Dein Dad war wirklich lieb.“ Chase nickte. Ja, sein Vater war ein ziemlich netter Typ. Immer schon gewesen. „Danke. Er scheint den Fall interessant zu finden.“
„Aber er ist nicht von Jessies Unschuld überzeugt.“
„Na ja, im Herzen ist er eben immer noch ein Cop. Er zieht alle Möglichkeiten in Betracht.“
„Gut. Das ist gut.“
Sie sah aus dem Autofenster auf den kleinen Bach, der neben der Straße entlangplätscherte. Sie wirkte wieder genauso distanziert wie die Eisblock-Jane aus Quinns Büro.
Chase nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Hast du Lust, einen Happen essen zu gehen?“
Er wagte einen weiteren Seitenblick. Sie sah noch immer aus dem Fenster und hüllte sich in Schweigen. Er umfasste das Lenkrad etwas fester und konzentrierte sich wieder auf den Highway. Alles klar, dann würde es also bei bedeutungslosem Sex bleiben. Kein Grund, sich zu ärgern.
„Chase …“, setzte sie an, doch dann bimmelte ihr Handy. „Mist.“ Sie klappte es auf und las die SMS. „Oh nein!“
„Was? Was ist los?“
„Grandma Olive. Mac schreibt, dass sie im Krankenhaus liegt. Ich muss da sofort hin!“
„Was ist denn passiert?“
Sie schüttelte den Kopf. „Offenbar darf er sein Handy in der Notaufnahme nicht benutzen. Aber er schreibt, dass sie okay ist. Keine Ahnung, was los ist. Chase, würdest du mich hinfahren? Sie liegt im County Hospital in Carbondale.“
Chase bremste ab und legte einen U-Turn in Richtung Carbondale ein. Zehn Minuten später eilte er im Laufschritt hinter Jane her durch die Notaufnahme.
Das Krankenhaus war nicht sonderlich groß, und Mac mit seinem Bandana-Tuch und seiner schwarzen Lederjacke war schwer zu übersehen.
„Dad“, keuchte Jane, während sie auf ihren Stiefvater zulief. „Was ist passiert?“
„Wer ist da?“, rief eine kratzige Stimme hinter dem Vorhang. „Dynasty, bist du das?“
Jane schob den blauen Stoff zur Seite.
„Sie hat sich nur in den Finger geschnitten. Es geht ihr gut“, versicherte Mac und warf Chase einen aufschlussreichen Blick zu. „Verrücktes altes Huhn.“
Chase beobachtete durch den Spalt im Vorhang, wie Jane sich einer alten Frau näherte, deren lange silberfarbene Haare zu einem strengen Dutt hochgesteckt waren. Seltsam. Ihre Großmutter hatte sie Dynasty genannt. Wahrscheinlich war sie senil und verwechselte ihre Enkelkinder miteinander. Aber während sie mit Jane sprach, wirkte ihr Blick wach und klar. Nein, senil war diese alte Lady ganz sicher nicht!
Chase musterte Jane, versuchte, so zu tun, als hätte er sie noch nie gesehen. Ein seltsames Gefühl kroch seine Wirbelsäule hoch. Sie trug wieder ihre teuren, konservativen Klamotten und elegante High Heels. Ihr dichtes Haar war zu einem französischen Zopf geflochten, und die Brille verbarg ihre großen braunen Augen. Und trotzdem …
„Kann es sein“, sagte er zu Mac, der seinem Blick gefolgt war, „dass sie sich ziemlich verändert hat?“ Nein, es kann nicht sein, polterte sein Gehirn drauflos. Das kann einfach nicht sein!
„Kann man so sagen“, erwiderte Mac, was Chases wahnwitzigen Verdacht allerdings weder bestätigte noch widerlegte.
Sie kann es nicht sein.
Er suchte Macs Blick und wagte den Sprung nach vorn. „Sie hat ja sogar ihren Namen geändert.“
Mac hob einen Mundwinkel. Chase wartete nur darauf, dass Janes Stiefvater in schallendes Gelächter ausbrechen und ihn fragen würde, was für einen Müll er da redete. Stattdessen nickte Mac fast unmerklich.
