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Mit einer schnellen Bewegung schiebt sie Anouk in
Richtung Waschküche und geht hinterher.
Die Kellertür ist offen, und der Schlüssel steckt,
das hat Lisa gestern Abend vor dem Schlafengehen registriert und
flüchtig gedacht, dass sie mit ihrer Tochter in den Keller fliehen
könnte, allerdings nur im äußersten Notfall, denn dort säßen sie
wie Ratten in der Falle.
Dessen ist sie sich auch jetzt bewusst. Doch als
sie Kreugers Schritte in der Küche hört, zieht sie rasch den
Schlüssel, macht die Tür hinter sich zu und schließt ab. Auch
jetzt, bei Tag, ist es düster im Keller. Das bisschen Licht, das
durch das schmale Fenster auf den Betonboden fällt, erhellt den
Raum nur notdürftig.
Sie stehen noch oben an der Treppe, als Kreuger an
der Klinke rüttelt. »Mach auf!«, brüllt er. »Mach sofort auf, du
Miststück!«
Im Dämmerlicht sieht Lisa, dass Anouk sich die
Finger in die Ohren gesteckt hat und am ganzen Körper zittert. Sie
zieht das Kind an sich.
»Ich hab’s doch gewusst!«, schreit Kreuger. »Du
bist um kein Haar besser als die anderen Weiber! Elende Lügnerin!
Wenn ich dich zu fassen krieg, schneid ich dir die Titten ab und
erwürg dich mit deinem eigenen BH!«
Er wirft sich gegen die Tür, kann aber gegen das
robuste Holz nichts ausrichten.
Leise gehen Lisa und Anouk die Treppe hinab, setzen
sich in eine Ecke und warten.
»Mama?«
»Keine Angst, hier kann er uns nichts tun.« Lisas
Stimme zittert, sie legt den Arm um Anouk.
Eine ganze Weile noch drischt Kreuger auf die Tür
ein und brüllt wie ein Stier, dann herrscht plötzlich eine
unheimliche Stille. Kein Laut, der verrät, was er vorhat. Die Tür
mit Brettern vernageln, Feuer legen? O Gott, nur das nicht!
In den folgenden Stunden hört Lisa ihn des Öfteren
umhergehen, ein paarmal gluckert Wasser durch die Leitungen im
Keller. Er kommt mehrmals in die Waschküche, und seine Schritte
verharren vor der Tür. Dann hält sie die Luft an, lauscht auf
Geräusche, die darauf hindeuten, dass er mit einer Brechstange oder
Säge zugange ist. Aber Kreuger unternimmt nichts dergleichen, er
lässt sie einfach im Keller sitzen, und Lisa wird rasch klar,
warum: Hier unten haben sie nichts zu essen, nichts zu trinken und
auch kein Bettzeug. Notfalls können sie die Nacht auf den Polstern
der Gartenstühle verbringen, aber damit hat es sich auch. Das Ganze
wäre weniger schlimm, wenn es im Keller einen Wasseranschluss gäbe.
Ohne feste Nahrung kommt
man eine ganze Weile aus, aber wie lange schafft man es ohne
Flüssigkeit?
Zum x-ten Mal durchsucht sie akribisch den ganzen
Keller und hofft, irgendwo eine vergessene Coladose oder
Wasserflasche zu finden, notfalls auch Wein. Früher hatte sie hier
Getränkekästen deponiert, doch seit sie auf der steilen Treppe
stürzte und sich den Knöchel brach, stehen sie in der Garage, was
sich als praktischer erwies, zumal Menno den Keller zu seinem
Hobbyraum erkoren hatte. Er ist ein begeisterter Heimwerker, bei
ihm zu Hause gibt es jedoch mangels Keller und Garage keinen Platz
dafür. Einmal hatte er sogar unter ihrem Dach ein
Kinderfahrrad repariert, das er gebraucht erstanden hatte und
seinem ältesten Sohn zum Geburtstag schenken wollte.
Schmerzlich genau erinnert Lisa sich an den Tag, an
dem sie erkannte, wie nahe Liebe und Hass doch beieinanderliegen.
Damals wurde ihr klar, dass ihre Fantasie mittlerweile ein
Eigenleben führte, das mit der Realität nichts mehr zu tun
hatte.
Menno gehörte zwar zu ihr, aber nur teilweise. Der
andere Teil war unverbrüchlich mit seiner Frau Monique verbunden.
Lisa hatte zwar nach Kräften versucht, nicht emotional abhängig zu
werden, trotzdem zog es ihr an jenem Tag, an dem sie begriff, dass
er sich niemals ganz für sie entscheiden würde, den Boden unter den
Füßen weg.
Ein paar Wochen nach ihrer ersten Begegnung hatte
er ihr gestanden, dass er verheiratet sei und seine Frau ein Kind
erwarte. Dass er sie während der Schwangerschaft nicht im Stich
lassen wollte, konnte Lisa gut
verstehen. Auch in der ersten Zeit nach Sams Geburt drängte sie
ihn nicht, Monique zu verlassen. Jede freie Minute verbrachte er
bei ihr, sie bedauerten beide zutiefst, sich nicht ein Jahr früher
kennengelernt zu haben, und träumten von einer gemeinsamen Zukunft.
