Sie hatten sich mit dem Staatsanwalt auf einen Deal einigen können: In zwei Tagen würde sich Jessie in zehn Fällen des geringfügigen Diebstahls schuldig bekennen und dafür neun Monate im Bezirksgefängnis absitzen. Nur neun Monate, und die harte Realität des Staatsgefängnisses würde ihm erspart bleiben.
In Janes Familie war das ein Grund zum Feiern.
„Im Ernst“, schimpfte Jane auf ihre Mutter ein. „Eine Party? Das ist doch wirklich lächerlich.“ Ihre Schultern schmerzten vor Anspannung. Noch zwei Tage, bis der Deal in Sack und Tüten war. Zwei Tage, in denen Greg alles zunichtemachen konnte. Morgen Abend würde er sie vor dem Büro abfangen und ein Date und Karnickelsex einfordern, und sie würde ihn abblitzen lassen. Was für Konsequenzen das wohl für Jessie haben würde?
Jane beschloss, ihre Mutter noch ein bisschen zu bearbeiten. „Er geht ins Gefängnis, Mom. Das ist kein Grund zum Feiern.“
„Du weißt ganz genau, dass es viel schlimmer hätte kommen können. Wir feiern, und jetzt will ich kein Wort mehr davon hören.“
Jane warf ihrem Stiefvater, der gerade akribisch Kohlen auf den Grill häufte, einen Blick zu. Mac sah alles andere als glücklich aus, aber die Linien um seinen Mund waren nicht mehr ganz so tief wie noch vor ein paar Tagen. Er war erleichtert. So sehr, dass er Jessie sogar erlaubt hatte, sein Grundstück zu betreten. Aber nur für diesen besonderen Anlass. Wenn Jessie aus dem Gefängnis entlassen wurde, würde er sich ein neues Zuhause suchen müssen. Mac würde ihn niemals wieder in seinem Haus wohnen lassen.
Aber für heute Abend hatten die Männer ihrer Familie ein Friedensabkommen geschlossen. Und Jane fühlte sich wie die Verräterin in den eigenen Reihen. War es wirklich richtig, dass sie ihre nicht existente Tugend über Jessies Zukunft stellte? Sie hatte jahrelang mit Männern geschlafen, die sie kaum kannte. Also warum sträubte sich alles in ihr dagegen, mit Greg ins Bett zu gehen?
Ihr Magen brannte. Sie wollte weg von hier. Zumindest waren nicht sonderlich viele Gäste da. Wen lud man schon ein zu einer „Hurra, unser Sohn muss nur ins Bezirksgefängnis“-Party?
Natürlich war Grandma Olive da, und auch Arlo war gekommen. Und dieses Mädchen namens Eve, mit dem Jessie offenbar zusammen war. Jessies sogenannte Freunde waren nicht eingeladen.
Das hier war alles, was Jane an Familie hatte. Wie sollte sie es übers Herz bringen, sie im Stich zu lassen? Entweder, sie schlief wieder mit Greg – nur so lange, bis der Deal abgewickelt war -, oder … Nachdenklich betrachtete sie die leuchtend grünen Spitzen der ersten Grashalme, die sich durch die Decke aus toten braunen Blättern bohrten. Vielleicht war Greg ja nicht ganz so schlau, wie er dachte. Vielleicht konnte sie den Spieß umdrehen.
Zum ersten Mal an diesem Tag empfand sie etwas anderes als Angst. Sie konnte nicht verhindern, dass Greg ihren Ruf zerstörte. Aber sie konnte verhindern, dass er ihrer Familie schadete.
Sie hob das Kinn und marschierte zu Mac. Die Kohlen waren mittlerweile so heiß, dass die Luft um ihn herum flimmerte. „Alles okay bei dir?“
„Jepp. Aber demnächst muss mal ein neuer Grill her.“ Was er schon seit acht Jahren versprach.
„Bist du nicht wütend auf Mom?“
Er zuckte die Achseln. „Sie meint es doch nur gut.“ „Trotzdem könntest du wütend auf sie sein.“
Er bedachte sie mit einem prüfenden Blick. „Sie tut ihr Bestes. Sie ist eine gute Frau.“
Jane fühlte sich unangenehm an ein Gespräch erinnert, das sie vor vielen Jahren mit Mac geführt hatte. Sie ist eine gute Frau. Vielleicht war sie nicht die perfekte Mutter, aber sie hat ihr Bestes gegeben.
