35
Eigentlich hatte sie es sich anders vorgestellt, wieder zu Hause zu sein. Ruhelos geht Senta mit einem Becher Kaffee in der Hand im Wohnzimmer auf und ab. Ein langer Nachmittag liegt vor ihr, viele Stunden, in denen sie mehr als genug Zeit zum Nachdenken hat. Am liebsten würde sie sich sofort wieder in die Arbeit stürzen, um nicht tatenlos zu Hause zu sitzen. Die Arbeit würde sie auch davon abhalten, weiter über den Unfall nachzugrübeln, darüber, wie nahe sie dem Tod war. Es tut ihr nicht gut, ständig daran zu denken.
Um sich ein wenig Zerstreuung zu verschaffen, setzt sie sich ans Klavier und stellt den Kaffeebecher ab. Lustlos klimpert sie mit einer Hand die ersten Takte von Für Elise, kommt aber bald ins Stocken. Vor ein paar Jahren konnte sie das Stück noch problemlos auswendig.
Ihr Blick fällt auf die silbergerahmten Fotos auf dem Klavier. Bilder von den Kindern, als sie noch klein und niedlich waren.
Sehnsucht nach früher überkommt sie, obwohl sie genau weiß, dass sie sich damit etwas vormacht: Zu der vermeintlich sorglosen Vergangenheit gehören auch viele schlaflose Nächte und die Tatsache, dass sie kaum Zeit für sich selbst hatte.
Es ist gut so, wie es ist, denkt sie. Sie kann mit ihrem Leben zufrieden sein. Ja, sie freut sich sogar schon auf die Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind und sie mit Freek endlich die lang ersehnte Weltreise machen kann.
Unwillkürlich wandern ihre Gedanken zu Alexander, und sie stellt fest, dass er ihr nicht fehlt. Was sie vor Kurzem noch als spannende Bereicherung ihres Daseins empfunden hat, scheint nun in erster Linie ein Problem zu sein, das es zu lösen gilt. Wie konnte sie nur glauben, ihr Leben sei langweilig, ihre Arbeit und die Familie reichten nicht aus, um sie glücklich zu machen?
Senta klimpert noch ein wenig auf den Tasten herum. Den ganzen Vormittag über hat Freek ihr Gesellschaft geleistet. Bei jedem Schritt, den sie machte, jedem Gähnen und noch so kleinen Geräusch war er zur Stelle, als könnte sie jederzeit ohnmächtig werden. Er befürchtet immer noch irgendwelche schlimmen Nachwirkungen.
Der Hilferuf aus der Zeitungsredaktion vor einer Stunde brachte ihn in einen Zwiespalt.
»Geh ruhig, ich komme schon zurecht«, hatte Senta ihm zugeredet. »Und falls ich mit Schaum vor dem Mund zusammenbreche, rufe ich an.«
Freek hatte das gar nicht witzig gefunden. »Hast du die Nummer vom Notarzt in deinem Handy gespeichert? «, wollte er wissen. »Versprich mir, dass du es die ganze Zeit bei dir trägst, lass es auf keinen Fall irgendwo liegen!«
»Wird gemacht. Tschüs, Liebster!« Senta küsste ihren Mann und winkte ihm vom Fenster aus noch einmal zu.
Als er davongefahren war, blieb sie noch eine Weile stehen. Die Kinder waren in der Schule, sie genoss die wohltuende Ruhe im Haus.
Aber schon bald ging ihr die Stille auf die Nerven.
Senta greift nach dem Becher, mit großen Schlucken trinkt sie den Kaffee aus. Dann sucht sie zwischen den vielen Papieren auf ihrem Schreibtisch den Zettel mit der Adresse ihres Retters.
»Rob Wenteling«, liest sie laut. Unter dem Namen stehen Adresse und Telefonnummer.
Senta nimmt den Hörer und wählt.
»Rob Wenteling.«
»Guten Tag, hier spricht Senta van Dijk.« Mit einem Mal bekommt sie weiche Knie und setzt sich rasch auf den Schreibtischstuhl. »Ich rufe an, um mich zu bedanken.«
Einen Moment bleibt es still, dann sagt er: »Sie sind also die Frau, die in den Kanal gefahren ist.«
»Richtig. Und Sie haben mich rausgezogen und mir damit das Leben gerettet. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen bin!«
»Das hätte jeder andere auch getan«, wiegelt er ab. »Wie geht es Ihnen inzwischen?«
»Ich bin bereits gestern aus der Klinik entlassen worden, also relativ schnell angesichts der Umstände. Ich hatte großes Glück.« Senta fragt, ob er am Nachmittag zu Hause sei. Wenteling ist, wie sich herausstellt, Rentner und kann sich seine Zeit nach Belieben einteilen.
»Ich würde nämlich gern vorbeikommen, um mich persönlich zu bedanken«, sagt Senta. »Und auch, um kurz zum Unfallort zu gehen.«
Er bietet sofort an, sie zu begleiten: »Ich kann Ihnen die Stelle gern zeigen.«
»Gut.« Senta sieht auf ihre Armbanduhr. »In etwa zwei Stunden könnte ich bei Ihnen sein.«
»Ich erwarte Sie«, sagt er.
Von neuer Energie erfüllt, sucht Senta ihre Sachen zusammen.
Kurz darauf sitzt sie mit leichtem Unbehagen am Steuer ihres neuen Autos, nimmt das Armaturenbrett in Augenschein und stellt fest, dass sie damit wohl gut zurechtkommt. Außerdem ist es Freitagmittag und daher noch nicht allzu voll auf den Straßen. Erst verspürt sie ein wenig Angst, die sich jedoch schnell verflüchtigt, als sie den Motor angelassen hat und die Auffahrt entlangrollt. Der Toyota fährt sich wunderbar.
Sie will nach links zum Ring abbiegen, überlegt es sich aber anders und fährt zum Einkaufszentrum. Dort stellt sie den Wagen auf dem Parkplatz ab. Im Blumenladen ersteht sie einen großen Strauß, beim Spirituosenhändler eine gute Flasche Wein, und im letzten Moment kauft sie im Baumarkt noch einen Nothammer – einen fluoreszierenden, damit er auch im Dunkeln gut zu sehen ist.
Sie legt die Blumen und den Wein auf die Rückbank des Autos, setzt sich ans Steuer und schält den Nothammer aus der Verpackung. Sie steckt ihn in die Jackentasche, dann lässt sie den Motor an, und der Toyota rollt vom Parkplatz.
Unterwegs schaltet Senta das Radio an und singt entspannt die neuesten Hits mit. Doch jedes Mal, wenn sie neben sich eine Wasserfläche in der Sonne blinken sieht, verstummt sie, und ihre Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß werden. Sie nimmt das Tempo zurück und behält die nachfolgenden Autos sowie den Gegenverkehr scharf im Auge.
Bleib ruhig, sagt sie sich in Gedanken, du bist nicht zu schnell, weit und breit ist kein Hindernis zu sehen, also fährst du auch nicht ins Wasser. Und falls doch, hast du den Hammer. Ein Schlag, und du bist draußen.
Dennoch atmet sie erleichtert auf, als sie endlich die Autobahn erreicht und kein Wasser mehr in der unmittelbaren Umgebung zu sehen ist.
Rettungslos
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