15
Der Keller war Mennos Reich gewesen. Er hatte dort Regale aufgestellt und sie mit allerlei Krempel gefüllt, den Lisa am liebsten weggeworfen hätte, von dem er sich aber nicht trennen mochte. Altes, rostiges Werkzeug, defekte Elektrogeräte, die er irgendwann reparieren wollte, Schuhkartons voller Flaschenkorken, Verschlussdrähte für Müllsäcke oder leerer Batterien … Menno bewahrte wirklich alles auf. In der Garage hatte er größere Gegenstände wie kaputte Gartenmöbel deponiert, außerdem Fliesen verschiedenster Größen und Farben, die man – wie er meinte – irgendwann sicherlich noch brauchen könne.
Nach der Trennung hatte Lisa alles zum Sperrmüll gestellt – eine Befreiung in mehrfacher Hinsicht. Seit Menno und kurz darauf all sein Gerümpel verschwunden waren, hatte sie das Gefühl, endlich wieder Platz zu haben, gleichzeitig empfand sie eine beklemmende Leere.
Lisa weiß genau, was noch im Keller liegt, und auch, dass ihr nichts davon nutzen wird. Der einst vollgestopfte Raum ist annähernd leer und stellt somit ein ideales Gefängnis dar. Bevor sie ihn ausräumte, hätten unmöglich zwei Matratzen darin Platz gefunden. Womöglich hätte Kreuger dann zu viel drastischeren Maßnahmen gegriffen, um sie aus dem Weg zu haben.
Lisa muss wieder an Menno denken. Obwohl sie nicht mehr zusammen sind, ruft er noch öfter mal an, um sie dies und jenes zu fragen und so Kontakt zu halten. Lisa stört das nicht, zumal sie selbst das Bedürfnis hat, ab und zu seine Stimme zu hören … solange er nicht unverhofft aufkreuzt, was leider auch manchmal passiert. Es belastet sie, ihn zu sehen, weil sie sich noch nicht genügend von ihm gelöst hat.
Gut möglich, dass er morgen plötzlich vor der Tür steht. Bei diesem Gedanken bricht ihr der Schweiß aus, denn wie, um Himmels willen, soll sie ihn abwimmeln? Menno akzeptiert so leicht kein Nein. Zum Glück weiß er nicht, dass Anouk krank ist, sonst würde er bestimmt auftauchen. Was auch zwischen ihnen war, er ist ein guter Vater und liebt seine Tochter aufrichtig.
»Menno …«, murmelt Lisa im Dunkeln vor sich hin.
Sie hätten es so schön zusammen haben können …
 
Mitten in der Nacht erwacht Anouk aus einem unruhigen Traum. Kaum merkt sie, dass es um sie herum stockfinster ist, beginnt sie zu weinen.
Lisa setzt sich auf und zieht ihre Tochter rasch an sich.
»Ganz ruhig, mein Schatz, Mama ist bei dir. Nicht weinen, es ist alles in Ordnung.«
Anouk wirkt erleichtert, weil sie nicht allein ist, und schmiegt sich an ihre Mutter. »Licht …«, sagt sie mit zittriger Stimme.
»Das Licht ist kaputt. Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir.«
»Licht!« Jetzt schwingt Panik in ihrer Stimme mit, doch Lisa kann sie beschwichtigen: »Weißt du was, Schätzchen, wir kuscheln uns ganz eng zusammen, dann macht uns die Dunkelheit nichts aus.«
»Wo sind wir?«
Lisa kann Anouks Anspannung deutlich spüren.
»Im Keller«, sagt sie schlicht. »Wo Papas Werkstatt war.«
»Mit den vielen Sachen?«
»Ja, aber die sind fort. Du weißt doch, dass ich alles weggeworfen habe, oder?«
»Papa soll kommen!«, jammert Anouk. »Er soll das Licht ganz machen! Ich will in mein Bett!«
Lisa seufzt leise. »Ich auch, aber das geht jetzt nicht.«
Sekundenlang ist es still, dann sagt Anouk: »Ist der böse Mann noch da?«
Leider, und zwar in meinem Bett!, denkt Lisa grimmig, sagt aber betont locker: »Ja, aber bestimmt nicht mehr lange.«
Anouk schweigt einen Moment und fragt dann: »Ist der ein Kinderschreck, Mama?«
Trotz allem muss Lisa lachen. »Nein, ein Kinderschreck ist er nicht. Aber du hast schon recht: Er ist alles andere als nett. Deshalb müssen wir genau das machen, was er will, sonst wird er wütend.«
»Und dann schlägt er dich?« Anouks Stimme hat einen besorgten Klang, gleichzeitig spürt Lisa ihre kleine Hand an der Wange. Sie drückt einen Kuss darauf, sagt aber nichts, weil sie Angst hat, ihre Gefühle sonst nicht mehr kontrollieren zu können.
Sanft schiebt sie Anouk wieder auf die Matratze, zieht die Bettdecke über ihre Schultern und singt leise, dicht neben ihrer Tochter liegend, bis diese einschläft. Sie selbst liegt wach, bis das erste fahle Morgenlicht durch das schmale Fenster fällt.
Dann steht sie auf und nimmt den Keller in Augenschein. Wie befürchtet, ist nichts hier, was sich als Waffe eignet oder mit dem sie Alarm schlagen könnte. Lediglich ein altes Transistorradio von Menno steht noch herum.
Lisa steckt es ein, dreht an ein paar Knöpfen und vernimmt zu ihrem Erstaunen ein Rauschen. Na so was, es funktioniert!
Fieberhaft sucht sie einen Nachrichtensender. Eine gute Viertelstunde läuft noch Musik und Werbung, dann endlich beginnen die Sechsuhrnachrichten – und sofort geht es um Kreuger:
 
Eine Sondereinheit des Landespolizeikorps hat die Fahndung nach dem noch immer flüchtigen Häftling Mick Kreuger übernommen, zumal der Mann eine akute Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt. Kreuger hat am Sonntag auf seiner Flucht einen Mann getötet, und mitt lerweile ist bekannt, dass er auch für den Tod seiner Familie vor zwei Jahren verantwortlich ist.
Auf einem Hocker sitzend, hält sich Lisa den kleinen Apparat ans Ohr. Sie will ihn nicht lauter stellen, weil Anouk sonst aufwacht oder Kreuger etwas mitbekommen könnte, andererseits möchte sie auch kein Wort verpassen.
 
Kreuger konnte die Trennung von seiner Familie nicht verkraften und brachte deshalb seine Frau und deren Freund und anschließend seine beiden Kinder gewaltsam um.
 
Die Stimme des Nachrichtensprechers ist emotionslos, er verliest die Meldung so unbeteiligt, als ginge es um die morgendlichen Staudurchsagen. Lisa wird schwindlig, und sie muss sich rasch an einem Regal abstützen.
Großer Gott! Er hat also tatsächlich seine Frau umgebracht. Und nicht nur sie, sondern auch noch die Kinder! Gewaltsam – was muss man sich darunter vorstellen …?
Vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie zwei große Hände einem Kind die Kehle zudrücken. Ein eiskalter Schauder überläuft sie.
Unvorstellbar! Was, um Himmels willen, geht in einem Menschen vor, der imstande ist, ein wehrloses Kind zu töten?
Hinter Lisa murmelt Anouk im Schlaf, und sie schließt die Augen, um nicht von einer Welle der Verzweiflung und Hilflosigkeit überrollt zu werden.
Rettungslos
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