41
Wilde Panik erfasst sie, legt sich wie ein Reif um
ihre Brust und treibt ihr den Schweiß auf die Stirn.
Sie zittert am ganzen Leib, ihr Atem geht
stoßweise, und sie muss sich zusammenreißen, um nicht zu
hyperventilieren.
Ruhig, ganz ruhig, sagt sie sich, er darf mir
nichts anmerken. Wenn ich es geschickt anstelle, bin ich in ein
paar Minuten draußen.
In ihrem aufgelösten Zustand kann sie unmöglich ins
Wohnzimmer gehen. Er würde mit einem Blick sehen, dass sie völlig
durcheinander ist. Aber hier im Flur kann sie auch nicht bleiben
…
Senta ringt noch um Fassung, als zu ihrem Entsetzen
die Tür ganz aufgeht und Mick Kreuger vor ihr steht.
Seltsam, dass sie sich an den Namen erinnert,
obwohl sie die Fahndungsmeldung nur flüchtig verfolgt hat. Hätte
sie es nur getan, dann wüsste sie wenigstens, was für ein Mensch da
vor ihr steht.
Nervös wischt sie die schweißnassen Hände am Rock
ab.
»Alles klar?« Kreuger mustert sie
argwöhnisch.
Senta lächelt matt. »Zuckerschock«, sagt sie. »Ich
hätte vor der Fahrt etwas essen müssen, aber ich habe das
Mittagessen ausfallen lassen, das rächt sich jetzt.«
Nimmt er ihr diese Ausrede ab? Jedenfalls behält er
sie scharf im Auge.
»Ich muss allmählich los. Ich halte Sie schon viel
zu lange auf.« Um ihre wachsende Angst zu kaschieren, geht sie zur
Haustür und drückt die Klinke. »Oh, abgeschlossen«, sagt sie
scheinbar leichthin. »Na gut, dann gehe ich wieder über die
Terrasse. Ich finde den Weg schon allein …«
Kreuger lehnt am Türrahmen und lächelt süffisant.
Eine innere Stimme treibt Senta zur Eile an, sagt ihr, sie dürfe
keine Sekunde länger zögern.
Entschlossen geht sie an ihm vorbei und streift ihn
versehentlich. Im Wohnzimmer würde sie am liebsten losrennen, aber
sie schafft es, sich zu beherrschen.
Ich muss mich ganz normal geben, denkt sie, mich
freundlich verabschieden, sonst schöpft er Verdacht.
Ihre Absätze klackern über den Fliesenboden auf die
Küche zu. Auf halbem Weg dreht sie sich um und sagt: »Danke, dass
Sie sich Zeit für mich genommen haben. Es wäre nett, wenn Ihre Frau
mich anrufen könnte.«
Ihr wird bewusst, dass sie ihm gar keine
Telefonnummer gegeben hat, sie tut einfach, als würde sie es
vergessen. Er sagt kein Wort, lehnt nach wie vor grinsend am
Türrahmen und fixiert sie.
Bei Senta schrillen sämtliche Alarmglocken, sie
läuft in die Küche, zur Hintertür.
Sie ist abgeschlossen. Eine namenlose Angst erfasst
sie. Sie rüttelt und reißt an der Klinke, packt dann einen Stuhl
und versucht, damit die Scheibe einzuschlagen, aber das Glas hält
stand.
Es ist zu spät, sie spürt und sieht es. Kreuger
steht neben ihr und hat etwas in der Hand, das ihr kalte Schauder
über den Rücken jagt.
Mit dem Mut der Verzweiflung holt sie mit dem Stuhl
aus. Er wehrt sie lässig mit einem Arm ab, entwindet ihr den Stuhl
und schleudert ihn beiseite.
Das Stromkabel liegt locker in seiner Hand. Senta
kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, ihr Gehirn ist wie
gelähmt, nicht aber ihr Selbsterhaltungstrieb.
Sie spannt sämtliche Muskeln an wie eine in die
Enge getriebene Katze, die zum Sprung ansetzt, gleichzeitig spürt
sie, wie ihre Angst in Wut umschlägt.
Mit einem schrillen Schrei stürzt sie sich auf
ihn.
Weil er auf ihren Angriff nicht gefasst war, prallt
er gegen die Spüle. Sie nutzt den Überraschungseffekt, zerkratzt
ihm das Gesicht und rammt ihm kraftvoll das Knie in den Schritt.
Fluchend krümmt er sich zusammen.
Senta rennt ins Wohnzimmer und sieht sich panisch
um. Da die Türen verschlossen sind, bleibt ihr nur die Flucht nach
oben, dort aber läuft sie Gefahr, in der Falle zu sitzen. Also muss
sie das große Fenster einschlagen …
Ihr Blick fällt auf zwei Tischlampen mit
gusseisernem Fuß. Sekunden später knallt eine davon ans Fenster,
die
Scheibe birst mit einem Knall. Senta ergreift die zweite Lampe und
beginnt, die Glaszacken wegzuschlagen, um einen Durchgang zu
schaffen.
