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Eigentlich hatte sie es sich anders vorgestellt,
wieder zu Hause zu sein. Ruhelos geht Senta mit einem Becher Kaffee
in der Hand im Wohnzimmer auf und ab. Ein langer Nachmittag liegt
vor ihr, viele Stunden, in denen sie mehr als genug Zeit zum
Nachdenken hat. Am liebsten würde sie sich sofort wieder in die
Arbeit stürzen, um nicht tatenlos zu Hause zu sitzen. Die Arbeit
würde sie auch davon abhalten, weiter über den Unfall
nachzugrübeln, darüber, wie nahe sie dem Tod war. Es tut ihr nicht
gut, ständig daran zu denken.
Um sich ein wenig Zerstreuung zu verschaffen, setzt
sie sich ans Klavier und stellt den Kaffeebecher ab. Lustlos
klimpert sie mit einer Hand die ersten Takte von Für Elise,
kommt aber bald ins Stocken. Vor ein paar Jahren konnte sie das
Stück noch problemlos auswendig.
Ihr Blick fällt auf die silbergerahmten Fotos auf
dem Klavier. Bilder von den Kindern, als sie noch klein und
niedlich waren.
Sehnsucht nach früher überkommt sie, obwohl sie
genau weiß, dass sie sich damit etwas vormacht: Zu der vermeintlich
sorglosen Vergangenheit gehören auch viele schlaflose Nächte und
die Tatsache, dass sie kaum Zeit für sich selbst hatte.
Es ist gut so, wie es ist, denkt sie. Sie kann mit
ihrem Leben zufrieden sein. Ja, sie freut sich sogar schon auf die
Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind und sie mit Freek endlich
die lang ersehnte Weltreise machen kann.
Unwillkürlich wandern ihre Gedanken zu Alexander,
und sie stellt fest, dass er ihr nicht fehlt. Was sie vor Kurzem
noch als spannende Bereicherung ihres Daseins empfunden hat,
scheint nun in erster Linie ein Problem zu sein, das es zu lösen
gilt. Wie konnte sie nur glauben, ihr Leben sei langweilig, ihre
Arbeit und die Familie reichten nicht aus, um sie glücklich zu
machen?
Senta klimpert noch ein wenig auf den Tasten herum.
Den ganzen Vormittag über hat Freek ihr Gesellschaft geleistet. Bei
jedem Schritt, den sie machte, jedem Gähnen und noch so kleinen
Geräusch war er zur Stelle, als könnte sie jederzeit ohnmächtig
werden. Er befürchtet immer noch irgendwelche schlimmen
Nachwirkungen.
Der Hilferuf aus der Zeitungsredaktion vor einer
Stunde brachte ihn in einen Zwiespalt.
»Geh ruhig, ich komme schon zurecht«, hatte Senta
ihm zugeredet. »Und falls ich mit Schaum vor dem Mund
zusammenbreche, rufe ich an.«
Freek hatte das gar nicht witzig gefunden. »Hast du
die Nummer vom Notarzt in deinem Handy gespeichert?
«, wollte er wissen. »Versprich mir, dass du es die ganze Zeit bei
dir trägst, lass es auf keinen Fall irgendwo liegen!«
»Wird gemacht. Tschüs, Liebster!« Senta küsste
ihren Mann und winkte ihm vom Fenster aus noch einmal zu.
Als er davongefahren war, blieb sie noch eine Weile
stehen. Die Kinder waren in der Schule, sie genoss die wohltuende
Ruhe im Haus.
Aber schon bald ging ihr die Stille auf die
Nerven.
Senta greift nach dem Becher, mit großen Schlucken
trinkt sie den Kaffee aus. Dann sucht sie zwischen den vielen
Papieren auf ihrem Schreibtisch den Zettel mit der Adresse ihres
Retters.
»Rob Wenteling«, liest sie laut. Unter dem Namen
stehen Adresse und Telefonnummer.
Senta nimmt den Hörer und wählt.
»Rob Wenteling.«
»Guten Tag, hier spricht Senta van Dijk.« Mit einem
Mal bekommt sie weiche Knie und setzt sich rasch auf den
Schreibtischstuhl. »Ich rufe an, um mich zu bedanken.«
Einen Moment bleibt es still, dann sagt er: »Sie
sind also die Frau, die in den Kanal gefahren ist.«
»Richtig. Und Sie haben mich rausgezogen und mir
damit das Leben gerettet. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie
dankbar ich Ihnen bin!«
»Das hätte jeder andere auch getan«, wiegelt er ab.
»Wie geht es Ihnen inzwischen?«
»Ich bin bereits gestern aus der Klinik entlassen
worden, also relativ schnell angesichts der Umstände. Ich
hatte großes Glück.« Senta fragt, ob er am Nachmittag zu Hause
sei. Wenteling ist, wie sich herausstellt, Rentner und kann sich
seine Zeit nach Belieben einteilen.
»Ich würde nämlich gern vorbeikommen, um mich
persönlich zu bedanken«, sagt Senta. »Und auch, um kurz zum
Unfallort zu gehen.«
Er bietet sofort an, sie zu begleiten: »Ich kann
Ihnen die Stelle gern zeigen.«
»Gut.« Senta sieht auf ihre Armbanduhr. »In etwa
zwei Stunden könnte ich bei Ihnen sein.«
»Ich erwarte Sie«, sagt er.
Von neuer Energie erfüllt, sucht Senta ihre Sachen
zusammen.
Kurz darauf sitzt sie mit leichtem Unbehagen am
Steuer ihres neuen Autos, nimmt das Armaturenbrett in Augenschein
und stellt fest, dass sie damit wohl gut zurechtkommt. Außerdem ist
es Freitagmittag und daher noch nicht allzu voll auf den Straßen.
Erst verspürt sie ein wenig Angst, die sich jedoch schnell
verflüchtigt, als sie den Motor angelassen hat und die Auffahrt
entlangrollt. Der Toyota fährt sich wunderbar.
Sie will nach links zum Ring abbiegen, überlegt es
sich aber anders und fährt zum Einkaufszentrum. Dort stellt sie den
Wagen auf dem Parkplatz ab. Im Blumenladen ersteht sie einen großen
Strauß, beim Spirituosenhändler eine gute Flasche Wein, und im
letzten Moment kauft sie im Baumarkt noch einen Nothammer – einen
fluoreszierenden, damit er auch im Dunkeln gut zu sehen ist.
Sie legt die Blumen und den Wein auf die Rückbank
des Autos, setzt sich ans Steuer und schält den
Nothammer aus der Verpackung. Sie steckt ihn in die Jackentasche,
dann lässt sie den Motor an, und der Toyota rollt vom
Parkplatz.
Unterwegs schaltet Senta das Radio an und singt
entspannt die neuesten Hits mit. Doch jedes Mal, wenn sie neben
sich eine Wasserfläche in der Sonne blinken sieht, verstummt sie,
und ihre Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel
weiß werden. Sie nimmt das Tempo zurück und behält die
nachfolgenden Autos sowie den Gegenverkehr scharf im Auge.
Bleib ruhig, sagt sie sich in Gedanken, du bist
nicht zu schnell, weit und breit ist kein Hindernis zu sehen, also
fährst du auch nicht ins Wasser. Und falls doch, hast du den
Hammer. Ein Schlag, und du bist draußen.
Dennoch atmet sie erleichtert auf, als sie endlich
die Autobahn erreicht und kein Wasser mehr in der unmittelbaren
Umgebung zu sehen ist.