Am anderen Ende des Gartens zog ihre Mutter gerade Jessie in eine feste Umarmung. Als Jane klein gewesen war, hatte ihre Mom auch sie so festgehalten. Dann hatte Jane Wut, Verbitterung und Zorn für sich entdeckt und das meiste davon an ihrer Mutter ausgelassen. Und nachdem die Wut und die Verbitterung und der Zorn verpufft waren, hatte sie sich so schuldig gefühlt, dass sie nicht gewusst hatte, wie sie auf ihre Mom zugehen sollte. Irgendwie war es Jane niemals gelungen, die Kluft zu überbrücken, die sie seit ihrer Jugend von ihrer Mutter trennte. „Ich weiß, dass sie eine gute Frau ist“, murmelte sie. „Das hier ist einfach schwierig für mich.“
„Ich weiß.“
Sie hatte nie ganz durchschaut, wie Mac es schaffte, sie mit so wenigen Worten zu trösten. Er war ein einfacher Mann, und trotzdem verstand er sogar Janes komplizierteste Gefühle.
„Willst du ein Bier?“, fragte er. Wieder mal so ein Fall, in dem er ganz genau wusste, was sie gerade brauchte.
„Oh ja“, seufzte sie.
Er reichte ihr eine Flasche aus der Kühlbox. Mac, der ewige Retter.
„Danke“, murmelte Jane.
Als sie einen großen Schluck kaltes Bier nahm, hörte sie über die Eagles-Platte hinweg, die durch das offene Küchenfenster schallte, eine Autotür zuknallen. Als die beiden frisch eingetroffenen Gäste um die Hausecke bogen, war Jane froh, eine Bierflasche zum Festhalten zu haben.
„Was macht der denn hier?“, keuchte sie.
Ihre Mom rief ein fröhlich: „Oh, die Chases sind hier! Ich bin ja so froh, dass Sie kommen konnten. Tausend Dank für alles, was Sie für Jessie getan haben.“
Chase drehte eine Runde, schüttelte Hände, stellte seinen Dad vor.
Er schien sich zwischen den ausgeschlachteten Motorrädern, die an der Ladenwand lehnten, wie zu Hause zu fühlen. Selbst als er den Furcht einflößenden Mac begrüßte, wirkte er dabei vollkommen entspannt.
Während sich sein Vater ein Bier holte und sich zu Mac an den Grill gesellte, schlenderte Chase zu Jane hinüber. „Hallo, Miss Jane.“
„Hat meine Mom dich eingeladen?“ „Jepp.“
„Tut mir leid. Diese ganze Party ist irgendwie … unangemessen.“
Chase schien etwas sagen zu wollen, aber dann warf er einen Blick in Jessies Richtung und schien es sich anders zu überlegen. „Deine Mom ist eben erleichtert, und das sollte sie auch sein. Dein Bruder hat die Möglichkeit, sein Leben in den Griff zu bekommen.“
Jane schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, Chase. Er ist jetzt ein verurteilter Dieb. Und ich habe Angst, dass er … Weißt du, mein Dad ist unschuldig verurteilt worden. Offiziell wurde das zwar nie anerkannt, aber die Beweise sind eindeutig. Er war unschuldig. Jessie ist es nicht. Er ist ein Krimineller. Ein Dieb. Bist du schon mal einem Dieb begegnet, der etwas aus sich gemacht hat? Ich nicht.“
„Ich …“ Chase neigte den Kopf und sah Jane aus schmalen Augen an. „Ich bin mir sicher, dass …“
Jane winkte ab. „Egal. Es hätte viel schlimmer kommen können. Danke, dass du deinen Vater um Hilfe gebeten hast.“
Er holte tief Luft. „Dad hat euch gerne geholfen. Und es hat ihm gutgetan.“
Sie beobachteten, wie Peter Chase sein zweites Bier öffnete. Mit dem ersten hatte er kurzen Prozess gemacht. Jane schluckte. „Vielleicht kann er ja öfter für Ms Holloway arbeiten.“
„Vielleicht“, murmelte Chase, doch dann schüttelte er den Kopf. „Er hat keinen Führerschein, und den bräuchte er für diese Art von Job. Außerdem würde ihm schnell langweilig werden, und dann … Um ehrlich zu sein, habe ich aufgehört, über solche Dinge nachzudenken, als mir klar geworden ist, dass ich ihm nicht helfen kann.“
„Wie hast du das geschafft? Ich meine, deinen Frieden damit zu machen, dass er trinkt?“
„Von Frieden kann leider keine Rede sein. Aber ich … Also, vor ein paar Jahren hatte ich eine ziemlich lange Beziehung. Meine Freundin wollte nach Utah umziehen, und ich habe sie einfach gehen lassen, weil ich Angst hatte, meinen Vater alleinzulassen. Ich habe mich um ihn gekümmert, seit ich neun war, und ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht zu gehen.“
Jane nickte. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Es fühlte sich seltsam an, sich Chase an der Seite einer anderen Frau vorzustellen. Mit der er Händchen hielt und sich Filme und Explosionen anguckte. Nein, es fühlte sich nicht einfach nur seltsam an. Es fühlte sich grauenhaft an.
