17. KAPITEL

Warum hast du einen Sandsack in deinem Gästezimmer hängen?“ Jane blickte von dem Buch hoch, das sie gerade las, um sich von ihren Sorgen abzulenken. Es hatte sowieso nichts gebracht. Genauso wenig wie der Film, der nebenbei im Fernsehen lief. „Ich boxe.“

„Echt? Irgendwie find ich das sexy.“

„Das sagst du über ziemlich viele Sachen.“

„Ach komm, eine verschwitzte, halb nackte Jane, die auf einen großen roten Sandsack einprügelt? Das ist sexy, Punkt.“

„Wie kommst du darauf, dass ich dabei halb nackt bin?“

„Ähm … Weil du mich magst?“

Jane verdrehte die Augen und boxte Chase in den Oberarm.

„Autsch! Mach das noch ein paarmal, und du kriegst, was du verdient hast.“

„Halt die Klappe!“ Jane lachte und verpasste ihm ein paar leichte Schläge auf die Schulter.

„Oh, yeah, Baby“, sagte er. „Gib’s mir.“

„Ich dachte, dafür muss ich halb nackt sein“, neckte sie ihn.

„Scheiße, da hast du recht. Komm her.“ Chase zog den Reißverschluss an ihrer Kapuzenjacke herunter, während Jane so tat, als würde sie sich bemühen, seine Hände wegzuschlagen. Er fing gerade an, sich unter ihrem T-Shirt nach oben vorzuarbeiten, als sein Handy klingelte. Ungerührt schob er die Hände weiter hoch.

„Chase!“, protestierte sie, als er bei ihren Brüsten angelangt war. „Geh ans Telefon!“

„Später.“ Sie spürte seine warmen Lippen an ihrem Hals. „Aber es könnte wichtig sein.“

„Das hier ist wichtig.“

Ja, das war es. Wirklich, wirklich wichtig. Und es wurde sogar noch wichtiger, als Chase ihr sanft in die Schulter biss. Das Handy hörte auf zu klingeln, und Jane ließ sich gegen die Sofalehne sinken. Zufrieden seufzte sie auf, als Chase ihr folgte und sie sein warmes Gewicht auf ihrem Körper spürte, und …

Das Handy klingelte erneut.

„Scheiße“, knurrte Chase, setzte sich auf und angelte das Telefon vom Couchtisch. „Rühr dich nicht von der Stelle!“ Er klappte das Handy auf. „Hier ist Chase.“ Er setzte sich ruckartig kerzengerade auf. Jane hörte eine Männerstimme aus dem Hörer dringen. Sie sprach laut und hastig.

„Okay“, sagte Chase. „Wir sind gleich bei dir.“

Jane sprang vom Sofa hoch und suchte ihre Schuhe. „Was ist los?“, fragte sie, als Chase das Handy wieder zugeklappt hatte.

„Mein Dad will uns etwas zeigen.“

„Und was?“

Er schüttelte den Kopf. „Es hat irgendetwas mit dem Polizeibericht zu tun. Aber mehr wollte er am Telefon nicht sagen.“

Jane schnappte sich Handtasche und Mantel, und schon waren sie draußen auf der Straße. Die Viertelstunde, die sie bis zu Peter Chases Wohnwagensiedlung brauchten, kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Aber Jane tröstete sich mit dem Gedanken, dass Chases Dad gute Neuigkeiten haben musste.

Jane sprang aus dem Truck und klopfte an die Tür. Doch sie war so ungeduldig, dass sie die Antwort nicht abwartete, sondern einfach in den Wohnwagen stürmte. „Mr Chase?“ Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so unhöflich gewesen war.

„Hallo, Jane! Möchten Sie ein Bier?“

„Nein danke. Was haben Sie herausgefunden?“

„Hi, Billy!“, sagte er, als Chase hinter Jane den Wohnwagen betrat. „Darf’s für dich ein Bier sein, Junge?“

„Nein, Dad.“ Jane konnte einen Anflug von Ungeduld aus Chases Stimme heraushören. Oder projizierte sie nur ihre eigene Ungeduld auf ihn?