Lieber Himmel. Chase spähte wieder in Janes Richtung. Ihre Großmutter schien sie in ein Streitgespräch verwickelt zu haben. Jane sprach mit beherrschter Stimme, ihre Großmutter dagegen polterte laut vernehmbar: „Ach, kümmer dich doch um deinen eigenen Quark, junges Fräulein!“
Nein, das war einfach nicht möglich. Kein Mensch konnte sich so sehr verändern! „Warum hat sie das getan?“, hakte er leise nach.
Ein nachdenkliches, grollendes Geräusch drang aus Macs breiter Brust. „Sie wollte eben nicht mehr Dynasty Alexis sein. Da kann man ihr keinen Vorwurf draus machen.“
Dynasty.
Dynasty Alexis MacKenzie. Heilige Scheiße. Dynasty. Seine Hände wurden taub, und sein Herzschlag geriet ins Stolpern.
„Und der Name war noch die unbedeutendste Veränderung.“
Er hoffte, dass ihm der Schock nicht allzu deutlich anzusehen war. „Klar. Sicher.“
„Sie ist wirklich ein tolles Mädchen.“ Mac nickte zufrieden. „Wir sind wahnsinnig stolz auf sie. Aber …“ Er hob warnend eine Braue. „Wenn ich du wäre, würde ich sie nicht darauf ansprechen. Sie redet nicht gerne über ihre Vergangenheit.“
Chase nickte stumm. Natürlich wollte sie nicht darüber reden. Schließlich war sie damals … Ihm fiel keine freundliche Umschreibung für das ein, was sie gewesen war.
„Himmel“, flüsterte er. Er konnte sich nur noch undeutlich an sie erinnern: weißblond gefärbte, zu Stacheln hochfrisierte Haare. Dunkel umrahmte Augen. Und genau dieselbe Figur wie jetzt, nur dass sie sie permanent zur Schau gestellt hatte.
Jetzt fiel ihm auch wieder ein, wann er ihr zum ersten Mal begegnet war. Auf einer Hausparty, die ziemlich aus dem Ruder gelaufen war. Dynasty war außer Rand und Band gewesen. Sie hatte auf seinem Schoß gesessen, in der einen Hand ein Bier, die andere auf seinem Oberschenkel. Er war siebzehn gewesen, und das Gefühl, wie ihre Hand über sein Bein geglitten war, und dann der Ausblick auf ihr unglaubliches Dekolleté … Es hatte nur ein paar Sekunden gedauert, bis Chase knüppelhart gewesen war. Dynasty hatte gelacht und gefragt, ob er sie mochte. Anstelle einer Antwort hatte er ihr ganz vorsichtig die Hand aufs Knie gelegt. Oh ja, verdammt, klar hatte er sie gemocht! Sehr sogar. Vor allem, als sie angefangen hatte, ihm kleine Küsse auf den Hals zu geben und ihren Po auf seinem Ständer kreisen zu lassen.
Es waren zehn Minuten im Himmel gewesen. Zehn Minuten, in denen er sich darauf freute, was gleich passieren würde, wenn er sie in eins der Schlafzimmer im ersten Stock mitnahm. Und genau darüber hatten sie auch gerade gesprochen, als Terrell James sich zu ihm vorgebeugt und ihm die schlechten Neuigkeiten zugeflüstert hatte: „Das ist Big Macs Tochter, Mann. Und sie ist dreizehn.“
Auch heute noch drehte sich ihm bei dem bloßen Gedanken der Magen um. Dreizehn. Dreizehn! Seine Jugend war alles andere als problemfrei verlaufen, aber so weit wäre selbst er nicht gegangen.
In heller Panik hatte er sie vorsichtig von seinen Knien schieben wollen, aber aus lauter Aufregung hatte er sie förmlich von sich gestoßen.
„Hey!“, hatte sie gequietscht und ihre roten Lippen zu einem Schmollmund verzogen.
