Jane Morgan verlor die Kontrolle. Sie verlor die Kontrolle, und zwar auf der Arbeit. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Sie war eine Meisterin in ihrem Metier! Eine uneinnehmbare Festung der Professionalität und Contenance. Jane verkörperte ihren Job. Bei der Arbeit kamen ihre besten Seiten zum Vorschein, und bisher hatte sie diesen Gedanken unendlich tröstlich gefunden.
„Es tut mir leid, Mr Jennings“, wiederholte sie. „Sie muss hier irgendwo sein.“
„Aber das ist doch wirklich halb so schlimm. Wahrscheinlich haben Sie die Unterlagen schon längst an Edward geschickt.“
„Nein!“ Sie bemerkte, dass sie immer lauter wurde. Genau genommen hatte sie ihren Chef gerade angeschrien. Mr Jennings schien das ebenfalls nicht entgangen zu sein, denn er wich fast schon verängstigt einen Schritt zurück. „Ich meine, nein, Sir, das ist unmöglich. Ich gebe niemals Akten, Zeichnungen oder Blaupausen heraus, ohne vorher eine Kopie angefertigt zu haben. Niemals.“
„Okay, aber ich …“
„Oh Gott“, keuchte sie. „Was für ein Tag ist heute?“
„Ähm, ich glaube …“ Er sah zur Decke hoch, als stünde dort oben die Antwort geschrieben. „Donnerstag vielleicht?“
„Donnerstag“, murmelte sie. „Ja, Donnerstag, der fünfzehnte.“ Sie ließ die Finger kurz reglos über der offenen Schublade des Aktenschrankes schweben. Dann ballte sie die Hände zu Fäusten. „Donnerstag, der fünfzehnte. Um halb acht hatten Sie eine Verabredung zum Frühstück mit dem Bauunternehmer, der das Gramercy-Projekt in Auftrag gibt.“ Sie war kurz davor zu hyperventilieren. „Und ich habe Sie nicht … Ich habe Sie nicht daran erinnert. Haben Sie das Meeting verpasst? Bitte sagen Sie, dass Sie das Meeting nicht verpasst haben.“
„Alles gut.“ Mr Jennings hob beruhigend die Hände und bewegte sich in Richtung seiner Bürotür. „Keine große Sache. Er hat angerufen, ich habe mich verabredet, und wir treffen uns morgen zum Mittagessen.“
„Sie essen morgen mit Edward Cohen zu Mittag!“
„Dann verschieben Sie das eben“, sagte er und streckte unauffällig die Hand nach der Klinke aus. „Ed ist das egal. Alles ist gut.“ Und schon war die Tür hinter ihm zugefallen. Janes Herz raste.
Sie löste sich in ihre Bestandteile auf. All die Stückchen, aus denen sie ihr neues Ich so sorgfältig zusammengesetzt hatte, lösten sich von ihr ab wie eine alte Tapete. Erst hatte sie mit genau dem Typ Mann geschlafen, dem sie zehn Jahre lang konsequent aus dem Weg gegangen war. Dann hatte sie im Büro geheult und sich von ihrem Chef in den Armen eines fremden Mannes erwischen lassen. Und dann die Rechtschreibfehler! Der Schwips beim Thailänder! Und als hätte der verschlampte Projektantrag all dem nicht schon die Krone aufgesetzt, war sie jetzt auch noch schuld daran, dass Mr Jennings ein wichtiges Meeting verpasst hatte. Sie hatte ihn bloßgestellt und ihm Umstände bereitet. Sie hatte versagt.
Ihre Aufgabe in diesem Büro bestand darin, genau solche Dinge zu verhindern. Aus diesem Grund hatte Mr Jennings sie überhaupt erst eingestellt. Deswegen bezahlte er sie so gut und war überzeugt davon, dass er ohne sie nicht überleben könnte.
Ihr Job schenkte ihr Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Er war das Einzige, was sie wirklich gut konnte. Ohne ihren Job war sie einfach nur irgendein Mädchen mit einem Highschoolabschluss und teuren Klamotten. Sie würde nicht zulassen, dass ihr alles aus den Händen glitt.