„Mr Chase“, flehte sie, „bitte! Haben Sie etwas herausgefunden, was Jessie helfen könnte?“

„Allerdings. Ich habe gerade schon mit MsHolloway gesprochen. Wenn Sie bitte Platz nehmen würden, Jane?“

Jane setzte sich so hastig an den Küchentisch, dass die Stuhlbeine über den Linoleumboden quietschten. Sie zählte bis zehn und wartete ab, bis auch Chase sich gesetzt hatte. Und weiter bis zwanzig, damit Peter Chase Zeit hatte, die Unterlagen zu sortieren und seine Gedanken zu ordnen.

Endlich setzte auch er sich und öffnete eine der Akten. „Als ich von dem letzten Mordopfer erfahren habe, bin ich sofort ins Archiv gegangen, um herauszufinden, ob auch diese junge Frau in den letzten Monaten eine Handtasche als gestohlen gemeldet hat.“

Jane schluckte. Vielleicht waren die Neuigkeiten ja doch nicht so gut.

„Und tatsächlich habe ich einen Bericht gefunden. Ihre Handtasche wurde in einem Laden namens Steel entwendet. Jessie hat ihn in einem Verhör erwähnt.“

„Oh nein“, flüsterte Jane.

„Aber – und das ist der wichtige Teil: Sie sagte, dass sich der Diebstahl am dreizehnten Mai ereignet hat.“

Jane runzelte die Stirn. „Am dreizehnten?“

„Genau. Und Jessie wurde am siebten festgenommen. Am Tag des Diebstahls befand er sich bereits in Untersuchungshaft.“

„Dann kann er es also nicht gewesen sein!“

Mr Chase nickte. „Exakt.“

Überwältigt vor Erleichterung nahm Jane Chases Hand und drückte fest zu. „Das ist der Grund dafür, dass sie ihn nicht wieder festgenommen haben, oder? Sie haben nichts gegen ihn in der Hand.“

Peter Chase lächelte. „Rein gar nichts. Jessie hat zugegeben, dass er Michelle Browns Handtasche gestohlen hat. Aber es gibt keinerlei Beweise, dass er mit der Entwendung von Kelly Andersons Rucksack zu tun hatte, und den letzten Diebstahl kann er gar nicht begangen haben.“

Jane nickte und blinzelte die Tränen weg. „Dann geht es jetzt also nur noch um Diebstahl.“

„Vermutlich. Aber lassen Sie uns nichts überstürzen. Die Cops werden trotzdem am Ball bleiben. Im Augenblick ist Jessie meines Wissens ihre einzige Spur, darum werden sie ihn nicht einfach so laufen lassen. Und darum würde ich der Polizei gerne ein bisschen was zum Nachdenken servieren.“

„Wie soll das gehen?“

„Indem wir das gesamte Beweismaterial noch einmal durchgehen und nach etwas suchen, das sie übersehen haben. Es muss nichts Konkretes sein. Es reicht, wenn wir Möglichkeiten aufzeigen. Wir müssen uns jede einzelne Seite ganz genau ansehen. Sind Sie immer noch sicher, dass Sie kein Bier wollen?“

Jane schüttelte den Kopf, und sie stürzten sich in die Arbeit.

Eine Stunde später hatten sie eine Liste mit den Gemeinsamkeiten zwischen den drei Frauen erstellt. Fast alle waren ausgesprochen vage, aber es war besser als nichts.

Kirchen, Schulen, Ärzte, Freunde: Wenn diese Details von der Polizei überhaupt untersucht worden waren, dann befanden sich keine Notizen dazu in dem Beweismaterial, das man Jessies Anwältin zur Verfügung gestellt hatte. Laut Akten waren die Diebstähle die einzige Verbindung zwischen den Frauen.