„T…tut mir leid“, hatte Chase gestammelt. „Ähm, meine Freundin ist gerade gekommen.“ Er war sich vorgekommen wie das letzte Arschloch, aber Dynasty hatte nur die Achseln gezuckt – und weg war sie. Fünf Minuten später hatte sie den nächsten Schoß gefunden, auf dem sie sitzen konnte. Und als sich Chase ein paar Minuten später nach ihr umgesehen hatte, war sie verschwunden gewesen. Genauso wie der Typ, auf dem sie gesessen hatte.
Und jetzt war sie … Jane? Unglaublich.
„Und wer ist das?“, riss ihn eine krächzende Stimme aus seinen Erinnerungen. Er blickte hoch und sah sich mit Grandma Olives anklagend auf ihn gerichtetem Zeigefinger konfrontiert.
„Das ist ein Freund von mir“, sagte Jane.
„Ein Freund? Da schau mal einer an! Ist ja ein richtiger Kerl!“ Jane verdrehte die Augen.
„Sieht nicht so aus, als ob er in naher Zukunft eine von diesen kleinen blauen Pillen nötig haben wird. Wenn du verstehst, was ich meine, Kind.“
„Grundgütiger“, seufzte Jane über Chases schockiertes Lachen hinweg.
Die Augen der alten Frau blitzten auf, als sie mit ihrer bandagierten Hand in seine Richtung wedelte. „Er erinnert mich an deinen Großvater.“
„Na, dir scheint es ja blendend zu gehen“, schnappte Jane. „Ich rufe Mom an und sage ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Und dann mache ich mich auf die Suche nach deinem Arzt. Hoffentlich verschreibt er dir irgendwas, das dich ein paar Tage lang außer Gefecht setzt.“
„Sei nicht so aufsässig.“
„Ach, ich bin also die Aufsässige hier“, murmelte Jane düster, während sie ihr Handy aus der Tasche zog und auf die Tür am anderen Ende des Flurs zueilte.
„Du da“, sagte Grandma Olive zu Chase und bedeutete ihm, zu ihr ans Bett zu kommen.
„Ja, Ma’am?“
Je näher er kam, desto strenger wurde ihr Blick. „Ordentlich groß bist du ja, aber irgendwie siehst du ein bisschen dämlich aus.“
„Äh …“ Was zum Teufel sollte er darauf antworten? „Da hast du’s.“
Chase blinzelte verwirrt und unterdrückte den Drang, laut „Bin ich gar nicht!“ zu brüllen.
„Hast du wenigstens einen Job?“
Sicheres Terrain. Immerhin. „Ja, Ma’am. Ich habe eine eigene Firma.“
„Hmpf.“ Sie beäugte ihn skeptisch. „Was für eine Firma?“ „Bodenaushub, Ma’am.“
Ihre Augen wurden noch schmaler. „Du wirkst verschüchtert, Junge. Du wirst ja wohl keine Angst vor einer alten Frau haben, oder?“
„Doch, ein bisschen schon“, erwiderte er aufrichtig.
„Ha!“, bellte sie. „Du gefällst mir. Wie heißt du?“
Er entspannte sich deutlich. Warum machte es ihn nur so glücklich, dass sie ihn mochte? „Mein Name ist Chase.“
„Ich bin Mrs Olive MacKenzie, Dynastys Großmutter.“ Ihre Sympathie schien ihre spitze Zunge wenigstens etwas stumpfer werden zu lassen. Sie plauderten ein wenig, bis Jane zurückkam und verkündete, dass sie gerne aufbrechen würde.
„Und Grandma Olive?“, sagte Jane. „Lass doch nächstes Mal bitte jemand anderen die Limetten schneiden.“
„Ich habe schon Margaritas gemixt, da war deine Mutter noch nicht mal geboren, junge Dame. Und ich werde ganz sicher nicht damit aufhören.“
Jane schüttelte resigniert den Kopf. „Komm, wir gehen, Chase.“ Sie wandte sich zur Tür um, aber Olive legte eine Hand auf Chases Arm, um ihn aufzuhalten.
Sie winkte ihn näher zu sich, und er beugte sich erwartungsvoll vor. „Schwänger sie bloß nicht, Junge!“
„Oh … Gott. Okay.“
Olive lächelte breit, und er hastete davon.
