20
Das Zusammenspiel zwischen Körper und Seele ist
ein seltsames Phänomen. Dass Gedanken starke Selbstheilungskräfte
mobilisieren können, ist allgemein bekannt, doch wie das genau
funktioniert, liegt nach wie vor im Dunkeln. Wenn einen Gedanken
krank machen können, überlegt Senta, dann müsste es doch auch
möglich sein, sich »gesund zu denken«.
Sie holt tief Luft, konzentriert sich mit aller
Kraft aufs Aufwachen und kämpft sich in Richtung Oberfläche.
Und plötzlich durchstößt sie die zähe Membran, die
sie die ganze Zeit von der Welt getrennt hat.
Sie schlägt die Augen auf und lässt den Blick
schweifen. Karten und Fotos auf ihrem Nachttisch, Plüschtiere am
Fußende des Betts, ein kleiner Fernseher auf einer Wandhalterung …
es läuft gerade ein Telefonquiz.
Durch das Fenster flutet Sonnenlicht ins
Zimmer.
Ganz langsam hebt sie die Hand und hält sie ins
Licht. Sie spürt angenehme Wärme auf der Haut, und mit einem Mal
kommen ihr die Tränen.
In nächsten Moment betritt eine dunkelhaarige Frau
das Zimmer. Sie trägt einen Arztkittel und um den Hals ein
Stethoskop. Überrascht bleibt sie stehen, als ihr Blick auf Senta
fällt.
Minuten später ist das Zimmer voller weiß
gekleideter Menschen, die aufgeregt durcheinanderreden.
Die Ärztin setzt sich zu Senta, nimmt ihre Hand und
fragt, wie sie sich fühle.
»Gut«, will sie sagen, bringt aber kaum mehr als
einen u-Laut zustande, dennoch scheint die Frau sie zu
verstehen.
»Ich heiße Lilian Reijnders und bin Internistin«,
sagt sie. »Sie haben uns ganz schön in Atem gehalten, Frau van
Dijk. Wie gut, dass Sie aufgewacht sind!«
»Wo …«
»Sie sind auf der Intensivstation der
Radboud-Klinik in Nijmegen. Sie hatten einen Unfall, können Sie
sich daran erinnern?«
Verwirrt sieht Senta die Ärztin an. Einen
Unfall?
»Egal, die Erinnerung wird schon wiederkommen«,
sagt Frau Dr. Reijnders tröstend.
Freek … die Kinder … Senta will nach ihnen fragen,
bringt aber kein Wort heraus. Anscheinend kann die Ärztin Gedanken
lesen, denn sie lächelt ihr aufmunternd zu und sagt: »Ihre Familie
wird umgehend benachrichtigt. Und in der Zwischenzeit nehmen wir
ein paar Untersuchungen vor.«
Senta lässt alles über sich ergehen: Es wird
geprüft, ob sie ihre Gliedmaßen wieder bewegen kann, sie muss
sagen, ob ihr etwas wehtut, man nimmt ihr Blut ab, und
anschließend rollt eine Schwester sie auf ihrem Bett in den
MRT-Raum.
Als sie wieder ins Zimmer kommt, sind Freek und die
Kinder da.
»Senta, Liebling!« Freek kommt spontan auf sie zu,
wartet dann aber, bis die Schwester das Bett platziert hat.
Ganz sanft, als könnte die geringste Berührung sie
wieder ins Koma gleiten lassen, nimmt er ihre Hand und führt sie an
seine Lippen.
»Wir haben uns Sorgen gemacht, Liebste, große
Sorgen. Gott sei Dank bist du wieder aufgewacht!«
Ihr Mann sieht erschöpft aus, er hat rot geränderte
Augen, offenbar von einer schlaflosen Nacht.
Ihr Blick fällt auf die Kinder am Fußende des
Betts, auch sie wirken blass und erschöpft.
Freek beugt sich zu ihr und küsst sie sanft auf den
Mund. »Wie fühlst du dich?«
»Müde«, flüstert Senta.
»Kein Wunder. Nach allem, was du durchgemacht
hast.«
»Dabei müsstest du eigentlich gut ausgeruht sein«,
meint Niels scherzhaft, was ihm einen Rippenstoß von seiner
Schwester einbringt. »Red keinen Quatsch!«, zischt sie.
Senta lächelt ihren Ältesten an. Lang und schlaksig
steht er da. In Jeans und ausgeleiertem T-Shirt, die Baseballmütze
mit dem Schild nach hinten, will er cool und überlegen wirken, aber
sie merkt ihm die ausgestandene Angst dennoch an.
Spontan streckt sie die Hände nach ihm aus. Niels
kommt auf sie zu und umarmt sie ein wenig unbeholfen.
»Gut, dass du wieder bei uns bist, Mam«, sagt er
leicht heiser.
Kaum hat er sich aus ihren Armen gelöst, stürmt
Denise auf Senta zu, drückt sie an sich und küsst sie auf die
Wange. »Weißt du, was die Ärztin gesagt hat, Mam? Dass du
vielleicht nie wieder aufwachst!« Verstohlen wischt sie sich die
Augen.