„Alle Anzeigen wurden von unterschiedlichen Beamten aufgenommen. Aber das heißt nicht, dass nicht möglicherweise ein anderer Beamter auf die Damen aufmerksam geworden ist, als sie auf die Polizeiwache gekommen sind.“

Jane konnte kaum glauben, was Chases Dad da sagte. Er war doch selbst Polizist gewesen! „Halten Sie es wirklich für möglich, dass ein Cop etwas mit der Sache zu tun hat?“

„Es ist unwahrscheinlich, aber deswegen sollten wir die Möglichkeit noch lange nicht verwerfen. Und jetzt sollten wir alles noch mal von Anfang bis Ende durchgehen. Was passiert, wenn Ihnen die Handtasche geklaut wird? Sie erstatten Anzeige – und was dann? Was haben diese drei Frauen als Nächstes getan? Wem sind sie begegnet?“

„Sie haben ihre Kreditkarten sperren lassen“, schlug Jane vor.

Mr Chase schrieb den Punkt auf. „Und ihre Handys sehr wahrscheinlich auch.“

Chase blätterte in zwei Akten, dann warf er ein: „Zwei der Frauen waren beim selben Netzbetreiber unter Vertrag.“

Sein Dad hob eine Braue und murmelte: „Dann sind sie vielleicht in dieselbe Handyshop-Filiale gegangen.“ Der Stift flog nur so über seinen Notizblock. „Außerdem ist mir aufgefallen, dass alle drei Frauen ihre Hausschlüssel in der Handtasche hatten. Die Schlösser werden sie also auch ausgewechselt haben.“

Jane fügte hinzu: „Und sie brauchten so schnell wie möglich einen neuen Führerschein.“

Sie sammelten noch über eine Stunde lange weitere Ideen, und als sie zurück nach Aspen fuhren, war Jane fast schon euphorisch. Chases Dad würde die Liste mit den Gemeinsamkeiten an Ms Holloway weiterreichen, die den ermittelnden Beamten vorschlagen würde, besser in diese Richtung zu ermitteln, ehe die Presse den Eindruck gewann, dass sie ihre Arbeit nicht richtig machten.

Nicht mehr lange, und Jessies Weste wäre wieder weiß – bis auf die Diebstähle zumindest. Und damit würde sich Janes Leben wieder normalisieren. Nur dass sie zunehmend den Verdacht hatte, dass sie gar nicht mehr wusste, wie „normal“ eigentlich aussah.

Am Mittwochnachmittag saß Jane an ihrem Schreibtisch im Büro und sah sich verwundert um. Mittlerweile arbeitete sie bereits seit drei Tagen wieder. Das Chaos aus unentzifferbaren Notizen, das Mr Jennings während ihrer Abwesenheit an ihrem Arbeitsplatz hinterlassen hatte, war inzwischen auf zwei vollgekritzelte Zettel geschrumpft.

Jane liebte es, die mysteriösen Hinweise zu entschlüsseln, die Mr Jennings ihr manchmal hinterließ. Was beispielsweise meinte er mit „8 Süden Junge hier“? Er selbst konnte sich natürlich nicht erinnern, jemals etwas Derartiges geschrieben zu haben. Also war es an Jane, Detektiv zu spielen. Die Nachricht auf dem zweiten Zettel war an sich ziemlich deutlich: „Donnerstag, neun Uhr“, stand da. Allerdings hatte Mr Jennings keine Ahnung mehr, um wen oder was es ging. Sie würden bis Donnerstag warten müssen, damit sich das Geheimnis lüftete.

Noch mehr als über Mr Jennings Notizen wunderte Jane sich allerdings über die Ruhe, die schlagartig in ihr Leben eingekehrt war. Jessies Anwältin hatte ihre Trümpfe beeindruckend geschickt ausgespielt. Seit Ms Holloway die Liste mit den Gemeinsamkeiten vorgelegt hatte, war der Cop, der die Mordermittlungen leitete, nicht mehr ganz so überzeugt vom Jessie-istein-Serienmörder-Szenario. Zudem war im vorläufigen Bericht des Gerichtsmediziners ein Todeszeitpunkt angegeben, zu dem Jessies Alibi hieb- und stichfest war.

