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Das Erste, das sie bewusst wahrnimmt, ist ein
Geruch. Es riecht nach Putzmitteln mit einer Spur Alkohol. Als
Nächstes wird ihr klar, dass sie keine Ahnung hat, wo sie sich
befindet.
Um sie herum ist es stockfinster. Eine absolute
Finsternis ohne jeden Grauton. Sie liegt auf etwas Weichem, Warmem,
einem Bett vielleicht. Ja, es muss ein Bett sein. Ihr
eigenes?
Sie stellt sich ihr Schlafzimmer vor und sieht
einen Raum mit weißem Holzboden, apfelgrünen Gardinen und gelber
Bettwäsche, so hell und duftig, dass sie sich nun ganz sicher ist,
nicht dort zu sein.
Um sich in der Dunkelheit umzusehen, versucht sie,
den Kopf zu drehen, aber das fällt schwer. Mehr noch, es geht
überhaupt nicht. Und warum sieht sie nichts? So dunkel ist es nicht
einmal mitten in der Nacht, selbst dann ist immer noch etwas zu
erkennen. Hier nicht, sie sieht kein Möbelstück, keine Tür,
nichts.
Langsam wird sie unruhig. Sie bemüht sich, ganz
ruhig durchzuatmen, aber das ungute Gefühl lässt sich kaum
unterdrücken. Als sie den Mund aufmacht, um zu rufen, kommt kein
Laut aus ihrer Kehle.
Angst überwältigt sie. Mit weit aufgerissenen Augen
starrt sie in das undurchdringliche Dunkel und überlegt fieberhaft,
was um Himmels willen passiert sein könnte.
Wie aus weiter Ferne hört sie eine Stimme. Sie
klingt nicht vertraut, und es sind keine Worte zu verstehen, aber
wenigstens bietet sie Halt in der Finsternis um sie herum. Es ist
eine Männerstimme, die leise und beruhigend auf sie einredet. Mit
allen Sinnen konzentriert sie sich darauf.
Jemand muss Licht angemacht haben, denn sie sieht
einen grauen Nebel, in dem sich dunkle Schatten bewegen.
»Wo bin ich?«, sagt sie und merkt, dass sie wieder
keinen Laut hervorbringt.
Der Mann redet mir ihr, doch sie versteht nicht,
was er sagt. Sie lauscht dem Klang, den unverständlichen Sätzen,
die wie sanfte Wellen heranrauschen. Es beruhigt sie, jemanden in
ihrer Nähe zu haben, nicht ganz allein zu sein.
Im nächsten Moment gleitet sie weg, sinkt in eine
pechschwarze Tiefe, immer schneller, wie im freien Fall.
Zeit ist vergangen, ohne dass sie sagen könnte,
wie viel. Zuweilen ist alles um sie herum tiefschwarz, dann meint
sie, wie durch einen dünnen Schleier undeutliche Umrisse
wahrzunehmen. Oft schläft sie, falls man
ihren Zustand so nennen kann, und wenn sie wieder emportreibt,
liegt sie mit geschlossenen Augen, aber hellwach da. Sie kann sich
nicht rühren, in ihrem Kopf jedoch überschlagen sich die
Gedanken.
Sie nimmt Veränderungen wahr. Zwischendurch scheint
ihr grelles Licht in die Augen, auch wenn sie nach wie vor nichts
sieht. Immer häufiger sind Stimmen zu hören, und hin und wieder
meint sie, ein Wort zu verstehen. Man spricht über sie, wird ihr
klar, und sie schließt daraus, dass sie in einem Krankenhaus sein
muss. Sie spitzt die Ohren. Ja, in unmittelbarer Nähe erklingt ein
Piepsen wie von einem medizinischen Gerät. Und der routiniert-feste
Griff, mit dem sie ab und zu umgedreht wird, das muss eine
Krankenschwester sein …
Irgendwann spürt sie, dass jemand sie wäscht, hört
Worte in munterem Plauderton, wie man mit senilen alten Menschen
spricht. Sie gibt sich größte Mühe, etwas zu verstehen, erkennt
aber nur Bruchstücke.
»… gut geschlafen …« »… mal sehen …«, »… gehe
wieder …«
Sie liegt also im Krankenhaus. Warum, ist ihr
schleierhaft, aber das wird sich noch herausstellen. Schließlich
kann sie klar und logisch denken. Auch wenn ihr Gedächtnis momentan
beeinträchtigt ist, ihr Denkvermögen funktioniert
einwandfrei.
Sie konzentriert sich eine Weile auf die Umgebung,
dann merkt sie, wie ihr Geist allmählich ermattet und sie wieder in
das Niemandsland zurückkehrt.
Es ist so angenehm, sich treiben zu lassen, einfach
vor sich hinzudämmern. Die Dunkelheit ist nicht mehr
so tief wie zuvor, nach und nach weicht sie und lässt Farben zu:
Blau, ein intensives Blau, wie das sonnendurchflutete Meer. Ruhig
und friedlich ist es in dieser Unterwasserwelt, wäre da nicht immer
wieder ein grelles Licht, das unversehens aufzuckt wie ein Blitz
vor dem Donnerschlag. Jedes Mal spannt sie sich innerlich an, denn
sie weiß, was folgt: eine heftige, krampfartige
Kopfschmerzattacke.
Wenn der Sturm vorüber ist, fühlt sie sich ganz
leicht und frisch, so als wäre ihr Kopf gründlich durchgefegt
worden, um Platz für die Erinnerungen zu schaffen, die langsam
hochkommen.