„Wo bist du nur?“, murmelte sie und ging ein letztes Mal den Inhalt des Aktenschranks durch. Da der Antrag offenbar nicht vorhatte, ihr ein bisschen entgegenzukommen, knallte sie frustriert eine Schublade nach der anderen zu.
„Er muss hier sein. Er muss einfach!“ Natürlich wäre es möglich gewesen, den Großteil des Antrags aus MrJennings’ PC-Do – kumenten zusammenzustückeln, aber das war nicht der Punkt.
Eine Viertelstunde später ging Jane mit zitternden Händen die letzte Schublade durch. Und dort fand sie den Antrag. Unter E wie Edward, statt C wie Cohen. „Oh, Gott sei Dank“, flüsterte sie und drückte sich die Akte gegen die Brust.
„Jane?“, hörte sie hinter sich eine Frauenstimme sagen.
„Gefunden!“, jubelte Jane und wandte sich schwungvoll zu Lori Love um, die mit fragendem Blick in der Eingangstür stand.
„Gut, das ist toll“, erwiderte Lori, die allerdings keine Ahnung zu haben schien, wie erleichtert Jane gerade war. Denn ihr Tonfall wirkte ausgesprochen bedrückt.
„Tut mir leid, ich hatte etwas verloren. Wow, diesem Bauunternehmer sollte ich wohl besser einen Präsentkorb schicken. Bauunternehmer werden ja wohl Präsentkörbe mögen, oder? Sicher ist die Sache dann schnell vergessen. Mr Jennings ist übrigens in seinem Büro, ich sag ihm Bescheid, dass du hier bist.“
„Moment“, sagte Lori. Ihre braunen Locken wippten um ihr Gesicht, als sie die Tür hinter sich schloss. „Ich bin deinetwegen hier, Jane. Quinn hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich.“
„Dazu besteht überhaupt kein Anlass. So etwas wird nie wieder passieren. Es ist mir unendlich peinlich, und …“
„Jane.“
Loris Tonfall war so ernst, dass Jane unwillkürlich verstummte.
„Erinnerst du dich noch, wie völlig am Ende ich letztes Jahr gewesen bin?“
„M-hm.“
„Würdest du mir glauben, wenn ich behaupte, dass ich es erkenne, wenn das Leben von jemandem gerade aus den Fugen gerät?“
Hm. Diese Frage war schon schwieriger zu beantworten. Immerhin war klar, dass Lori gerade von Janes Leben sprach. „Schätze, das hängt von dem jeweiligen Jemand ab.“
„Jane.“ Lori neigte nicht gerade zu, um den heißen Brei herumzureden, und ihr Tonfall machte deutlich, dass sie nicht vorhatte, Jane mit Samthandschuhen anzufassen.
„Ja?“ Am liebsten hätte sie sich weiter an der Akte festgeklammert, aber sie zwang sich, die Papiere ordentlich auf ihren Schreibtisch zu legen. Dann wischte sie sich die schweißnassen Hände an ihrem dunkelbraunen Rock trocken.
„Dieser Jemand bist im Augenblick du.“
Jane hatte nicht vor, sich dazu zu äußern. Sie räusperte sich und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.
„Wenn du deine Ruhe haben willst, ist das kein Problem für mich, und das weißt du auch. Aber wenn du reden willst, bin ich für dich da.“
„Danke.“ Sie faltete die Hände und wartete einfach ab, dass das hier vorbeiging. In ihren Ohren summte es, so weit war ihr Blutdruck nach oben geschossen.
Aber Lori war noch nicht fertig. „Letztes Jahr dachte ich, ich würde an meinen Sorgen ersticken. Alle haben es bemerkt, alle wollten mir helfen, aber ich habe mich stur geweigert, auch nur einen Pieps von mir zu geben. Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, wenn du denselben Weg einschlägst. Aber eins will ich wissen: Ertrinkst du gerade?“
„Nein.“
„Und würdest du es mir sagen, wenn es so wäre?“ „Nein.“
„Okay, keine weiteren Fragen.“
In diesem Moment kam Mr Jennings aus seinem Büro. „Aber ich habe noch welche.“
„Quinn“, sagte Lori scharf, aber er warf ihr einen strengen Blick zu und baute sich vor Jane auf.
