Keine Frage: Ihr wahres Leben war total beschissen. Und ihr Bruder war ein Arschloch. Der lieblose, vulgäre Gedanke ließ sie innerlich zusammenzucken. Ihr Bruder war so ein süßes Kind gewesen. Zu süß vielleicht. Sie hatte zahllose Stunden damit verbracht, auf ihn aufzupassen. Und ihre Mutter hatte ihm einfach alles durchgehen lassen und all seine kleinen und großen Sünden vor seinem Vater verheimlicht.
Die Polizei fand ihn allerdings weniger süß. Er war nicht freigelassen worden. Und zu allem Überfluss durfte Jane ihren Samstag jetzt auch noch damit verbringen, bei ihren Eltern herumzusitzen und dem Sheriff dabei zuzusehen, wie er das Haus durchsuchte.
Sie spähte vorsichtig zu ihrem Stiefvater hinüber, der am Küchentresen lehnte und so finster dreinblickte, als würde er sich wünschen, ganz woanders zu Hause zu sein.
Wenn ihre Mutter von Anfang an Mac alles erzählt hätte, wäre Jessie niemals mit seinen kleinen Ladendiebstählen davongekommen, oder den Lügengeschichten, die er in der Schule herumerzählt hatte, wenn er seine Hausaufgaben wieder mal nicht gemacht hatte.
Aber ihre Mom hatte ein Herz für Bad Boys. Und ihre unerschütterliche Liebe hatte Jessie zu einem Taugenichts gemacht, der sich einbildete, mit ein bisschen Charme jedes Problem aus der Welt schaffen zu können. Wäre da nicht sein ziemlich einschüchternder Vater gewesen, hätte Jessie vermutlich noch ganz andere Sachen auf dem Kerbholz gehabt. Dank Mac tat er zumindest so, als würde er versuchen, einen Job zu finden.
Jetzt aber war das Haus voller Deputys, und gleich würden sie sich Jessies Zimmer und den Rest des Kellers vornehmen. Zum Glück durften sie laut Durchsuchungsbefehl nur diesen Teil des Hauses durchstöbern, was Janes Stiefvater hoffentlich davor bewahren würde, komplett wahnsinnig zu werden.
Mac verschränkte die Arme. Sein Gesicht war puterrot, und seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verzogen. Sobald die Cops aufgetaucht waren, hatte er sich in der Küche verkrochen, wo er alleine war und nicht Gefahr lief, seine Wut an irgendjemandem auszulassen, der es nicht verdient hatte. Jane wusste diese Geste zu schätzen. Mac war ein Riese von einem Mann und konnte einem ganz schön Angst einjagen. Sein Temperament war legendär. Aber die letzten zwanzig Jahre über hatte er sich redlich und erfolgreich bemüht, nicht im Knast zu landen. Und obwohl die Wut, die er verströmte, fast greifbar war, gab er keinen Pieps von sich.
Ihre Mom dagegen weinte laut und krampfte ihre Hände um den Durchsuchungsbefehl. „Aber er hat doch gar nichts getan“, schluchzte sie immer wieder aus tiefster Überzeugung. Und tatsächlich hatte sie keinen blassen Schimmer, warum die Cops hier waren.
Die Beamten kamen vom Department des County Sheriffs, aber der Durchsuchungsbefehl war in Aspen ausgestellt worden. Wenigstens wussten jetzt alle, wo sich Jessie im Augenblick aufhielt – nämlich nur ein paar Meter von Janes Wohnung entfernt.
„Okay“, sagte Jane zu dem weiblichen Deputy. Die junge Frau stand bei ihnen in der Küche und achtete darauf, dass kein Beweismaterial vernichtet wurde. Ihrer Mutter war ebenfalls ein persönlicher „Leibwächter“ zugeteilt worden, und ein hünenhafter Deputy bewachte den Kücheneingang und warf immer wieder vorsichtige Blicke in Macs Richtung. „Könnten Sie mir wenigstens verraten, was meinem Bruder vorgeworfen wird?“
„Er wurde vom Aspen Police Department verhaftet, Ma’am. Sie müssen dort nachfragen.“
„Natürlich“, murmelte Jane. „Mom, lass mich mal den Durchsuchungsbefehl sehen!“
Aus dem Keller war lautes Krachen zu hören, und Jane warf Mac einen besorgten Blick zu. Doch der atmete nur tief durch und starrte stur die Wand an. Ihre Mutter schluchzte weiter.
„Mom, reiß dich bitte zusammen, ja? Dad ist sowieso schon wütend.“
Ihre Mutter nickte und schniefte. Wenigstens versuchte sie, sich in den Griff zu bekommen.