Aus den Augenwinkeln sieht sie Kreuger und dreht
sich um, doch diesmal lässt er sich nicht überrumpeln. Als sie die
Lampe hebt, um zuzuschlagen, packt er ihren Arm und dreht ihn auf
den Rücken.
Mit einem Schmerzensschrei lässt sie die Lampe los,
im nächsten Moment spürt sie das Stromkabel am Hals. Unwillkürlich
fasst sie sich an die Kehle, um es wegzureißen, aber Kreuger zieht
fest zu. Sie kann nichts mehr gegen ihn ausrichten, bringt nur noch
erstickte Laute hervor. Er macht ein paar Schritte rückwärts,
sodass sie gezwungen ist, ihm zu folgen.
»Hast du etwa gedacht, du kommst hier lebend
raus?«, zischt er ihr zu. »Eigentlich wollte ich es schnell und
schmerzlos machen, aber vielleicht sollte ich mir Zeit
nehmen.«
Er zieht das Kabel fester um ihren Hals, und Senta
bekommt kaum noch Luft. Ihre Augen quellen vor, der Körper zuckt,
und sie sieht helle Flecken vor sich.
Schon einmal hat sie sich so gefühlt und mit dem
Leben abgeschlossen. Ganz plötzlich ist die Erinnerung wieder da,
wenn auch nur dieser eine Moment. Hätte sie einen Nothammer gehabt,
wäre es nicht so weit gekommen. Sie hätte die Scheibe damit
einschlagen können und wäre frei gewesen.
Grelle Farben und seltsame Formen tanzen vor ihren
Augen, dazwischen leuchtet knallgelb der Nothammer auf.
Während sie mit einer Hand vergeblich weiter an
dem Kabel zerrt, tastet sie mit der anderen nach der Jackentasche
und greift hinein. Sofort spürt sie den schmalen Hammer mit der
Stahlspitze. Sie nimmt ihn aus der Tasche, holt aus und schwingt
ihn nach unten, zwischen Kreugers Beine.
Sein Aufschrei verrät, dass sie getroffen
hat.
Das Kabel lockert sich. Senta schiebt rasch die
Hand darunter, und bevor Kreuger reagieren kann, schwingt sie den
Hammer nach hinten.
Ein Volltreffer ins Gesicht!
Er lässt das Kabel los, und Senta reißt es sich vom
Hals.
Aus einiger Entfernung beobachtet sie ihn. Er hat
die Hand ans Auge gedrückt und wimmert wie ein kleines Kind.
Senta keucht, den Hammer drohend im Anschlag. Der
Schweiß läuft ihr in die Augen.
Langsam geht Kreuger in die Knie und presst beide
Hände an das Auge. Blut rinnt zwischen den Fingern hindurch.
Senta zögert. Noch vor wenigen Minuten hat sie in
Notwehr gehandelt, aber einen verletzten Menschen gezielt
totschlagen, das bringt sie einfach nicht über sich.
Den Tränen nahe, nimmt sie ihr Handy, wählt den
Notruf und gibt rasch durch, was passiert ist und wo sie sich
befindet.
»Wir kommen sofort!«, sagt die Frau am anderen
Ende.
Senta sieht, dass Kreuger halb gebückt auf sie
zukommt. Blitzschnell hebt sie ihre Waffe.
»Bleib mir vom Leib, oder ich schlag dir den
Schädel ein!«, schreit sie. »Ich habe die Polizei gerufen, sie ist
gleich da!«
Langsam richtet er sich auf, die Hand nach wie vor
am Auge. »Elendes Miststück! Glaubst du etwa, du kommst so davon?
Ich werd dich …« Mit einem Wutschrei stürzt er sich auf sie, doch
er kann seine Bewegungen nicht mehr richtig koordinieren. Senta
tritt schnell zur Seite, und er knallt mit dem Kopf an den Rahmen
der Küchentür.
Es kracht so laut, dass sie glaubt, er habe sich
den Schädel gebrochen. Langsam sinkt er zu Boden.
Reglos und mit geschlossenen Augen liegt er da,
dennoch traut Senta der Sache nicht. Zitternd geht sie in einem
weiten Bogen um ihn herum und betrachtet ihn argwöhnisch von allen
Seiten.
Wenn er sich bewegt, muss sie ihn erneut k. o.
schlagen. Die Polizei ist unterwegs, in zehn Minuten, höchstens
einer Viertelstunde wird sie da sein – bis dahin muss sie
durchhalten. Dann ist der Albtraum vorbei …
Plötzlich hört sie etwas und spitzt die Ohren.
Irgendwo im Haus hat es geklopft. Das Geräusch ertönt in kurzen
Abständen immer wieder. Irritiert sieht sie sich um. Ist hier etwa
noch jemand?
Ihr Blick fällt auf ein Foto von der Frau und dem
Mädchen, und mit einem Mal weiß sie, warum sie dieses Haus immer
wieder vor sich gesehen hat.