„Haben Ihre Schwierigkeiten irgendetwas mit Chase zu tun? Bedroht er Sie? Schlägt er Sie?“
Jane keuchte entsetzt auf. „Nein!“
„Mir ist nämlich nicht entgangen, dass all das hier an dem Tag angefangen hat, an dem ich Sie in flagranti mit ihm erwischt habe. Sie werden mein Misstrauen also entschuldigen, Jane, aber hat er sich Ihnen aufgezwungen? Denn dann werde ich …“
„Nein, auf keinen Fall. Chase ist nicht der Typ, der … Also, wir sind nicht wirklich … Mr Jennings, es war doch nur eine Umarmung!“
„Ach ja? Dann sind Sie beide also nur Freunde? Sind Sie Mitglieder im selben Weinkenner-Club, oder was?“
Zähneknirschend sah Jane zu ihrem Chef hoch. „Ich entschuldige mich für mein unangemessenes Verhalten. Wenn ich mich korrekt verhalten hätte, würden Sie sich jetzt nämlich nicht in meine Angelegenheiten einmischen, und wir hätten dieses gesamte Gespräch vermeiden können.“
Lori murmelte: „Das war deutlich“, und sah ihren Freund mit hochgezogener Braue an. „Wenn ich mich nicht irre, hat sie dir gerade gesagt, dass du dich um deinen eigenen Kram kümmern sollst, Liebling. Was ich dir übrigens gerade auch schon vorschlagen wollte.“
Aber so leicht ließ Mr Jennings sich nicht von seiner Mission abbringen. „Der Typ ist … keine Ahnung, zwei Meter groß? Und er hat einen tätowierten Hals!“
„Uuuh!“, machte Lori. Sie warf Jane einen überraschten Blick zu. „Trotzdem hat das nichts zu heißen. Schließlich hätte auch nie jemand gedacht, dass Quinn Jennings mit einer Automechanikerin zusammenkommen würde. Gegensätze ziehen sich eben an!“
„Nein“, protestierte Jane. „Chase und ich sind nicht zusammen. Tatsächlich habe ich mich gerade erst von einem Gentleman getrennt, der …“
„Sind Sie schwanger?“, unterbrach Mr Jennings sie. „Ist es das?“
„Nein!“
„Denn wenn es so wäre, würde ich Sie auf jede erdenkliche Weise unterstützen. Sagen Sie einfach, was Sie brau…“
„Ich bin nicht schwanger! Und mein Leben ist auch keine Telenovela, also was auch immer Sie sonst noch befürchten: Behalten Sie es für sich! Ich habe das Recht, meine Freizeit so zu verbringen, wie ich das will. Und ich bin auch nicht verpflichtet, mit Ihnen über mein Privatleben zu diskutieren. Das alles geht Sie nichts an!“
Mr Jennings sah aus, als hätte Jane ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. „Natürlich nicht“, erwiderte er. „Natürlich. Ich muss mich entschuldigen.“
Oh Gott, sah er plötzlich traurig aus. „Mr Jennings …“
„Nein, wirklich, es tut mir leid. Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Und jetzt muss ich sowieso los, mal nachsehen, was die Innengestalter so treiben. Wir sehen uns später, Lori.“ Er gab seiner Freundin einen hastigen Kuss auf die Wange und wandte sich der Ausgangstür zu. „Nehmen Sie sich so lange frei, wie Sie wollen, Jane“, murmelte er noch. Dann war er weg.
Jane sah ihm unglücklich hinterher. Warum war sie so grausam zu einem Mann, der es gut mit ihr meinte? Andererseits schien das derzeit ihr größtes Talent zu sein.