»Das hat die Ärztin nicht gesagt«, mischt Freek
sich ein. »Das hast du im Internet gelesen, Denise. Ich hab dir
gleich gesagt, dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, was
auf diesen Sites steht.«
»Aber es hätte doch sein können! Immerhin hat Mam
im Koma gelegen!«, ruft Denise.
Senta wendet sich Jelmer zu, der wortlos neben
seinem Vater steht. »Na, mein Schatz«, sagt sie leise, »wie geht es
dir?«
Sofort setzt Jelmer sich zu ihr aufs Bett und
schmiegt sich an sie. Senta rutscht ein wenig beiseite, legt den
Arm um ihn, wuschelt durch seine dunklen Locken und küsst ihn auf
die Stirn. Der vertraute Kindergeruch erinnert sie an
Einschlafrituale und Gutenachtgeschichten, an abendliches Knuddeln
und nasse Schmatzküsse.
Wie konnte sie nur ihre Familie vergessen?
»Macht euch keine Sorgen«, sagt sie. »Ich bin
wieder bei euch. Alles ist in Ordnung.«
Ganz vorsichtig, als wäre er davon noch nicht so
recht überzeugt, streicht Freek ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Weißt du denn noch etwas von dem
Unfall? Und wie du überhaupt in dieser Gegend gelandet
bist?«
»Ich erinnere mich bloß noch daran, dass ich auf
dem Rückweg von einem Termin war. Und dann …« Sie überlegt
angestrengt. »Dann zog plötzlich dichter Nebel auf. Ja, das weiß
ich noch. Ich kam an eine Kreuzung, konnte die Schilder kaum lesen
und muss falsch abgebogen sein.«
»Aber warum bist du so schnell gefahren? Das ist so
gar nicht deine Art, sonst bist du doch eher übervorsichtig.«
Erstaunt sieht Senta ihren Mann an. »Ich bin zu
schnell gefahren?«
»Unverantwortlich schnell, das hat ein Zeuge
gesagt«, mischt Niels sich ein. »Und er muss es wissen, schließlich
hat er den Unfall gesehen.«
»Wenn der Mann dort nicht zufällig mit seinem Hund
spazieren gegangen wäre …« Freek beendet den Satz nicht.
Ein unbehagliches Gefühl beschleicht Senta. Ihr
ist, als würden sie über einen Film reden, den alle kennen und in
dem sie die Hauptrolle spielt, ohne sich an etwas erinnern zu
können.
»Was genau ist passiert?«, fragt sie
unsicher.
»Weißt du das wirklich nicht mehr, Mam?«, ruft
Denise verwundert. »Du bist in den Kanal gefahren! Um ein Haar
wärst du ertrunken!«
Es ist wie ein Schlag vor den Kopf. Ertrunken!
Daher das Gefühl, sie befände sich unter Wasser und müsste um jeden
Preis an die Oberfläche gelangen.
»Wer … wie …«
»Ein Passant hat es gesehen und dich gerettet«,
hilft Denise ihr auf die Sprünge.
Senta fasst sich an die Stirn und beginnt, sie mit
langsam kreisenden Bewegungen zu massieren. »Ich weiß nichts mehr …
absolut nichts.«
Eine ganze Weile ist es still.
»Das spielt jetzt auch keine Rolle«, sagt Freek
schließlich. »Hauptsache, du lebst und hast keine bleibenden
Schäden davongetragen.«
Das bleibt abzuwarten, denkt Senta. In Freeks Blick
liest sie, dass er sich die gleiche bange Frage stellt. Aber vor
den Kindern sprechen sie es nicht aus.
Sie lebt, sie erkennt ihre Familie, sie kann
sprechen und sich bewegen – alles andere wird sich weisen.
»Sei froh, dass du dich an nichts erinnerst«, meint
Niels. »So bekommst du wenigstens keine Albträume wie neulich nach
diesem Horrorfilm.«
Alle lachen befreit, auch Senta.
Die Atmosphäre entspannt sich zunehmend, die Kinder
reden durcheinander und witzeln. Jelmer steht auf und inspiziert
die Röhrchen, Schläuche und Monitore neben ihrem Bett.
Freek setzt sich zu ihr und streichelt unaufhörlich
ihre Hand.
Senta sagt nicht viel, sie genießt es einfach,
wieder im Leben zu sein. Der Besuch ihrer Familie ermüdet sie
allmählich, aber lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, als das
zu sagen.
Niels hat recht, denkt sie. Wahrscheinlich ist es
besser, ich erinnere mich an nichts, dann kann es mich auch nicht
belasten.
Plötzlich hat sie das Gefühl, es sei sehr wichtig,
sich doch an den Unfall zu erinnern, vor allem an den Grund,
weshalb sie in dieser Gegend war und so unverantwortlich schnell
gefahren ist.