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Die schwarzen Druckbuchstaben tanzen vor Lisas
Augen. Ihr ist, als würde ihr der Boden unter den Füßen
weggezogen.
»Appeltern ist doch hier in der Nähe, oder?«
Sie nickt automatisch.
»Da kannst du mal sehen. Wäre ich gestern
Nachmittag draußen gewesen, wäre ich der Polizei direkt in die Arme
gelaufen. Also bleibe ich lieber noch eine Weile hier im Haus,
meinst du nicht auch?« Kreuger wirkt gut gelaunt.
»Ja«, stimmt Lisa zu. »Das ist sicherlich das
Beste.«
Überrascht sieht er sie an.
»Vorläufig, meine ich«, ergänzt sie. »Ich mache dir
jedenfalls keine Schwierigkeiten. Aber ich könnte mir vorstellen,
dass du Pläne hast. Ich meine, du kannst ja nicht ewig hierbleiben.
Weißt du denn schon, wohin du willst? Ich könnte dich hinbringen,
wie du weißt, habe ich ein Auto. Das kannst du dir auch gern leihen
und …«
Sein lautes Lachen lässt sie verstummen.
»Nicht schlecht«, sagt er, als er sich wieder
gefasst hat. »Mal sehen, vielleicht nehme ich dein Angebot an. Ein
Auto könnte mir weiterhelfen. Ich könnte euch beide mitnehmen. Oder
nur deine Tochter … wenn ich’s mir recht überlege, ist das eine
gute Idee.« Er grinst breit.
Lisa starrt ihn fassungslos an. »Nein!«, faucht
sie. »Meine Tochter lässt du in Frieden, klar? Sonst …«
Schlagartig bekommt sein Gesicht einen harten
Ausdruck.
»Ich mache, was ich will«, sagt er schneidend. »Und
du richtest dich danach. Eben noch hast du gesagt, du machst mir
keine Schwierigkeiten, also halte dich daran!«
Sein Blick fällt auf Anouk, die ihren Barbiepuppen
Bikinis angezogen hat und sie gerade in Liegestühle setzt.
»Geht in Ordnung. Tut mir leid, dass ich die
Beherrschung verloren habe.« Ihre Stimme klingt heiser und völlig
fremd. Lisa verabscheut sich für ihre Unterwürfigkeit. Als Kreuger
ihr das Gesicht zuwendet, rechnet sie mit Spott und Verachtung in
seinem Blick. Auf Mitgefühl und einen sanften Tonfall ist sie nicht
gefasst.
»Ich verstehe das schon. Glaub nicht, ich sei ein
Unmensch, Lisa.«
Seltsam, allein die Tatsache, dass er ihren Namen
ausspricht, lässt sie hoffen, obwohl Misstrauen angebrachter
wäre.
»Bitte, tu ihr nichts«, flüstert sie. »Sie ist
alles, was ich noch habe.«
Hinter ihnen lässt Anouk Ken auftreten. »Wer geht
mit mir schwimmen?«, fragt sie mit Brummstimme, und die Barbies
springen begeistert auf, um sich mit Ken in die Brandung zu
stürzen.
»Anouk ist krank«, sagt Lisa leise. »Sie braucht
einen Arzt.«
»Auf mich macht sie einen ganz munteren
Eindruck.«
»Das täuscht. Hör doch nur, wie ihr Atem
rasselt.«
Als hätte Anouk einen sechsten Sinn, beginnt sie im
gleichen Moment heftig zu husten.
»Du gibst ihr doch Penicillin«, sagt Kreuger.
»Ja, aber wenn das nicht hilft, muss sie …«
»Das sehen wir dann«, schneidet er ihr das Wort ab.
»Momentan jedenfalls geht es ihr gut, sie spielt so schön …«
Lisa bemerkt etwas Wehmütiges in seinem Blick.
Woran denkt er wohl? Was für Bilder sieht er vor sich?
»Meine Tochter hatte diese rosa Barbie-Pferdchen«,
sagt er. »Denen hat sie dauernd die Mähne gekämmt …«
Schnell weiterreden, ihn bei der Stange halten!
»Ich glaube, so was mögen alle kleinen Mädchen«, sagt Lisa. »Anouk
hat auch welche.«
Kreuger wirkt abwesend, wie in eine andere Welt
versunken, zu der Lisa keinen Zugang hat, die sie sich aber
inzwischen ein bisschen vorstellen kann. Was soll sie sagen?
Vielleicht lieber gar nichts?
Kreuger kommt ihr zuvor: »Du weißt, was passiert
ist, stimmt’s? Was ich getan habe …« Er fixiert sie mit
scharfem Blick, sodass sie wohl oder übel antworten muss.
»Ja.«
»Wie?«
»Du meinst, woher ich es weiß?«
Er nickt ungeduldig.
»Im Keller steht ein Radio …«
»Dann weißt du also, dass ich ein Monster bin.« In
seinen Worten schwingt Bitterkeit mit, die sich jedoch nicht gegen
Lisa richtet, daher wagt sie es, das Thema zu vertiefen.
»Meiner Ansicht nach kann jeder mal in eine
Situation kommen, in der er Dinge tut, zu denen er normalerweise
nicht in der Lage wäre. Manchmal treiben einen die Umstände dazu«,
sagt sie.
»Oder Menschen.«
»Ja, das auch.«
Abrupt steht er auf und tritt direkt vor sie.
Mühsam unterdrückt Lisa den Impuls zurückzuweichen. Sie bekommt
heftiges Herzklopfen.
Sein Gesicht ist ganz nahe. »Warst du schon
mal in so einer Situation?«
»Ich habe versucht, meinen Ex umzubringen«, sagt
sie kaum hörbar.
Er wird hellhörig. »Wie?«
Lisa will ausweichen, aber er lässt sie nicht aus
den Augen, zwingt sie mit seinem Blick zu einem Geständnis. Nun, da
sie A gesagt hat, muss sie auch B sagen.
»Mit dem Auto.«
Kreuger pfeift, er scheint beeindruckt zu sein.
»Und dann?«
»Er kam schwer verletzt in eine Klinik, hat es aber
überlebt.«
»Bist du nicht dafür belangt worden?«
»Nein, ich bin schnell weitergefahren, und Zeugen
gab es keine. Menno hat nie erfahren, dass ich in dem Auto
saß, aber er muss es geahnt haben. Wenn die Sprache auf den Unfall
kam, hat er mich manchmal ganz seltsam angesehen.«
»Und wie ging es weiter?«
»Dann haben wir uns getrennt«, sagt Lisa schlicht.
»Ich denke, ihm war klar, dass ich ihn beim nächsten Mal umbringen
werde.«
»Würdest du es denn noch einmal versuchen?«
»Unbedingt.« Die Wunde an ihrer Hand pocht, ihre
Lippe ist wieder aufgesprungen und brennt. »Ich kann vieles
verstehen und verzeihen, aber irgendwann ist eine Grenze
erreicht.«