Jane nahm ihn am Arm und zog ihn zur Tür. „Was hat sie gesagt?“
„Dass ich dich nicht schwängern soll.“
„Irgendwann treibt mich diese Frau noch mal in den Wahnsinn.“
Chase musste lachen. „Deine Großmutter ist echt ein schräger Vogel.“
„Sie ist nicht meine Großmutter.“ Als sie nach draußen auf den Parkplatz traten, schlug ihnen ein eiskalter Wind entgegen. Am Horizont türmten sich düstere Wolken.
„Dann ist sie Big Macs Mutter?“
Frustriert hob Jane die Brauen. „Sie war ungefähr neun Monate lang mit Macs Vater verheiratet, dann ist er gestorben. Und sie ist einfach geblieben.“
„Hat sie gar keine eigenen Kinder?“
„Oh doch, einen Sohn. Aber der spricht nicht mehr mit ihr.“
„Warum?“, fragte Chase. Er konnte sich nicht vorstellen, was passieren musste, damit ein Mann seine eigene Mutter so behandelte. Er für seinen Teil hätte alles gegeben, um seine Mom zurückzubekommen.
„Grandma Olive hat ihm gesagt, dass sich seine Frau wie eine blinde Hure anzieht.“
„Autsch.“
„Was er ihr vielleicht sogar verziehen hätte, wenn sie sich für ihre kleine Ansprache nicht ausgerechnet den Tag seiner Hochzeit ausgesucht hätte.“
„Oh Mann.“ Nicht, dass er Olives Worte auch nur im Entferntesten angemessen fand – aber trotzdem musste er herzhaft lachen.
Jane presste die Lippen fest zusammen, aber er konnte sehen, dass auch sie ein Lachen unterdrückte.
„Du musst zugeben, dass sie ziemlich lustig ist.“
„Okay“, murrte sie widerwillig. „Ich geb es zu. Aber die Frau hat mir die Hölle heißgemacht, als ich ein Teenager war.“
Chase schauderte, als er versuchte, sich Grandma Olive und die Dynasty Alexis von früher in einem Raum vorzustellen. Keine sonderlich friedliche Kombination. „Sie mag mich übrigens“, erklärte er stolz.
Jane warf ihm einen Seitenblick zu, während er ihr die Trucktür aufhielt. „Wahrscheinlich hat sie sich endlich an Macs Tattoos gewöhnt. Vor ein paar Jahren hätte sie dir noch befohlen, dir den Quatsch vom Hals zu waschen oder sofort zu verschwinden.“
„Dann war dein Grandpa wohl nicht tätowiert?“
„Nein“, sagte Jane mit humorvoll glitzernden Augen. „Aber wenn du sie auf ihn ansprichst, hört sie nicht mehr auf, von seinem knackigen Hintern zu schwärmen.“
„Ach komm, ich glaub dir kein Wort.“
„Solltest du aber. Sie sagt immer, dass sein Arsch so fest war, dass man Nüsse damit knacken konnte. Und dass man sich prima daran festhalten konnte.“
Chase ließ die Tür zufallen, dann nahm er auf dem Fahrersitz Platz und warf Jane einen finsteren Blick zu. „Na, danke! Jetzt werde ich immer an Grandma Olive denken müssen, wenn sich eine Frau an meinem Hintern festkrallt.“
Endlich lachte Jane befreit auf, und es klang einfach wunderbar: ehrlich, heiser und ziemlich unanständig. Gott, war sie sexy. Trotzdem schaffte Chase es immer noch nicht, Jane und das kaputte junge Mädchen von früher unter einen Hut zu bringen. Wenn er hätte raten müssen, was mit Dynasty passiert war, hätte er auf einen ziemlich holprigen Lebensweg getippt. Abgebrochene Ausbildung. Mehrere Kinder von verschiedenen Vätern. Alkohol und Drogen und eine Reihe nutzloser Typen.