„Ich lese jetzt den Durchsuchungsbefehl durch, und dann versuche ich, jemanden bei der Polizei in Aspen zu erreichen, okay? Jetzt, wo wir wissen, wo er ist, dürfte es auch kein Problem mehr sein herauszufinden, was sie ihm vorwerfen. Die Akte ist öffentlich einsehbar, und die Kaution wurde bestimmt auch schon festgesetzt.“
„Ich weiß.“ Ihre Mutter seufzte. Natürlich wusste sie Bescheid. Was das Justizsystem betraf, war diese Familie mit allen Wassern gewaschen.
Der Durchsuchungsbefehl war ziemlich erhellend. Die Polizei suchte nach Diebesgut, das mit einer laufenden Ermittlung in Zusammenhang stand. Auf der Liste standen die Besitztümer von zwei Frauen: Handtaschen, Kreditkarten, Bargeld und Ausweispapiere.
Mist. Eine laufende Ermittlung. Das war gar nicht gut. Jane warf einen Blick auf die angespannten Schultern ihres Stiefvaters. Mac würde außer sich sein vor Wut.
„Wissen Sie etwas über die Diebstahlermittlung?“, fragte Jane die Beamtin.
Die Frau warf ihr einen teilnahmslosen Blick zu. „Bitte kontaktieren Sie das Aspen PD, Ma’am.“
„Ja, verstanden. Danke.“
Sie ging ein letztes Mal die Informationen auf dem Durchsuchungsbefehl durch, dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist doch einfach lächerlich“, murmelte sie. „Jessie ist doch kein Dieb.“
Wie auf Abruf erschien ein Deputy in der Kellertür. Er hatte eine große Beweismitteltüte bei sich. Und die Tüte war nicht leer.
Mac presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Ruf in Aspen an“, knurrte er. Der Riese an der Küchentür verlagerte nervös das Gewicht. Durch Macs braunes Haar zogen sich zwar schon die ersten grauen Strähnen, aber er sah immer noch extrem gefährlich aus. Er warf dem Deputy bedrohliche Blicke zu, und seine riesigen Oberarme verrieten, dass er seiner Wut durchaus auch körperlich Ausdruck verleihen konnte. Die schwarzblauen Tattoos auf seinen Armen waren eine zusätzliche Warnung, eine, die jeder Cop sofort verstand. Denn sie verrieten, dass dieser Mann einen guten Teil seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte.
Jane rief bei der Auskunft an und verkroch sich an den Tisch in der Küchenecke, um wenigstens ein bisschen Ruhe zu haben. Die schwarz lackierte Tischplatte war so auf Hochglanz poliert, dass sich Janes verängstigte Miene darin spiegelte.
In den letzten paar Stunden war ihr jeder Funke Abenteuerlust vergangen. Jetzt wirkte sie wieder blass und durchschnittlich. Um ihren Mund lag ein verkniffener Zug, und auf ihrer Stirn waren Sorgenfalten erschienen. Sie sah aus wie eine Frau, die sich nicht mal einen üppigen Nachtisch gönnte. Geschweige denn ein wildes Tier von einem Mann.
Sie erreichte die Telefonzentrale des Polizeireviers und wurde von dort aus zweimal weiterverbunden. Jane beobachtete, wie ihr Gesichtsausdruck von Sekunde zu Sekunde angespannter wurde. Während sie redete, verwandelte sich die Anspannung in Angst.
Als sie auflegte, sah sie sich selbst durch einen Schleier aus Tränen der Wut.
„Mom“, flüsterte sie und drehte sich um. Niemand hatte sie gehört. Ein weiterer Deputy kam durch die Kellertür, um Beweismaterial in den Polizeiautos vor der Haustür zu verstauen. „Dad“, sagte sie.
Mac hob den Kopf und sah sie an.
Sie schluckte schwer und hob in einer hilflosen Geste des Entsetzens das Telefon hoch.
„Was ist los?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, schluckte erneut, räusperte sich so lange, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Jessie … ich habe mit einem Detective in Aspen sprechen können. Jessie wurde wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten. Als sie ihn durchsucht haben, haben sie Marihuana gefunden und ihn mitgenommen. Dann wurde sein Auto gefilzt. Sie haben gestohlene Kreditkarten gefunden, mehrere sogar. Er wird wegen schweren Diebstahls angezeigt.“
Ihre Mutter gab ein ersticktes Stöhnen von sich. Mac spuckte einen Fluch aus. Alle drei Deputys im Raum ließen gleichzeitig ihre Hände in Richtung Waffe gleiten.