Seitdem hoffte Jane, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Polizei den wahren Mörder fand. Außerdem hatte der mit Jessies Fall betraute Staatsanwalt Andeutungen gemacht, dass er sich bezüglich der Diebstähle auf einen Deal einlassen würde. Deutlicher hätte er nicht signalisieren können, dass niemand mehr mit einer zusätzlichen Anklage rechnete. Es ging voran.

„Gott sei Dank“, flüsterte Jane. Im selben Moment erinnerte Outlook sie daran, dass Mr Jennings in fünf Minuten einen Telefontermin mit einem renommierten Holzlieferanten hatte. Sie drückte auf die Gegensprechanlage. „Mr Jennings?“

Schweigen.

Sie versuchte es erneut. „Mr Jennings?“

Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es vorkam, dass Mr Jennings erst bei der zweiten Unterbrechung von der Arbeit hochschreckte. Hatte er bis dahin nicht reagiert, war es hoffnungslos. Jane stand auf und lief zu seinem Büro. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und sie konnte sehen, wie ihr Chef sich über seinen Zeichentisch beugte und auf einem riesigen Bogen Papier konzentriert eine Reihe schnurgerader Linien zog.

„Mr Jennings.“ Sie tippte ihm auf die Schulter. „Hm?“, brummte er, ohne aufzublicken.

„In drei Minuten haben Sie einen Telefontermin mit Hatlock Wood. Soll ich dort anrufen und zu Ihnen durchstellen?“

Jetzt sah er sie mit verklärtem Blick an. „Was? Wer?“

„Hatlock Wood, Mr Jennings. Der Telefontermin. Sind Sie bereit?“

„Oh.“ Er warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Zeichentisch, dann lockerte er seufzend seine Schultern. „Klar.“

„Sie haben immer noch keine Ahnung, was das mit ‚Süden Junge‘ zu bedeuten hat, oder?“

„Das mit was?“

„Dachte ich mir schon. Ich stelle Hatlock gleich zu Ihnen durch, Sir. Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen?“

Mr Jennings nahm dankend an. Gott, fühlte es sich gut an, endlich wieder etwas zu tun zu haben! Als Jane den Kaffee holte und den Anruf organisierte, lag ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen. Sie selbst hatte heute Nachmittag ebenfalls Termine: einen mit dem Buchhalter und einen zweiten mit einem Lehrer von der örtlichen Highschool, der gerne einen Praktikanten bei Jennings Architecture unterbringen wollte. Jane war zwar wenig begeistert von der Vorstellung, sich ihren durchorganisierten Arbeitsalltag von einem Teenager durcheinanderbringen zu lassen, aber Mr Jennings war völlig hin und weg von der Idee. Da ihm die Sache nicht auszureden war, wollte Jane wenigstens sichergehen, dass die Schule ihnen keinen Chaoten schickte. Und dann war da natürlich auch noch Loris Abschiedsfest, das organisiert werden wollte …

Als Jane gerade die Buchhaltung vorsortierte, kam ein Landschaftsarchitekt vorbei, um ein paar Zeichnungen für einen von Mr Jennings’ Kunden abzugeben. Der Mann blickte einfach durch Jane hindurch. Ein gutes Zeichen! Trotz allem, was in den letzten beiden Wochen vorgefallen war, kauften ihr die Leute ihre biedere Fassade noch immer ab. Sie wurde als Büroinventar wahrgenommen. Der scharlachrote Buchstabe auf ihrer Stirn war noch immer unsichtbar. Also hatten die Gerüchte nicht die Runde gemacht. Alles war wie eh und je.