Als er seinen Highschoolabschluss gemacht hatte, war sie gerade mal vierzehn gewesen. Wann hatte sie ihr Leben geändert? Und warum? Er traute sich nicht, nachzufragen. Jane schien nicht zu kapieren, dass er Billy Chase war. Verdammt, wahrscheinlich erinnerte sie sich nicht mal an Billy Chase. Und selbst wenn …
Es war nicht zu übersehen, dass Jane ihre Vergangenheit hinter sich gelassen hatte. Und dass sie nicht sonderlich erfreut reagieren würde, wenn man sie darauf ansprach.
Jetzt, wo er ihr Geheimnis kannte, hätte Chase sie wohl eigentlich besser verstehen sollen. Stattdessen hatte er das Gefühl, dass Jane Morgan immer tiefer im Nebel verschwand. Sie war ihm ein größeres Rätsel als jemals zuvor. Und gleichzeitig war er faszinierter von ihr als jemals zuvor.
Er fragte nicht noch einmal, ob sie mit ihm essen gehen würde, sondern fuhr einfach zurück nach Aspen und hielt vor seinem Lieblingsthailänder. Als Jane nicht protestierte, empfand er eine fast schon traurige Freude. Langsam fragte er sich, ob Jane auf sein Selbstbewusstsein nicht eine noch verheerendere Wirkung hatte als auf seinen Körper.
Ach, verdammt, er hatte keinen Grund, sich zu beschweren. Noch nicht. Jane lief das Wasser im Mund zusammen, als ihr der Duft der asiatischen Gewürze in die Nase stieg, der durch das Restaurant waberte. Sie hatte schon wieder vergessen, etwas zu Mittag zu essen. Und obwohl sie darauf hätte bestehen müssen, dass Chase sie nach Hause fuhr, kam ihr der Gedanke an ein hastig zusammengepanschtes Thunfischsandwich mit fettfreiem Dressing so erbärmlich vor, dass sie sich einfach mitreißen ließ. Sie brauchte Gewürze und Wärme und fettige Kokosmilch. Sie brauchte Curry. Und Chicken Satay. Und vielleicht sogar ein paar frittierte Garnelen. Und vor allem brauchte sie ganz dringend einen Mai Tai.
Sie hatte keine Ahnung, ob Chases Vater ihr wirklich würde helfen können. Trotzdem fühlte sie sich unendlich erleichtert. Es war, als hätte sie einen Teil der Last, die sie mit sich herumtrug, zusammen mit den Akten in Peter Chases Wohnwagen gelassen. Chase hatte sie darauf vorbereitet, dass sie vor morgen nichts von seinem Vater hören würde, weil er sich erst mal betrinken und dann den Rest des Tages über nicht mehr arbeiten würde. Aber irgendwie war auch das befreiend: das Wissen, dass sie heute Abend nichts mehr ausrichten konnte. Dass sie ein paar Stunden lang einfach loslassen und abwarten konnte.
Andererseits zeigte ihr die Entspannung aber auch, wie erschöpft sie wirklich war. Und wie fürchterlich hungrig.
Als die Satay-Spießchen serviert wurden, fiel Jane wie eine Löwin über den Teller her. Ob Chase wohl auffiel, dass sie sich gleich drei Spieße geschnappt hatte und für ihn nur zwei übrig blieben? Wahrscheinlich war er einfach nur zu höflich, um sie darauf hinzuweisen. Insgesamt war er viel höflicher, als ein Typ mit tätowiertem Hals hätte sein sollen.
Die Erdnusssoße flutete ihren Mund mit einer Fülle an Geschmacksnoten. Jane seufzte genussvoll auf und schluckte den Bissen herunter.
„Also“, sagte Chase. „Wie ist Mac dein Stiefvater geworden?“
Plötzlich rebellierte ihr Magen gegen das köstliche Essen. „Indem er meine Mutter geheiratet hat“, erwiderte sie kühl.
„Ja, das hab ich mir schon gedacht. Haben sich deine Eltern scheiden lassen?“
„Genau.“ Sie ertränkte ihren nächsten Happen in Soße und schob ihn sich in den Mund. Bin beschäftigt, Kumpel. Kann jetzt nicht reden.