„Mach dir wegen ihm keine Gedanken“, beruhigte Lori sie. „Völlig egal, wie viel Respekt die Männer von heute vor Frauen haben – sie bilden sich trotzdem immer ein, dass sie unsere Probleme lösen müssen.“
„Mir geht es gut, Lori, ehrlich. Ich habe einfach nur ein paar familiäre Probleme, über die ich nicht sprechen möchte. Wärst du so nett, Mr Jennings das so zu sagen?“
„Klar.“
„Danke.“ Jane fühlte sich ganz krank wegen all dem Kummer, den sie Quinn Jennings bereitet hatte.
„Und du würdest dich niemals schlecht von einem Mann behandeln lassen, oder, Jane?“
Loris Blick machte klar, dass sie sofort da sein würde, wenn Jane Hilfe brauchte. Aber Jane schüttelte den Kopf. Lori konnte ja nicht wissen, dass sie es früher mal geliebt hatte, sich wie Dreck behandeln zu lassen. Jetzt sparte sie sich dieses Vergnügen für die Wochenenden auf.
Nein, wies sie sich selbst zurecht. Chase war eine Affäre, aber er hatte sie noch nie wie Dreck behandelt. Nicht einmal dann, als sie es wirklich verdient hatte.
„Ich schwöre, dass mich niemand schlecht behandelt. Meine Probleme sehen ganz anders aus.“
„Okay, gut.“ Lori lächelte ihr hinreißendes Lächeln. „Also ist der riesige Typ mit den vielen Tätowierungen jemand, der dich gut behandelt?“
„Raus“, fauchte Jane und zeigte auf die Tür.
„Schon gut, schon gut. Ich muss mich jetzt sowieso mal auf die Suche nach meinem grummeligen Architekten machen. Ich bringe ihm einen Kaffee hoch zu seinem Grundstück. Willst du auch einen?“
Jane schüttelte den Kopf und wartete mit angehaltenem Atem, bis Lori außer Sichtweite war. Dann rief sie Jessies Anwältin an, um weitere Informationen aus ihr herauszuquetschen. Dieser Drahtseilakt war einfach zu viel für ihre Nerven. Sie hatte sich für unerschütterlich gehalten, aber jetzt brach sie unter dem leisesten Anflug von Stress zusammen.
„Ich habe gerade mit Ihrem Privatermittler gesprochen“, sagte Holloway.
„Meinem Privatermittler?“
„Mr Chase. Er ist hier bei mir in der Kanzlei. Im Augenblick gehen wir die Festnahmeprotokolle durch und stellen eine Liste mit Fragen auf, die ich Jessie stellen werde, wenn ich ihn heute Nachmittag besuche. Normalerweise arbeite ich nur bei Mordfällen mit Privatdetektiven zusammen, aber Mr Chase hat sich als ausgesprochen hilfreich erwiesen.“
„Wunderbar.“ Jane warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst neun Uhr früh. Hatte Chase ihr nicht erzählt, dass sein Vater niemals vor zehn aufstand?
„Wenn es Ihnen recht ist, würde ich ihn gerne im Namen der Kanzlei beauftragen. Zum selben Stundensatz, den Sie bislang bezahlt haben, aber auf Geschäftskosten der Kanzlei.“
„Toll, das klingt sehr vernünftig.“
„Die Anklage hat angedeutet, dass sie mit dem Kautionsbetrag nach unten gehen will. Auf dreißigtausend, was natürlich immer noch ziemlich viel Geld ist. Aus meiner Sicht ist das ein weiterer Hinweis darauf, dass es hier um mehr als nur Diebstahl geht.“
Dreißigtausend Dollar. Das bedeutete, dass Jane nach der offiziellen Festsetzung der Kaution dreitausend Dollar anzahlen müsste und die übrigen siebenundzwanzigtausend auf Nimmerwiedersehen fällig würden, falls Jessie beschloss, sich zu verdünnisieren. Das war einfach nicht drin. Schließlich hatte sie auch noch die Anwaltskosten zu stemmen.