„Um ehrlich zu sein, war ich im letzten Jahr ziemlich am Ende. Ich habe mir solche Sorgen um meinen Vater gemacht, dass ich kaum noch schlafen konnte. Wenn ich ihn nicht besucht habe, habe ich mich schuldig gefühlt. Aber wenn ich ihn besucht habe, wollte er, dass ich ihm Bier besorge. Und dann hatte ich Magenschmerzen, weil ich seine Sucht letzten Endes unterstützt habe. Also bin ich zu ein paar Treffen von den Anonymen Alkoholikern gegangen. Dadurch ist mir einiges klar geworden. Wenn ich Dad jetzt besuche, bringe ich ihm kein Bier mehr mit. Gut fühlt sich das zwar auch nicht an, aber immerhin ist es besser als vorher.“
„Aber wie … Bist du denn gar nicht wütend auf ihn?“
„Doch, natürlich. Manchmal fällt mich die Wut von hinten an, und dann will ich ihn einfach nur schütteln und anbrüllen. Ich hatte mal einen richtigen Dad, weißt du?“
Jane trank einen Schluck Bier, nur um nicht loszuheulen.
„Aber jetzt habe ich eben diesen Dad. Und entweder, ich akzeptiere das, oder ich kämpfe so lange dagegen an, bis ich selbst genauso am Ende bin wie er.“
Wieder nickte sie.
„Und bist du wütend auf deine Mom?“, fragte er.
„Oh, ja.“
„Aber du scheinst deine Wut gut verarbeitet zu haben.“
Jane starrte ihn an, als wäre er wahnsinnig geworden. Sah er denn die offensichtliche Wahrheit nicht? „Chase, ich bin so wütend, dass ich manchmal laut schreien könnte! Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht vorstelle, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich meine Kindheit nicht in der Nachbarschaft wechselnder Hochsicherheitstrakts verbrachte hätte. Wie es gewesen wäre, einfach normal zu sein. Kein Mädchen, das einmal im Monat seine besten Sachen anziehen muss, um Furcht einflößende fremde Männer an Furcht einflößenden fremden Orten zu besuchen. Wie es wäre, einen echten Mann zum Vater zu haben und keinen Brieffreund. Ich stelle mir vor, was für Entscheidungen ich getroffen hätte und …“ Sie schluckte hart. „Ich war so lange wütend auf sie. Irgendwann muss ich loslassen. Ich dachte immer, wenn ich eines Tages alles habe, was ich will, dann wird es vielleicht einfacher, ihr zu verzeihen und ein gutes Verhältnis zu ihr aufzubauen.“
„Und geht dein Plan auf?“
„Bisher ist er nach hinten losgegangen. Seit ich Jane Morgan bin, habe ich meine Mom immer weiter von mir weggeschoben.“
Er strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Die zarte Berührung fühlte sich an wie ein kurzes Sonnenbad nach einem langen Winter. „Ist es vielleicht das, was du eigentlich willst? Sie loswerden?“, fragte er.
„Keine Ahnung.“ Sie wusste es wirklich nicht. Im Augenblick wusste sie einfach gar nichts mehr.
„Du hattest übrigens recht“, sagte Chase. „Du bist wirklich so richtig kaputt.“
Jane musste lachen. Wie machte Chase das nur immer wieder? Jedes Mal, wenn sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen, brachte er sie zum Lachen.