Bis auf einen Punkt. Denn Jane war klar geworden, dass sie sich mit ihrer Familie abfinden musste. Ganz gleich, wie sehr sie versuchte, sich von ihnen abzugrenzen: Diese Menschen waren ein Teil von ihr. Es wäre dumm und ziemlich naiv gewesen, etwas anderes zu glauben. Sie würde keine Party schmeißen, um ihre Kollegen mit dem MacKenzie-Clan bekannt zu machen, aber sie hatte begriffen, dass sie die beiden Seiten ihres Lebens in ein besseres Gleichgewicht bringen musste. Dass sie einen Weg finden musste, ihr Haus mit Garten zu bekommen, ohne ihre Familie zu verleugnen.

Als eine leicht hysterische Kundin anrief, bekam die friedliche Blase, in der Jane durchs Büro schwebte, eine kleine Delle. Die Frau hatte erstmals den Naturstein begutachtet, mit dem der Außenkamin an ihrem neuen Haus eingefasst worden war, und war überzeugt, dass Mr Jennings ihr etwas völlig anderes beschrieben hatte. Jane machte eine Notiz und legte sie direkt vor ihrem Chef ab, der bedauerlicherweise gerade so tief in eine Unterhaltung über altes Buchenholz versunken war, dass er die Außenwelt nicht mehr wahrnahm.

Und dann platzte die Blase.

Denn als Jane in den Empfangsbereich zurückkehrte, war wie aus dem Nichts Greg Nunn vor ihrem Schreibtisch aufgetaucht. Er stand, die Hände in den Hosentaschen, einfach da und lächelte Jane so selbstzufrieden an, als wäre er der König der Welt. Jane schlug das Herz bis zum Hals. Greg hätte sich nie die Mühe gemacht, extra hierherzukommen, nur um ihr eine erfreuliche Nachricht zu überbringen.

„Ich habe erfreuliche Nachrichten, Jane“, sagte Greg.

Ach ja? Sie warf einen nervösen Blick zu Mr Jennings’ Bürotür, um sicherzugehen, dass ihr Chef nach wie vor telefonierte. „Was willst du, Greg?“

„Du hast mich doch gebeten, mir den Fall noch einmal anzusehen.“

„Richtig.“

„Nun ja, und ich habe beschlossen, dir den Gefallen zu tun.“ „Oh, ähm, danke …“

Er umrundete den Schreibtisch und lehnte sich direkt neben Jane an die Wand. „Es wird dich freuen zu hören, dass ich empfohlen habe, in eine andere Richtung weiterzuermitteln.“

„Oh. Hast du das?“ Jane zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie schon längst wusste, dass Jessie aus dem Schneider war, ohne dass Greg auch nur einen Finger für sie krumm gemacht hatte. „Das ist toll.“

„Und wie willst du mir jetzt danken?“

Sie beobachtete, wie er die Lippen zu einem schamlos süffisanten Grinsen verzog. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, dass sie diesen Typen jemals auch nur gemocht hatte. Chase hatte recht gehabt. Greg war ein Vollidiot.

„Warum gehen wir heute Abend nicht miteinander aus und stoßen auf dein Glück an?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht mit dir ausgehen, Greg.“

„Du solltest die rote Unterwäsche tragen, die mir so gut gefällt.“

„Greg, wir sind kein Paar mehr. Ich weiß nicht, was das hier soll.“

Er zwinkerte ihr zu. „Na ja … Irgendwie müssen wir doch dafür sorgen, dass die Cops deinen Bruder auch wirklich in Ruhe lassen, oder?“

Unwillkürlich wich Jane einen Schritt zurück. Der Impuls, Greg eine schallende Ohrfeige zu verpassen, war beinahe übermächtig. „Verschwinde von hier!“

Greg kam näher. „So einfach wirst du mich nicht los, Jane. Und du brauchst auch gar nicht so empört zu tun. Dein ganzes Leben ist eine einzige Lüge.“ Er sprach so laut, dass Jane einen panischen Blick über seine Schulter warf.

„Verschwinde, Greg“, flüsterte sie aufgebracht.