„Dreißigtausend“, wiederholte sie schwach.
„Jessie hat mich bereits informiert, dass Ihr Vater nicht bezahlen wird“, erklärte Ms Holloway. „Ich versuche alles, um den Betrag weiter nach unten zu drücken, also machen Sie sich keine Sorgen. Im Augenblick geht es Ihrem Bruder gut, und er ist über alles, was wir tun, im Bilde.“
Jane dankte ihr und legte auf.
Dreißigtausend. Das konnte sie sich unmöglich leisten. Wenn Jessie sie im Stich ließ, würde sie ihre Wohnung verlieren. Doch dann musste sie an den dreizehnjährigen Jessie von früher denken, der sie so oft angerufen und gefragt hatte, ob er am Wochenende zu ihr kommen dürfe. Meistens hatte sie ihn abgewimmelt. Was, wenn sie damals für ihn da gewesen wäre? Was, wenn sie ihn unter ihre Fittiche genommen hätte, anstatt ihre gesamte Energie darauf zu verwenden, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen? Was, wenn sie ein bisschen mehr an Jessie und ein bisschen weniger an sich selbst gedacht hätte?
Sie schwor sich, ihre Finanzen durchzugehen, sobald sie wieder zu Hause war, und machte sich endlich an die Arbeit. Während sie E-Mails beantwortete, Blaupausen verschickte und eine ganze Flut von automatischen Terminerinnerungen einrichtete, die Mr Jennings vor dem Schlimmsten bewahren sollten, kam sie innerlich wieder zur Ruhe.
Ich kann das schaffen, versicherte sie sich selbst. Es ist möglich.
Als Mr Jennings zwei Stunden später zurückkam, schenkte er ihr nicht mehr als ein halbherziges Lächeln. Jane stand auf. Am liebsten hätte sie ihn sehr lange und sehr fest umarmt, aber sie hielt sich zurück. „Mr Jennings, es tut mir leid.“
„Nein, ich bin es, der sich entschuldigen muss. Ich hätte Sie wirklich nicht so in die Enge treiben sollen.“
„Ich …“ Sie dachte daran, wie er versucht hatte, ihr zu helfen. Wie Lori versucht hatte, ihr zu helfen. Daran, wie sie alle auf Distanz hielt. Weil es nicht sein konnte, dass irgendjemand die wahre Jane mochte. Weil nur die Frau, die sie zu sein vorgab, wirklich liebenswert war. „Mr Jennings, ich … ich betrachte Sie als Freund.“
Sein schüchternes Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. „Das freut mich sehr.“
„Aber ich …“ Sie schüttelte den Kopf und rang die Hände. „Ich bin einfach nicht sonderlich gut in solchen Dingen. Im Augenblick habe ich eine Menge familiäre Probleme, das ist alles. Ich will nicht, dass Sie sich Sorgen um mich machen. Mir geht es gut.“
„In Ordnung, schön zu hören.“
„Und ich weiß, dass ich mich auf Lori und Sie verlassen kann, wenn ich Hilfe brauche. Das bedeutet mir sehr viel. Danke.“
Ehe sie protestieren konnte, stand Mr Jennings direkt vor ihr und umarmte sie fest. „Sie sind wie eine Schwester für mich, Jane. Sie sind mir wichtig.“
Die Angst traf sie wie ein Faustschlag. Nicht, weil sie sich von ihm belästigt fühlte, sondern gerade, weil sie es nicht tat. Sie spürte, dass er sie aufrichtig respektierte. Er mochte die Frau, als die sie sich gab. Und irgendwo tief in ihrem Inneren tat dieser Gedanke fürchterlich weh.
Wenn er ihr wahres Ich gekannt hätte – dieses rotzfreche, zornige junge Mädchen, das in wechselnden Wohnwagensiedlungen groß geworden war -, wäre er sich seiner Meinung bestimmt nicht mehr ganz so sicher gewesen. Und Lori hätte bestimmt nicht gewollt, dass sich so eine Person in der Nähe ihres Freundes herumtrieb. Geschweige denn in seinen Armen.