Lisa hatte stets daran geglaubt, auch noch, als sein Sohn ein Jahr
alt war. Erst als Monique erneut schwanger wurde, kamen ihr
Zweifel. Sie machte Menno heftige Vorwürfe, weil er es so weit
hatte kommen lassen. Sollte sie etwa eine erneute Schwangerschaft
und noch etliche weitere Monate abwarten, bevor er sich von seiner
Frau trennte? Trotz seiner flehentlichen Bitten und Versicherungen,
er liebe nur sie, glaubte sie Menno nicht mehr und beendete die
Beziehung.
Nächtelang weinte sie sich in den Schlaf, aber sie
blieb stark: Sie wollte ihn nicht mehr wiedersehen.
Das änderte sich, als er ihr zwei Päckchen
schickte. Im einen war ein hellblauer Babystrampler, im anderen ein
rosafarbener. Er wolle ein Kind mit ihr, schrieb er, als lebenden
Beweis, dass er sie liebe und nicht Monique.
»Wenn du jetzt deine Familie verlässt, bist
du ein noch viel größerer Schuft, als ich dachte«, schrieb sie
zurück. »Für meine Kinder will ich etwas Besseres, und für mich
selbst auch.«
Doch er ließ nicht locker, sie trafen sich wieder,
und nicht lange danach stellte sie fest, dass sie schwanger
war.
Anders als sie Kreuger erzählt hat, war die Zeit
nach Anouks Geburt einfach fantastisch. Die Entbindung verlief
völlig problemlos, sie litt auch nicht unter postnatalen
Depressionen, sondern schwebte wochenlang auf einer rosa Wolke.
Und Menno war ebenso glücklich wie sie.
»Ich danke dir«, sagte er immer wieder und küsste
Anouks dunklen Schopf. »Zwei Söhne habe ich schon, und jetzt hast
du mir eine Tochter geschenkt! Sie ist so schön, Lisa, sieh doch
nur!«
Sie hatte erst das Baby und dann Menno angeschaut
und eine tiefe Liebe zu ihr und Anouk in seinen Augen gesehen. Nun
war alles wieder gut.
»Ich trenne mich von Monique«, versprach er.
»Unsere Ehe besteht nur noch auf dem Papier, vor allem seit ich
dich kenne. Ich habe die ewigen Streitereien und ihr
besitzergreifendes Wesen gründlich satt. Hab noch ein klein wenig
Geduld, Lisa. Ich muss nur den richtigen Zeitpunkt finden, es ihr
zu sagen. Und auf Sam und Tim muss ich auch Rücksicht
nehmen.«
Lisa hatte Verständnis und ließ ihm Zeit. Doch als
Anouk ihren ersten Geburtstag hatte, war alles noch beim Alten.
Auch ein halbes Jahr später, als Lisa unverhofft Menno und seiner
Familie begegnete.
Deshalb konnte sie sich mit Kreugers Geschichte
durchaus ein Stück weit identifizieren. Mit der Bestürzung, der
rasenden Eifersucht und dem Hass, den er empfand, als er seine Frau
und die Kinder mit dem anderen Mann sah. Der unwiderstehliche
Drang, sich zu rächen, zu töten. Er hatte diesem Drang nachgegeben,
sie dagegen hatte innerlich die Bremse gezogen. Im letzten Moment,
aber immerhin.
Sie stand mit dem Auto an der Ampel, als sie
plötzlich Menno und seine Familie sah. Sie bogen um die
Ecke, der ältere Sohn lief vor den Eltern her, der Kleine saß im
Buggy. Menno und Monique sahen nicht so aus, als hätten sie eine
Ehekrise, im Gegenteil: Sie wirkten gut gelaunt, redeten und
lachten.
Unmittelbar neben Lisas Auto küssten sie sich. Dann
steuerte Monique mit den Kindern auf einen Spielzeugladen zu, und
Menno schickte sich an, die Straße zu überqueren.
Er blickte sich noch einmal um und rief seiner Frau
etwas zu. Monique lachte und warf ihm eine Kusshand zu.
Die Ampel zeigte Grün, und der Fahrer neben ihr
ließ den Motor im Stand aufheulen, als Warnung für den Mann, der
noch rasch über die Straße wollte.
Hätte sie ihrem ersten Impuls nachgegeben und wäre
aufs Gaspedal gestiegen, hätte sie Menno Sekunden später
überfahren.
Aber sie zögerte. Ein kleiner Moment der Besinnung
hatte ihm das Leben gerettet. Auch sie war froh darum, obwohl der
Zorn noch lange in ihr kochte, bevor er einem stillen Kummer
wich.
Noch am selben Tag machte sie endgültig Schluss mit
Menno, weil sie die Wucht des plötzlichen Hasses auf ihn tief
erschreckt hatte.