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Wieder verbringt sie die Nacht mit Anouk im
Keller. Als Kreuger am nächsten Morgen die Tür aufschließt, scheint
eine Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Er wirkt
schuldbewusst, zu Lisas Verwunderung hat er den Frühstückstisch
gedeckt und auch schon Kaffee gekocht. Abwartend setzt sie sich an
den Esstisch.
Auch Anouk nimmt die veränderte Atmosphäre wahr,
denn sie wirft ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. Als Kreuger
kurz wegschaut, zuckt Lisa mit den Schultern.
Beim Frühstück wechseln sie lediglich ein paar
belanglose Sätze über das Wetter. Dann sagt er völlig unvermittelt:
»Wenn ich dich fragen würde, ob du mit mir kommst, würdest du dann
Ja sagen?«
Die Frage trifft Lisa wie ein Blitz aus heiterem
Himmel. Der Löffel, mit dem sie gerade Marmelade auf ihr Brot
gegeben hat, bleibt wie ein Ausrufezeichen in der Luft
hängen.
»Mit dir kommen? Von hier weg, meinst du?«, fragt
sie, als könnte man sein Ansinnen auch anders verstehen.
Kreuger nimmt einen Schluck Kaffee und nickt.
»Würdest du?«
Lisas Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Nach einem
warnenden Seitenblick zu Anouk sagt sie gelassen: »Wer weiß
…«
Kreuger gibt einen Löffel Zucker in seine Tasse und
rührt kräftig um. »Oder würdest du bei der ersten Gelegenheit
davonlaufen?«
»Das habe ich die letzten Tage doch auch nicht
gemacht.« Lisa zwingt sich zu einem Bissen Brot und kaut ausgiebig,
bevor sie ruhig weiterspricht. »Ich bin hier zu Hause und betrachte
dich als meinen Gast. Gut, ich habe dich nicht eingeladen, aber wie
sich herausgestellt hat, verstehen wir uns doch ganz gut, nicht
wahr? Du hast mir versprochen, uns nichts zu tun, wenn wir dir
keine Schwierigkeiten machen, und darauf verlasse ich mich. Warum
sollte ich also davonlaufen?«
Er fixiert sie lange, aber sie bleibt vollkommen
ruhig und hält seinem Blick stand. Als die Stille andauert, fragt
sie wie nebenbei, wohin er überhaupt wolle.
»Ich habe Verwandte in Deutschland.«
»Deutschland ist groß.«
»Auch in unserem kleinen Land finden sie mich
nicht«, erwidert er grinsend.
»Die Polizei sucht einen einzelnen Mann, keinen
Mann mit Frau und Kind«, sagt Lisa. »Wir nehmen mein Auto, dann
sind wir im Nu über der Grenze.«
Nur mit viel Mühe kann sie ihre Aufregung
verbergen. Sind sie erst einmal im Freien, ist Kreuger mit
Sicherheit irgendwann abgelenkt, und sie kann mit Anouk einen
Fluchtversuch wagen. Oder einen Auffahrunfall verursachen, einen
Zettel aus dem Autofenster werfen, an einer Tankstelle um Hilfe
rufen … Möglichkeiten gibt es genug.
»Hmmm, ich weiß nicht so recht.« Kreuger trinkt
seine Tasse mit ein paar großen Schlucken leer. »Aber dein Auto
könnte ich gut gebrauchen.«
»Nimm es ruhig«, bietet Lisa an. Neue Hoffnung
keimt in ihr auf. Vielleicht verschwindet er ja noch heute,
womöglich ist der Albtraum schon nach dem Frühstück zu Ende. »Ich
glaube, ich habe noch ein paar Kleider von Menno hier, und wenn wir
dein Haar blond färben, erkennt dich kein Mensch.«
Nachdenklich mustert er sie: »Und was mache ich mit
dir?«
Lisas bekommt Herzrasen. Um Zeit zu gewinnen, nimmt
sie einen Bissen Brot, aber er klebt ihr zäh am Gaumen. Sie spült
ihn mit einem tüchtigen Schluck Kaffee hinunter. »Du glaubst, ich
würde die Polizei benachrichtigen?«
»Das glaube ich nicht, das weiß ich«, entgegnet
Kreuger ruhig.
»Vielleicht irrst du dich.«
»Mag sein, aber das Risiko ist mir zu hoch.«
Lisa bricht der Schweiß aus, ihre Hände werden
klamm. Worauf will er hinaus?
»Wenn du fort bist …«, sagt sie, auf jedes einzelne
Wort achtend, »und ich rufe die Polizei, dann haben sie dich ja
noch nicht, und du könntest dich an mir rächen.«
»Sehr richtig«, bestätigt Kreuger.
»Wenn sie dich nie zu fassen kriegen, müsste ich
den Rest meines Lebens in Angst verbringen, und darauf habe ich
wirklich keine Lust. Ich will ein ganz normales Leben führen und
unbesorgt aus dem Haus gehen können. Dich würde ich als Gast in
Erinnerung behalten, mit dem ich eine Abmachung getroffen habe.«
Sie sieht ihm fest in die Augen. »Die Abmachung, dass ich dich
nicht verrate.«
Knisternde Spannung.
»Tja«, sagt Kreuger schließlich. »Es gäbe da noch
eine andere Möglichkeit: Ich nehme Anouk mit.«