„Und eines Tages werden Sie ja vielleicht sogar endlich anfangen, mich Quinn zu nennen“, sagte Mr Jennings, an dem ihr innerer Aufruhr vollkommen vorbeizugehen schien. „Das ist nämlich mein Vorname, wissen Sie?“
Sie nickte und erstarrte in seiner Umarmung, bis er sie losließ. „Vielleicht. Aber nicht im Büro.“
„Oh Gott, nein“, keuchte er in gespieltem Entsetzen. „Natürlich nicht!“
Sie musste sich zwingen, nicht zu lachen, was ihr aber nur ansatzweise gelang.
„Sie brauchen noch ein paar freie Tage, oder? Sie sollten gar nicht hier sein.“
„Nein, ich schaffe das schon. Keine Sorge.“
„Jane, ich mache mir keine Sorgen um das Büro. Und wenn ich mich recht erinnere, waren Sie nur ein einziges Mal krank, seit Sie hier arbeiten. Sie haben es sich verdient, nehmen Sie sich frei.“
Sie wusste, dass er nur nett sein wollte. Und sie wusste, dass sie ein paar freie Tage wirklich gut gebrauchen konnte – und sei es nur, um zu verhindern, dass sie wahnsinnig wurde. Aber etwas in ihr konnte und wollte einfach nicht loslassen. Du kannst das schaffen, flüsterte dieses Etwas. Du brauchst keine Pause. Du brauchst keine Hilfe.
Sie bohrte die Fingernägel in ihre schweißnassen Handflächen. Natürlich konnte sie es ohne Hilfe schaffen. Aber das bedeutete nicht, dass sie das auch musste. Sie hatte Freunde, und diese Freunde boten ihr ihre Hilfe an. Quinn und Lori … und sogar Chase, wenn sie ehrlich war.
Jane atmete tief durch. „Ich habe Terminerinnerungen für Sie eingerichtet, damit Sie in den nächsten Tagen zurechtkommen.“
Mr Jennings lächelte, als würde er gleich platzen vor Stolz auf seine Sekretärin.
„Aber ich werde ab und an mal vorbeischauen.“
„Kommen Sie, Jane, ich bin doch kein Kind mehr.“
Sie bedachte ihn mit einem skeptischen Blick.
„Ich schaffe das. Ich schwöre!“ Als sie ihn weiter wortlos anstarrte, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. „Na gut. Wenn ich es nicht schaffe, rufe ich Sie an.“
„Okay.“ Diesmal war ihr Lächeln echt. „Das klingt schon besser. Versprechen Sie, dass Sie sich wirklich melden, wenn Sie mich brauchen?“
Eine halbe Stunde später hatte sie alles getan, was möglich war. Quinn Jennings hatte sich in seine Arbeit vertieft, wogegen es kein Heilmittel gab, aber sie musste eben darauf vertrauen, dass er sein Handy schon hören würde, wenn es zu aufdringlich bimmelte.
Verhältnismäßig frei von Gewissensbissen machte Jane sich auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis. Wenn es Jessie wirklich gut ging, konnte sie vielleicht aufhören, darüber zu grübeln, wie sie die Kaution auftreiben sollte.
Allerdings ging es ihm ganz und gar nicht gut. Genau genommen sah er furchtbar aus. „Jessie, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken.