„Hallo, Jungchen“, knarzte eine Stimme quer über den Rasen. Grandma Olive winkte Chase vom anderen Ende des Gartens aus zu.
Er hob die Hand zum Gruß. „Hey, Grandma Olive.“ „Hol mir ein Bier und komm zu mir.“
„Oh, Scheiße“, flüsterte Chase. „Wünsch mir Glück!“
Grinsend beobachtete Jane, wie Chase sich ein Bier schnappte und zu ihrer Großmutter spurtete.
„Und wo ist mein Bier?“, schimpfte die alte Frau, als Chase auf halber Strecke war.
„Hier“, erwiderte er und hielt die Flasche hoch. „Und wo ist dann dein Bier?“
Jane schlenderte möglichst unauffällig hinter Chase her und lauschte, wie er antwortete: „Ich trinke keinen Alkohol.“
Grandma Olive beäugte ihn argwöhnisch. „Was für ein Mann trinkt denn bitte kein Bier?“
Chase zuckte die Achseln.
„Prügelst du dich, wenn du säufst, oder verträgst du nichts?“ „Weder noch, Ma’am. Ich trinke einfach nur keinen Alkohol.“ „Bist ein Weichei, was, Junge?“, polterte Olive. „Ähm, nein, ich denke eigentlich nicht.“
„Hmpf.“ Sie riss ihm das Bier aus der Hand und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Tja, schätze, in Anbetracht der Größe deiner Hände kann ich dir diesen kleinen Fehler durchgehen lassen.“
Jane warf sich zwischen die beiden, ehe Olive ihre Theorie über die Beziehung zwischen Männerhänden und der Größe ihres „besten Stücks“ darlegen konnte. „Es ist nichts dran auszusetzen, dass er nicht trinkt, Grandma Olive.“
„Ein bisschen Schnaps verdünnt das Blut“, erwiderte Olive so pikiert, als wäre dünnes Blut der Inbegriff von Gesundheit.
„Kein Wunder, dass du fast verblutet wärst, als du dir neulich in die Hand geschnitten hast“, murmelte Jane.
„Ich war keinen einzigen Tag meines Lebens krank.“
Jane verdrehte die Augen. „Letztes Jahr hast du mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen.“
„Hmpf“, wiederholte Olive angewidert. „Das war eine Asbestvergiftung. Von dem ganzen Staub, den ich eingeatmet habe, als sie den Supermarkt renoviert haben.“
Darauf wusste Jane nichts mehr zu erwidern. Aber wenigstens unterhielten sie sich nicht über Chases „bestes Stück“.
„Sag mal, Jungchen, hast du diesen Film über diesen riesigen Roboter gesehen?“, fragte Grandma Olive. Danach vertieften sich die beiden in eine zehnminütige Unterhaltung über Science-Fiction-Filme, die damit endete, dass Olive sich an Chases Arm festhalten musste, weil sie so sehr lachte, dass ihr fast das Gebiss aus dem Mund fiel.
Jane schlenderte wieder zu ihrem Stiefvater zurück und beobachtete mit heftig klopfendem Herzen von Weitem die Szene. Mac legte ihr einen Arm um die Schultern. „Wenn Grandma Olive ihn mag, solltest du wenigstens drüber nachdenken, ihn dir warmzuhalten.“
„Ich dachte gerade das Gegenteil.“ „Guter Punkt.“
Dunkle Schatten sammelten sich unter den Bäumen, und die untergehende Sonne tauchte den Frühlingsabend in warmes Dämmerlicht. Jane ließ den Kopf gegen Macs Arm sinken.
„Chase ist ein guter Typ“, sagte Mac. „Ich mag ihn.“
„Ich auch. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er der Richtige für mich ist.“
„Dacht ich mir schon, dass du so was sagst.“ Er drückte sie an sich.
Jane seufzte. Mac war einfach gut darin, ohne viele Worte Trost zu spenden.
„Manchmal muss man aufhören zu denken und auf sein Bauchgefühl hören.“
Sie schloss die Augen und schmiegte die Wange an Macs warme Brust. Sein Ratschlag war gut. Nur dass ihr Bauchgefühl ihr seit einer Ewigkeit dazu riet, so weit und schnell wie möglich vor ihrer Vergangenheit wegzulaufen.
Und jetzt hatte sie keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.