„Was, hast du etwa Angst, dass dein geliebter Mr Jennings herausfindet, wo seine kleine Jane wirklich herkommt?“

Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze. Sie hätte damit rechnen müssen. Es war selten vorgekommen, dass Greg einen Fall verloren hatte. Aber wenn, dann hatte er seine Frustration immer auf dieselbe Weise kanalisiert: durch Wut, Ungläubigkeit und Gereiztheit, weil er in der Öffentlichkeit versagt hatte.

Greg Nunn konnte ausgesprochen kleinlich sein. Und diese Kleinlichkeit wollte Jane so weit wie möglich von ihrem Bruder fernhalten.

Sie atmete tief durch. „Tut mir leid, Greg. Danke für deine Hilfe. Ganz ehrlich. Aber ich kann nicht mit dir ausgehen.“

„‚Ich kann nicht‘ ist eine ziemlich endgültige Formulierung, über die ich an deiner Stelle noch einmal gründlich nachdenken würde. Nimm dir ein paar Tage Zeit, um zur Besinnung zu kommen … Dynasty.“

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff. In der letzten Woche hatte sie diesen Namen einfach ein paarmal zu oft gehört.

Dynasty.

Nein. Oh nein. Er wusste es. Diese kleine Ratte wusste davon! Greg hatte in ihrer Vergangenheit herumgeschnüffelt und … oh Gott.

„Ja“, krächzte sie, „ich habe meinen Namen geändert. Dynasty ist ein fürchterlicher Name, ich habe ihn immer gehasst. Und ich wäre dir dankbar, wenn du …“

„Hast du schon mal im Internet nach alten Schulkameraden gesucht?“, säuselte Greg.

„Was?“ Wieder so ein Moment, in dem sie keine Ahnung hatte, was er von ihr wollte. Und wieder traf sie die Erkenntnis schon in der nächsten Sekunde wie ein Faustschlag.

„Ach, wie einfach alles geworden ist, seit es Social Networking gibt … Man gibt einfach den Namen einer Highschool und das Abschlussjahr ein, und schon werden Namen über Namen ausgespuckt. Und du glaubst ja gar nicht, wie wild die Leute auf Klatsch und Tratsch sind.“

Jane bekam keine Luft mehr. Ihre Lungen fühlten sich an, als würden sie gleich zusammenfallen, aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach nicht atmen.

Er würde es allen erzählen. Seinen Freunden. Ihren Freunden. Quinn Jennings. Dein geliebter Quinn Jennings, hatte er gedroht.

Greg würde Mr Jennings erzählen, dass Jane Morgan eine Lüge war. Dass sie in Wahrheit Dynasty Alexis MacKenzie war. Dass sie einen neuen Namen angenommen hatte, um ihre finstere Vergangenheit zu verbergen. Dass sowohl ihr Vater als auch ihr Stiefvater verurteilte Schwerverbrecher waren. Dass ihr Bruder ein Dieb war. Wahrscheinlich wusste Greg sogar über die beiden Vorladungen wegen Alkoholkonsums Minderjähriger Bescheid. Und er würde Mr Jennings garantiert erzählen, was für eine Art Mädchen Dynasty gewesen war.

Quinn Jennings würde sich betrogen fühlen. Er würde das Gefühl haben, belogen worden zu sein. Er würde ihr nie wieder vertrauen. Weil sie für ihn dann nicht mehr seine gute, alte, zuverlässige Jane war, sondern ein Mädchen aus kriminellen Verhältnissen, das womöglich sogar Geld aus der Portokasse klaute. Ein Mädchen, das trank und sich durch die Betten schlief. Und was, wenn der Polizeibericht aus Denver auftauchte?

Und dann würde Lori Mr Jennings bitten, Jane zu feuern, weil sie so eine Frau nicht in der Nähe ihres Freundes haben wollte.

Endlich gelang es Jane, Luft zu holen. Ein Hauch von Sauerstoff drang bis in ihr Gehirn vor, und für einen Augenblick konnte sie wieder halbwegs klar denken.

