigene Schwester? Sollte ich vielleicht außerdem noch erwähnen, dass ich früher mit dir geschlafen habe?“

„Aber ich …“

„‚Hey, Chef‘“, parodierte Greg. „‚Meine Exfreundin stammt aus einer Sippe von Kriminellen.‘ Eine echte Beförderungsgarantie, meinst du nicht?“

„Okay“, schnappte Jane. „Es tut mir wirklich leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe, Greg. Aber das hier ist wichtiger als dein gekränkter Stolz. Wir sprechen hier über das Leben eines Menschen.“

„Nein, Jane, wir sprechen über das Leben mehrerer Menschen. Zwei Frauen sind tot, vielleicht sogar drei. Und nach allem, was ich mitbekommen habe, weist einiges darauf hin, dass dein Bruder der Täter ist. Also verschwinde! Und zwar sofort.“

„Er war es nicht, und ich habe Beweise für seine Unschuld. Am Montagabend war er mit mir zusammen. Wir waren bei seiner Anwältin, und dann haben wir noch beim Supermarkt gehalten. Danach haben wir mit seiner Großmutter zu Abend gegessen. Ruf doch mal bei seiner Anwältin an! Du kannst auch die Überwachungsvideos vom Supermarkt durchsehen. Er war die ganze Zeit über bei mir.“

„Und wann habt ihr gegessen? Ich habe da so ein Gefühl, dass Grandma MacKenzie nicht erst um neun Uhr isst.“

Jane knirschte mit den Zähnen. Sie kannte den genauen Todeszeitpunkt nicht. Mr Chases Kontakt bei der Polizei hatte nur verraten, dass das Mädchen etwa vierundzwanzig Stunden vor dem Fund der Leiche ermordet worden war.

Ein scharfer Schmerz breitete sich in ihren Handflächen aus. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wie tief sich ihre Fingernägel in ihre Haut gebohrt hatten. „Kannst du dir die Sache nicht wenigstens etwas genauer ansehen? Bitte! Betrachte das Beweismaterial aus einem neuen Blickwinkel. Stell dir nur eine einzige Minute lang vor, dass Jessie nicht der Täter ist!“

„Wir behandeln jeden Fall mit derselben Objektivität, Jane. Niemand hat es auf deinen Bruder abgesehen. Wenn er es nicht war, dann wird er auch nicht verurteilt.“

„Oh, bitte. Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“

„Jane“, fuhr er ihr scharf ins Wort, dann hielt er inne und atmete tief durch. „Ich bin mir sicher, dass seine Anwältin beste Arbeit leistet. Ich für meinen Teil kann keine Ausnahme für dich machen. Selbst wenn ich wollte. Und ich will nicht.“

Jane sah ihm einen Moment lang eindringlich in die Augen, suchte nach einem Funken von Einsicht in seinem Blick. Bitte hilf mir, flehte sie schweigend. Aber Greg musterte sie nur streng und abweisend.

„Und wer ist der Typ dahinten?“ Er wies mit dem Kinn auf den Truck. „Kehrst du zu deinen Wurzeln zurück, oder was?“

Jane straffte die Schultern und wandte sich wortlos um.

Sie hätte mit der Trennung warten sollen. Warum nur hatte sie es so eilig gehabt? Wenn sie nur eine Woche länger durchgehalten hätte …

Aber bei dem bloßen Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Mit seinem Verhalten hatte Greg gerade alles bestätigt, was sie instinktiv schon vor der Trennung gespürt hatte. Er mochte sie, solange sie mit ihm schlief. Jetzt war sie für ihn nur noch Abschaum. Nichts weiter als Abschaum.

Sie stieg in den Truck.

„Jane? Alles okay?“

„Ja.“

Chase fuhr los, aber Jane konnte spüren, dass seine Aufmerksamkeit noch immer auf ihr ruhte. „Scheint nicht sonderlich gut gelaufen zu sein.“

„Er weigert sich. Aber vielleicht sieht er die Akte ja doch noch durch, wenn er im Büro ist.“

„M-hm.“

Sie hatte zwar behauptet, dass alles okay war – aber stimmte das überhaupt? Jane schloss die Augen und spürte ihren Gefühlen nach. Sie hatte Greg gegenüber gerade einen Teil ihrer Vergangenheit enthüllt, und sie fühlte sich … okay. Denn es war der Teil ihrer Vergangenheit gewesen, den sie ihm auf Dauer sowieso nicht hätte verschweigen können, wenn sie länger zusammengeblieben wären.