„Wie alt warst du da?“
Jane nahm einen großen Schluck von ihrem Mai Tai und seufzte vor Erleichterung. „Erst zwei.“ Sie aß eine Garnele, die so scharf war, dass ihr Mund in Flammen zu stehen schien. Was bedeutete, dass Jane noch zwei große Schlucke von ihrem Cocktail nehmen musste.
„Wow, so jung noch!“
„Hast du schon die Garnelen probiert? Superlecker. Das ist echt ein toller Laden hier!“
„Mein Lieblingsrestaurant. Abgesehen von dem Imbiss auf der Main Street. Da, wo sie so dicke Speckscheiben auf die Burger tun. Gott, ich liebe Speck.“
Lächelnd sog sie an ihrem Strohhalm, musste zu ihrem Erstaunen aber feststellen, dass nur noch ein paar letzte Tropfen im Glas waren. Sie hob es hoch und musterte finster die einsamen Eiswürfel auf dem Grund.
„Noch einen?“, fragte Chase.
„Ja bitte“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Sie war fest entschlossen lockerzulassen. Zum ersten Mal seit Tagen war die Anspannung von ihr abgefallen. Nein, das stimmte so nicht ganz. Nach dem Sex im Truck mit Chase war sie auch entspannt gewesen. Ziemlich sogar.
Sie wollte sich noch eine Garnele nehmen, aber auf dem Teller lag nur noch ein Salatblatt. Doch Janes Enttäuschung schwebte einfach auf einer kleinen Rumwolke davon.
„Und hattest du danach noch Kontakt zu deinem Dad?“, fragte Chase, während die Kellnerin die Hauptgänge und Janes zweiten Mai Tai servierte.
„Nein.“ Sie schob sich eine Gabel Reis mit rotem Curry in den Mund und spülte die Schärfe mit ihrem Drink herunter. Himmlisch. Ja, sie war im Thai-Himmel gelandet.
Worüber redeten sie gerade noch mal? Ach ja. Ihre Lachnummer von Vater. „Er saß im Knast.“ Noch eine Gabel Curry, noch ein Schluck Mai Tai.
„Oh, ich verstehe.“
„Nein.“ Schon wieder war ihr Glas leer. Wo zur Hölle war das ganze Zeug nur abgeblieben? Sie stellte das Glas ab und fing an zu lachen. „Chase, das kannst du gar nicht verstehen. Meine Mutter war … Gott, ich weiß nicht mal genau, was sie eigentlich war. Lass es mich so ausdrücken: Meine Kindheit sah so aus, dass wir ihren wechselnden Ehemännern von Gefängnis zu Gefängnis hinterhergezogen sind. Meine Mom hat Lebenslängliche gesammelt.“
Chase schüttelte den Kopf und erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Hand mit der Gabel schwebte auf halben Weg zu seinem Mund in der Luft. „Lebenslängliche?“
„Mom war ein Knastgroupie. Sie hat Typen geheiratet, die im Gefängnis saßen. Einen nach dem anderen. Vier, um genau zu sein. Und alle hat sie kennengelernt, als sie schon einsaßen. Du sitzt hier gerade dem Ergebnis eines sogenannten Intimzellenbesuchs gegenüber.“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh Gott. Habe ich das gerade wirklich gesagt?“
„Ja“, krächzte Chase, dem es vor Schreck fast die Stimme verschlagen hatte.
Sein fassungsloser Gesichtsausdruck brachte Jane zum Kichern. Und dann brach sie fast zusammen vor Lachen. „Oh, Mann“, keuchte sie, „dein Blick ist echt zum Schreien.“
„Deine Mom hat Häftlinge gesammelt?“
„Ja, wie Hundewelpen am Straßenrand.“ Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Ich kann dir versichern, dass mein Leben als Kindergartenkind ziemlich abwechslungsreich war.“
„Jane“, sagte er leise. Die Überraschung in seinem Blick war aufrichtiger Sorge gewichen. „Wie oft bist du damals denn umgezogen?“
Sie zuckte die Achseln. „Sobald meine Mom es leid war, ihren jeweiligen Mann zu besuchen, hat sie angefangen, dem nächsten zu schreiben. Mein Dad war der Erste, deswegen ist er für sie wahrscheinlich etwas Besonderes. Ist es heiß hier drin? Mann, mir ist echt heiß.“
„Das liegt wahrscheinlich an der Mischung aus Curry und Alkohol.“
„Oh, Mist. Wirklich? Wie peinlich! Allerdings nicht halb so peinlich, wie mit den Kindern der Gefängniswärter deines Dads zur Schule zu gehen. Kannst du dir das vorstellen?“
„Nein“, sagte er über ihr prustendes Gelächter hinweg.