Okay, vielleicht war ihre Reaktion etwas übertrieben.

Sie holte ein zweites Mal tief Luft.

Okay, ihre Reaktion war sogar ziemlich sicher etwas übertrieben. Selbst wenn Greg herausgefunden hatte, was in Denver passiert war … würde Quinn Jennings sie wirklich dafür hassen?

„Keine Frau lässt mich einfach so sitzen, Jane, und du schon gar nicht. Ich hole dich morgen nach der Arbeit hier ab“, sagte Greg. Sein Mund war immer noch zu diesem widerlichen Lächeln verzogen, und sein Blick war kalt und grimmig. „Und zieh dir was Hübsches an!“

Reglos vor Schock sah Jane zu, wie Greg sich umdrehte und gelassen zum Ausgang spazierte. Hatte er das gerade wirklich gesagt?

„Oh“, fügte Greg hinzu und hielt für einen Moment inne. „Dieser Typ, mit dem du neulich unterwegs warst … William Chase? Ich will nicht, dass du dich jemals wieder mit ihm triffst. Ich will nicht, dass du überhaupt jemals wieder irgendjemanden triffst, bis ich es dir ausdrücklich erlaube.“

Er versuchte, die Tür hinter sich zuzuknallen, aber die Scharniere waren so weich eingestellt, dass sie trotzdem leise ins Schloss fiel. Wie passend für ihre Situation. Denn gerade war ganz sang- und klanglos alles zunichtegemacht worden, wofür Jane in den letzten zehn Jahren gelebt hatte.

Sie ließ sich in ihren Stuhl sinken und schloss die Augen.

Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte ihre Vergangenheit so lange geheim gehalten, dass sie nicht einmal mehr wusste, wie sie darüber sprechen sollte. Erst jetzt begriff sie, wie groß ihr Vertrauen in Chase war. Es gefiel ihr nicht, dass er über sie Bescheid wusste – nicht im Geringsten. Aber sie hatte niemals ernsthaft befürchtet, dass er irgendetwas davon ausplaudern würde.

Greg hingegen … Sie hatte ihn gekränkt. Erst, indem sie ihn verlassen hatte. Dann, indem sie ihm eröffnet hatte, dass sie ihn die ganze Zeit über belogen hatte. Sie hatte ihn verletzt und benutzt, und jetzt war er wütend.

Es war, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen, um ihr Geheimnis ans Tageslicht zu zerren.

Sie starrte auf die Tür. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand tickte viel zu laut, und der Sekundenzeiger rückte erbarmungslos weiter in Richtung Katastrophe. Was zum Teufel sollte sie tun? Als sie kurz davor war, sich von der Panik überwältigen zu lassen, ploppte mit einem leisen Bimmeln ein Erinnerungsfenster auf ihrem Bildschirm auf. Das Meeting mit dem Buchhalter. Es war höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen.

Finster starrte Jane den Monitor an. In ihrer augenblicklichen Verfassung kam ihr der Termin vor wie ein unüberwindliches Hindernis. Doch je länger sie das Erinnerungsfenster ansah, desto mehr normalisierte sich ihr Puls. Sie konnte das schaffen! Es war nur ein Termin beim Buchhalter. Sie war Jane Morgan, verdammt noch mal, die graue Eminenz von Jennings Architecture! Sie war gut in ihrem Job! Sie konnte das. Und sie konnte sich beruhigen und in Ruhe nachdenken.

Jane musste eine wichtige Entscheidung treffen. Wollte sie weiter vor ihrer Vergangenheit davonlaufen? Oder würde sie ihr ins Gesicht blicken?

Im Augenblick hatte sie keine Ahnung. Also würde sie mit einer einfachen Entscheidung anfangen. Sie packte die Unterlagen zusammen, schulterte ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zum Buchhalter. Es war ja nicht so, dass ihre Vergangenheit inzwischen weglaufen würde.