Fast zwanzig Jahre lang hatte Jane jeden Kontakt mit Gefängnissen vermieden. Sie hatte sich sogar gescheut, Freunde im Krankenhaus zu besuchen, weil die hässlichen Linoleumböden und die endlosen Gänge sie unwillkürlich an Polizeiuniformen und Handschellen denken ließen. Sie war sich nicht ganz sicher, wie viele Stunden ihrer Kindheit sie in schäbigen Besuchsräumen verbracht hatte. Aber es waren eindeutig viel zu viele gewesen.
Jane Morgans zwanzig Jahre lange Atempause war vorbei. Sie war auf dem direktenWeg zurück dahin, wo sie hergekommen war.
Es roch nach Zement. Nicht der schlechteste Geruch, wie sie fand. Jedenfalls solange man nicht jahrelang ununterbrochen davon umgeben war. Kein frisch gemähtes Gras, keine Blumen, kein Plätzchenduft. Keine Alltagsgerüche. Nicht mal Abgasgestank oder frisch gehacktes Holz. Wenigstens konnten sie im Winter, wenn man sie auf den Hof hinausschickte, den Schnee riechen.
Das letzte Mal, als sie in einem Besuchsraum gewesen war, war sie noch zu jung gewesen, um zu begreifen, wie entsetzlich die Atmosphäre wirklich war. Damals hatten ihre Sorgen sich auf die kratzige Spitzenborte an ihrem neuen Kleid beschränkt und das gruselige Aussehen des neusten Schwarms ihrer Mutter.
Aber jetzt legte sich die Traurigkeit dieses Ortes um sie wie ein erstickend dicker Mantel. Das Aspen Police Department war sauber und modern, aber das änderte nichts an der brutalen Wahrheit: Einige der Menschen hier würden nach einigen Stunden hinter Gittern entlassen werden. Andere würden ein paar Jahre lang bleiben und ihre Strafen für kleinere Vergehen absitzen. Für einige wenige aber, die schwere Verbrechen begangen hatten, war das hier nur eine Station auf dem Weg ins Staatsgefängnis, wo es ganz anders zuging als in den kleinen Provinzkittchen.
Bitte lass Jessie nicht zu ihnen gehören!
Ein lautes Scheppern schallte durch den kleinen Besuchsraum, und Jane blickte auf. Jessie kam in einem orangefarbenen Overall angeschlurft. In seinem Blick flackerte Angst. „Hi, Jane“, formte er mit den Lippen, während er sich setzte. „Is Dad gar nich hier?“, fragte er, sobald Jane auf der anderen Seite der Glasscheibe den Hörer abgenommen hatte.
„Nein, nur ich.“
„Okay, auch gut.“
„Jessie, was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?“
„Keine Ahnung.“ Sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn, als er den Kopf schüttelte.
„Wenn sie Diebesgut in Dads Haus gefunden haben … Gott, Jessie, er ist ein verurteilter Straftäter, du Idiot!“
„Ich hab das für keine große Sache gehalten. Die haben mich nur wegen der Geschwindigkeit angehalten, und dann haben sie halt …“ Sein Blick zuckte zu allen Seiten, dann beugte er sich verschwörerisch nach vorne, so als hätte das etwas daran geändert, dass sie von einer dicken Glasscheibe getrennt wurden. „Sie haben ein bisschen Gras und ein paar Kreditkarten gefunden, okay?“
„Und zwar nicht deine Karten, nehme ich mal an.“
„Nee“, erwiderte Jessie mürrisch.
„Und wenn sie jetzt glauben, dass Dad Ausweispapiere verscherbelt?“
„Aber so is das nich, okay? Ich hab einfach nur im Ryders ein paar Handtaschen mitgehen lassen.“
„Du bist ein egoistischer Vollidiot.“
Jessie erstarrte. „Tut mir leid. Ich hab Bargeld gebraucht, okay?“
„Und ein paar Kreditkarten.“
Er zuckte die Achseln. Den gleichen Gesichtsausdruck hatte er auch gehabt, als er in der sechsten Klasse eine Woche lang vom Unterricht ausgeschlossen worden war: eine Mischung aus Bockigkeit und Angst.
„Warum hast du uns nicht angerufen? Die Kaution ist doch schon am Freitag festgesetzt worden!“
„Das wär doch sinnlos gewesen“, brummte er in sich hinein. „Sechzigtausend sind viel zu viel, und Dad hätte so oder so nich gezahlt.“
Gut, da hatte er vermutlich recht. Und Jane hätte genauso wenig für ihren Bruder gebürgt. Jedenfalls nicht, solange er diese Scheiß-drauf-Haltung an den Tag legte und man nicht sicher sein konnte, ob er sich nicht am nächsten Tag für einen langen Urlaub nach Mexiko absetzte.