Sie atmete tief durch und sagte halbwegs gefasst: „Keine Ahnung, warum ich dir das alles erzählt habe.“
„Könnte daran liegen, dass du deinen ersten Drink einfach so runtergeschüttet hast.“
„Vielleicht“, sagte sie. Dann traf das schlechte Gewissen sie wie ein Faustschlag. „Oh, Chase, es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht. Wegen dem Alkohol.“
Er verdrehte die Augen. „Nicht das schon wieder! Kein Problem. Wenn dir danach ist, schieß dich ruhig hemmungslos ab. Ich verspreche, dass ich nicht gleich die Anonymen Alkoholiker anrufe. Und wo du schon angetrunken bist: Gibt es sonst noch etwas, das du gerne loswerden willst?“
In ihrem Kopf begann eine Alarmglocke zu schrillen. Noch ein Cocktail mehr, und sie würde vermutlich alles erzählen. Nicht nur das, was ihre Mutter getan hatte. Darüber zu reden fiel ihr relativ leicht. Janes Kindheit war schwierig gewesen, aber nichts davon war ihre eigene Schuld. Das mit der Schuld hatte erst angefangen, als sie zwölf wurde und begann, ihre eigenen Fehler zu machen.
„Jane …“
„Nö“, log sie. „Sonst habe ich nichts zu beichten. Alles andere ist nicht weiter erwähnenswert. Langweilig. Kein Grund, mich mit weiteren Drinks zu bestechen.“ Was schade war. Denn einen Augenblick lang hatte sie ernsthaft in Erwägung gezogen, sich heute Abend ins Nirwana zu schießen.
Chase neigte ganz leicht den Kopf und sah ihr in die Augen. Zwischen seinen Brauen erschien eine tiefe Falte. Angst breitete sich in Janes Magen aus. Aber Chase war in Grand Junction aufgewachsen. Es konnte nicht sein, dass er mehr über sie wusste!
Dennoch war sein nachdenklicher Blick beunruhigend. „Was?“, fragte sie.
„Du bist einfach …“ Er blickte auf die Tischplatte. „Du verwirrst mich.“
„Ich bin nicht verwirrend“, beharrte sie. „Ich bin total durchschaubar. Meine Familiengeschichte ist vielleicht kompliziert, aber ich bin nicht wie meine Leute. Ich bin anders.“
„Bist du deswegen mit mir zusammen, Jane?“ „Ich bin nicht mit dir zusammen.“
„Danke, dass du mich daran erinnerst. Also, hast du deswegen eine Affäre mit mir? Statt mit einem ganz normalen Typen? Weil ich dich an deine Familie erinnere?“
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, schneller und immer schneller. Sie wusste, warum Chase ihr gefiel, aber sie konnte es nicht aussprechen. Sie konnte nicht einfach sagen: Das hier ist mein wirkliches Ich. Ich bin eine Frau, die einen großen, starken Mann braucht. Ich bin ein trauriges junges Mädchen, das sich benutzt fühlen muss, um glauben zu können, dass es begehrt wird. Ich bin eine Frau, die glaubt, dass ein Mann kein Mann ist, wenn er keine Narben auf den Händen und Schmutz an den Jeans hat.
Sie konnte es nicht aussprechen, weil sie jetzt eine Frau war, die an Bildung und Manieren glaubte. An Beziehungen, die auf Respekt basierten, nicht auf körperlicher Anziehungskraft. Sie maß den Wert eines Mannes jetzt an seinem Ehrgeiz, seiner Intelligenz und seinem Einfluss. Nicht daran, wie gut er sich prügeln konnte. Und auch nicht an seiner Schulterbreite.