Ja, vielleicht tratschte er es herum. Vielleicht erzählte er jetzt allen, wo sie herkam. Aber ihre Familie war bei Weitem nicht der dunkelste Teil ihrer Vergangenheit.

Ja, sie fühlte sich tatsächlich okay.

„Und das ist also die Art Mann, mit der du gewöhnlich zusammen bist?“, fragte Chase.

„Ja.“

„Ärzte, Anwälte und so?“

„Ja.“

„M-hm“, machte er wieder. Jane fragte sich, was sein ausdrucksloses Brummen wohl zu bedeuten hatte.

Am liebsten wäre sie ohne Chase zu Greg gefahren. Aber er hatte beschlossen, dass Aspen derzeit ein gefährliches Pflaster für Frauen war. Und er schien auch beschlossen zu haben, dass Jane die eine Frau war, für deren Sicherheit alleine er zuständig war. Wahrscheinlich hätte sie ihn trotzdem davon überzeugen können, sie in Frieden zu lassen. Er konnte sie nicht kontrollieren. Sie hätte ihn einfach rauswerfen können.

Aber in Wahrheit freute sie sich, eine Ausrede dafür zu haben, noch ein paar wunderbare, unvernünftige Tage mehr mit ihm verbringen zu können. Und deswegen hatte sie sich nicht gewehrt, als er darauf beharrt hatte, sie zu Greg zu fahren.

„Und was ist mit Typen wie mir?“, fragte er und riss sie damit aus ihren Gedanken.

„Wie meinst du das?“

„Am Anfang hast du gesagt, dass du so etwas noch nie getan hast. Ich nehme mal an, damit meintest du, einen Typen wie mich an dich ranzulassen.“

„Nein!“

Chase nickte. Seine Hand hing so lässig und entspannt über dem Lenkrad, als würden sie übers Wetter plaudern. „Der Typ sah nicht gerade so aus, als ob er mit jemandem wie dir umgehen kann.“

„Was?“ Jane hörte ihre Stimme durch die Fahrerkabine schrillen und begriff, dass sie gerade gekreischt hatte. „Was meinst du mit ‚jemandem wie mir‘?“

Als Chase sich ihr zuwandte, war sein Gesicht wutverzerrt. „Jedenfalls nicht, dass du Abschaum bist.“

Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Mit einem Mal war ihr eiskalt. „Das hast du gehört?“

„Ja. Und ich war verdammt nah dran, aus dem Wagen zu springen und diesem Arschloch meine Faust ins Gesicht zu rammen. Aber dann fiel mir ein, dass das ziemlich schlecht für deinen Bruder sein könnte.“

„Stimmt“, flüsterte sie zutiefst beschämt. Sie hatte sich von Greg beleidigen lassen. Sie hatte einfach dagestanden und ihn weiterreden lassen. Und Chase hatte alles mitangehört. Aus irgendeinem Grund war das viel schlimmer, als zu wissen, was Greg von ihr hielt.

Chase fluchte unterdrückt und umklammerte das Lenkrad. „Als ich gesagt habe, dass er mit jemandem wie dir nicht umgehen kann, habe ich gemeint, dass er ein Vollidiot ist. Und ein Schlappschwanz. Und ein Weichei.“

Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber ihr Mund wurde noch ein bisschen trockener.

„Ich meinte, dass er nicht gut genug für dich ist.“

Oh Gott. Warum musste ausgerechnet Chase der Einzige sein, der immer im richtigen Moment die richtigen Dinge sagte? Warum musste ausgerechnet Chase der Mann sein, zu dem sie sich so hingezogen fühlte, dass es wehtat? „Ich habe mich von Greg getrennt, weil ich nicht in ihn verliebt war. Um ehrlich zu sein, habe ich ihn wahrscheinlich nicht mal richtig gemocht.“

„Freut mich, das zu hören. Ansonsten hätte ich nämlich ziemlich an deiner Menschenkenntnis gezweifelt, Jane.“

„Und mit Recht. Aber früher war er nicht so schlimm. Vielleicht kommt er ja wieder zur Besinnung und gibt Jessie eine faire Chance.“

Chase zuckte die Achseln. „Wir werden sehen“, sagte er. Aber in seiner Stimme schwang noch immer tiefe Enttäuschung mit.

Jane starrte aus dem Fenster und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in den Augen brannten.