„Meine Anwältin war gerade hier. Die brummen mir vielleicht sechs Jahre für den Diebstahl auf, Jane!“
„Jess …“ Sie seufzte und sank ein wenig in sich zusammen. „Du hast Leute bestohlen. Was hast du denn erwartet?“
„Keine Ahnung.“ In seinen Augen glitzerten Tränen. „Ich hab doch keinem wehgetan. Ich hab niemanden bedroht, und ich hab auch nich mit Waffen rumgefuchtelt. Ich hab einfach nur ’n paar Handtaschen mitgehen lassen, das is alles!“
Die Angst in seinem Blick brach ihr das Herz, aber gleichzeitig machte sie sie auch wütend. „Du bist kein Kind mehr, Jessie. Und nach allem, was Dad erlebt hat, kannst du nicht so tun, als hättest du nicht gewusst, was dich erwartet. Wie oft hat er dich davor gewarnt, dich in so eine Situation zu bringen? Es geht ja nicht nur um den Diebstahl. Du steckst auch ansonsten in riesigen Schwierigkeiten.“
Er schlug mit der Hand auf die Tischplatte. „Ich hab diese Frauen nich angerührt, Jane! Das schwör ich bei Gott! Kannst du nich mal mit deinem Freund bei der Staatsanwaltschaft reden? Dafür sorgen, dass wenigstens der mir glaubt?“
Mist. Sie schüttelte den Kopf. „Er ist nicht mein Freund. Nicht mehr, jedenfalls.“
Er fragte, wie es zu Hause lief, und Jane erzählte ihm von Grandma Olive und dem Margarita-Zwischenfall. Sie versuchte, ihre Tränen hinter Gelächter zu verbergen, aber Jessie ließ sich nicht täuschen.
„Tut mir wirklich leid, Schwesterherz. Ich weiß, dass ich dich echt in Schwierigkeiten gebracht hab.“
Sie schüttelte wortlos den Kopf.
„Wenn ich hier rauskomme, bring ich das alles wieder in Ordnung, versprochen! Ich hör auf, mit den Jungs abzuhängen. Und vielleicht hol ich meinen Abschluss nach.“
Jane hätte gerne geglaubt, dass diese Erfahrung wirklich etwas in ihm auslöste. Aber Jessie wusste einfach zu gut, wie man Leute um den Finger wickelte. Er sah zwar aus wie ein typischer Kiffer, aber auf seinen Hundeblick wäre jeder Welpe neidisch gewesen.
Die Glocke kündigte an, dass sie nur noch eine Minute hatten. Jane beobachtete, wie Jessie zusammenzuckte. Der Hundeblick wich einem wachsamen, erschöpften Ausdruck.
„Sag Dad, dass es mir leidtut. Ich hätte echt auf ihn hören sollen. Wenn sie mich ins Gefängnis stecken, kommt er mich bestimmt nich besuchen.“ Seine Worte endeten in einem Schluchzen. „Also sag ihm einfach, dass es mir leidtut, okay?“
Oh Gott. Jane presste sich die Hand vor den Mund, um ihre eigenen Tränen zu unterdrücken.
„Bitte“, bettelte Jessie.
Sie nickte stumm, weil sie nicht mehr sprechen konnte. Schon die wenigen Tage hier drinnen hatten ausgereicht, um sein Selbstbewusstsein und sein unerschütterliches Vertrauen darauf, dass alles gut werden würde, zu zerstören. Endlich hatte er einen kurzen Blick auf die Wahrheit erhascht: dass er ein Krimineller war. Kein harmloser Kiffer. Kein entspannter Typ. Sondern ein Straftäter, der in großen Schwierigkeiten steckte.
Jessie legte auf und wischte sich trotzig die Tränen weg. Die Geste erinnerte Jane an den kleinen Jessie, den sie getröstet hatte, wenn er sich das Knie aufgeschlagen hatte.
Vielleicht würde er sich wirklich ändern, wenn er noch mal um die sechs Jahre Knast herumkam. Jane war das schließlich auch gelungen. Ein wirklich schreckliches Wochenende hatte ihr ganzes Leben verändert.
Vielleicht hatte Mac ja recht. Jessie hatte geklaut und Drogen genommen und mit Dealern abgehangen. Vielleicht waren ein paar Monate im Gefängnis genau der Tritt in den Hintern, den er brauchte, um endlich den richtigen Weg einzuschlagen.
Tränenüberströmt verließ Jane das Untersuchungsgefängnis. Entweder, Jessie wurde hier endlich zum Mann, oder er würde beschließen, niemals erwachsen zu werden. Leider hatte sie keinen Einfluss auf seine Entscheidung.