„Gibt es sonst noch was, das du mir sagen möchtest? Irgendwas, was sie noch in deinem Zimmer gefunden haben könnten?“
„Nein, nichts. Sie fragen mich immer wieder nach so ’nem Mädchen, aber ich hab noch nie von ihr gehört.“
Jane stellten sich die Nackenhaare auf. „Was für ein Mädchen?“
„Michelle irgendwas. Der hat wohl einer die Handtasche geklaut.“
„Und warst du dieser Jemand?“
„Keine Ahnung. Vielleicht.“
Jane verlor ihr letztes Quäntchen Geduld. „Also, wie viele Handtaschen hast du mitgehen lassen, Jessie?“
„Keine Ahnung. Fünfzehn vielleicht. Im Ryders stellen die Mädchen die immer auf den Boden, wenn sie tanzen wollen. Die lassen die einfach da stehen. Voll dämlich, echt.“
Fünfzehn? Der Inhalt von fünfzehn Handtaschen konnte locker über tausend Dollar wert sein. Und damit handelte es sich um eine schwere Straftat. „Genau, sie sind dämlich. Hat man dir schon einen Anwalt zugeteilt?“
„Ich musste da schon so Formulare ausfüllen. Für den Pflichtverteidiger.“
„Du redest nicht mit den Cops, wenn er nicht dabei ist. Und ich tue mein Bestes, um bis Montag einen ordentlichen Anwalt für dich aufzutreiben, okay? Und dann versuche ich, mehr über diese Michelle rauszufinden. Bis dahin sagst du gar nichts, verstanden?“
„Alles klar.“ Die Einminutenglocke klingelte, und Jessie verzog das Gesicht. „Sag Mom und Dad, dass es mir leidtut. Bitte!“
„Mach ich. Und du solltest mal anfangen zu überlegen, was du machen willst, wenn du hier rauskommst. Dad lässt dich garantiert nicht wieder ins Haus zurück.“
Er nickte, und seine Nasenspitze verfärbte sich rot, so als würde er mit den Tränen kämpfen. „Tut mir leid, Jane. Ehrlich. Ich wollte doch nich …“ Am entgegengesetzten Ende des Raums setzte sich ein Cop in Bewegung.
„Ich hab dich lieb, Jessie.“
„Ich dich auch.“ Der Officer nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn auf die Gabel zurück. Jessies Augen glänzten feucht, aber als der Cop ihn am Ellenbogen packte und hochzerrte, setzte er ein tapferes schiefes Lächeln auf.
Jane suchte den Blick des Polizisten, aber der Mann beachtete sie gar nicht. Hier drinnen war sie ein Niemand. Menschlicher Abschaum mit krimineller Verwandtschaft. Auch daran konnte sie sich jetzt wieder erinnern: wie die Beamten durch sie und ihre Mutter hindurchgesehen hatten. Oder – und das war noch schlimmer gewesen – mit angewiderter Miene zu ihnen herübergestarrt und die Köpfe geschüttelt hatten.
Jane legte den Hörer auf und stand wie betäubt auf. Es war Samstagnachmittag, und sie musste dringend einen guten Anwalt für Jessie finden. Ihre Mom würde das nicht hinkriegen. Immer wenn es Ärger gab, steckte sie einfach den Kopf in den Sand. Und ihrem Stiefvater mangelte es an dem nötigen Charme, um einen Anwalt zu bezirzen, bis er sich zu einem Wochenend-Noteinsatz bereit erklärte. Mac war stark und zuverlässig und praktisch begabt. Aber am Telefon war er die reinste Katastrophe.
Jane war diejenige, die in Aspen lebte. Sie war diejenige, die mit einem Mann zusammen gewesen war, der im Büro der Staatsanwaltschaft arbeitete.
In den letzten Jahren war sie so gut wie nie zu Hause bei ihren Eltern gewesen. Sie hatte versucht, sich so weit wie möglich von ihrer Familie zu distanzieren, ohne sie ganz aufgeben zu müssen. Wenn sie mehr Zeit mit Jessie verbracht hätte, wäre vielleicht kein Dieb aus ihm geworden. Wenn sie ihn nicht im Stich gelassen hätte, wäre er vielleicht nicht auf den schwachsinnigen Gedanken gekommen, dass es in Ordnung war, Geld von leichtsinnigen Mädchen zu stehlen.
Und was auch immer aus ihm geworden war: Er war immer noch ihr Bruder. Selbst wenn sie nicht vorhatte, ihn jemals ihren Freunden vorzustellen. Er war ihr Bruder, und trotz allem wusste sie, dass er ein gutes Herz hatte.
Sie würde alles tun, um einen Weg zu finden, ihm zu helfen.