„Vielleicht habe ich eine Midlife-Crisis.“
„Du bist gerade mal neunundzwanzig.“
„Genau. Ich bin neunundzwanzig. Bald werde ich sesshaft. Heiraten, Kinder kriegen. Und da dachte ich, ehe ich dreißig werden sollte ich einen kleinen Abstecher ins Abenteuer machen.“
„Ach ja?“, murmelte er verärgert. „Ja.“
Er ließ das Thema auf sich beruhen, musterte Jane aber weiterhin skeptisch. Und aus irgendeinem Grund war sein Schweigen schlimmer als alles andere. Als die Kellnerin die Rechnung brachte, atmete Jane erleichtert auf. „Bitte lass mich bezahlen!“
„Nein. Bei unserem sogenannten Date im Ryders bin ich so billig davongekommen, dass ich am nächsten Morgen vor Scham kaum in den Spiegel gucken konnte.“
Richtig, sie war ziemlich billig zu haben gewesen: ein Burger, eine Cola, Vögeln im Truck. Gott, es machte so viel Spaß, billig zu sein! Vielleicht würde Chase ihr heute Abend ja wieder das Gefühl geben, billig zu sein. Wie in den guten alten Zeiten. Sie versuchte, ihm einen verführerischen Blick zuzuwerfen, doch leider wurde ein Gähnen daraus.
„Komm, Jane“, sagte Chase und reichte ihr die Hand, während er aufstand. „Du siehst aus, als ob du gleich umkippst.“
„Nein, nein, alles bestens“, beharrte sie, obwohl ihre Knie nachgaben, als sie sich erhob. „Ich bin gleich wieder in Form.“
„Na klar. Wie viele Stunden hast du gestern Nacht geschlafen?“
Sie warf ihm ein nicht ganz jugendfreies Lächeln zu. „Willst du etwa behaupten, dass ich müde aussehe?“
„Du wirkst erschöpft. Du hast dunkle Ringe unter den Augen, du gähnst, und die zwei Mai Tais haben dich fast umgehauen.“
„Gar nicht“, schmollte sie. Doch als er ihr in den Truck half, sank sie auf dem Sitz halb in sich zusammen. Okay, wahrscheinlich war sie wirklich erschöpft. Und angetrunken. Aber sie wollte nicht zu Hause abgesetzt werden. Sie wollte sich nicht die ganze Nacht über alleine in ihrem Bett hin und her wälzen. Und ihr kleiner Schwips war die beste Ausrede überhaupt, um wieder mit Chase zu schlafen.
Als sie ein paar Minuten später aufwachte, weil Chase ihr die Wagentür aufhielt, fand sie die Idee immer noch toll. „Hey“, murmelte sie und streckte sich.
„Deine Schlüssel?“
Sie kramte kurz in ihrer Handtasche, dann reichte sie Chase ihren Schlüsselbund. Gott, war es toll, dass er einfach so die Kontrolle übernahm! Er half ihr vom Sitz und brachte sie bis zu ihrer Wohnungstür, als wäre er hier zu Hause. Obwohl sie schon wieder gähnen musste, freute sie sich auf das, was gleich in ihrem Bett passieren würde. Klar, das mit Chase hatte nur ein One-Night-Stand werden sollen. Aber der Mann stellte Sachen mit ihrem Körper an, als würde er sie aus einem langen Dornröschenschlaf wecken.
Chase hielt ihr die Tür auf. „Ich rufe dich an, sobald sich mein Dad meldet.“
„Was?“ Sie fuhr zu ihm herum, musste sich dabei aber an der Wand abstützen, um nicht umzufallen.
„Geh ins Bett, Jane.“
„Aber es ist gerade mal halb sieben!“
„Genau. Zwölf Stunden Schlaf, und morgen fühlst du dich wie neugeboren. Das wird dir guttun.“
„Aber …“
„Gute Nacht, Jane.“
Als er draußen seinen Wagen anließ, starrte sie immer noch mit offenem Mund auf die Tür. Der Versuch, zu ergründen, was gerade passiert war, entpuppte sich aber als viel zu anstrengend. Also nahm Jane Chases Rat an und ging einfach ins Bett.