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Der Keller war Mennos Reich gewesen. Er hatte dort
Regale aufgestellt und sie mit allerlei Krempel gefüllt, den Lisa
am liebsten weggeworfen hätte, von dem er sich aber nicht trennen
mochte. Altes, rostiges Werkzeug, defekte Elektrogeräte, die er
irgendwann reparieren wollte, Schuhkartons voller Flaschenkorken,
Verschlussdrähte für Müllsäcke oder leerer Batterien … Menno
bewahrte wirklich alles auf. In der Garage hatte er größere
Gegenstände wie kaputte Gartenmöbel deponiert, außerdem Fliesen
verschiedenster Größen und Farben, die man – wie er meinte –
irgendwann sicherlich noch brauchen könne.
Nach der Trennung hatte Lisa alles zum Sperrmüll
gestellt – eine Befreiung in mehrfacher Hinsicht. Seit Menno und
kurz darauf all sein Gerümpel verschwunden waren, hatte sie das
Gefühl, endlich wieder Platz zu haben, gleichzeitig empfand sie
eine beklemmende Leere.
Lisa weiß genau, was noch im Keller liegt, und
auch,
dass ihr nichts davon nutzen wird. Der einst vollgestopfte Raum
ist annähernd leer und stellt somit ein ideales Gefängnis dar.
Bevor sie ihn ausräumte, hätten unmöglich zwei Matratzen darin
Platz gefunden. Womöglich hätte Kreuger dann zu viel drastischeren
Maßnahmen gegriffen, um sie aus dem Weg zu haben.
Lisa muss wieder an Menno denken. Obwohl sie nicht
mehr zusammen sind, ruft er noch öfter mal an, um sie dies und
jenes zu fragen und so Kontakt zu halten. Lisa stört das nicht,
zumal sie selbst das Bedürfnis hat, ab und zu seine Stimme zu hören
… solange er nicht unverhofft aufkreuzt, was leider auch manchmal
passiert. Es belastet sie, ihn zu sehen, weil sie sich noch nicht
genügend von ihm gelöst hat.
Gut möglich, dass er morgen plötzlich vor der Tür
steht. Bei diesem Gedanken bricht ihr der Schweiß aus, denn wie, um
Himmels willen, soll sie ihn abwimmeln? Menno akzeptiert so leicht
kein Nein. Zum Glück weiß er nicht, dass Anouk krank ist, sonst
würde er bestimmt auftauchen. Was auch zwischen ihnen war, er ist
ein guter Vater und liebt seine Tochter aufrichtig.
»Menno …«, murmelt Lisa im Dunkeln vor sich
hin.
Sie hätten es so schön zusammen haben können
…
Mitten in der Nacht erwacht Anouk aus einem
unruhigen Traum. Kaum merkt sie, dass es um sie herum stockfinster
ist, beginnt sie zu weinen.
Lisa setzt sich auf und zieht ihre Tochter rasch an
sich.
»Ganz ruhig, mein Schatz, Mama ist bei dir. Nicht
weinen, es ist alles in Ordnung.«
Anouk wirkt erleichtert, weil sie nicht allein ist,
und schmiegt sich an ihre Mutter. »Licht …«, sagt sie mit zittriger
Stimme.
»Das Licht ist kaputt. Aber du brauchst keine Angst
zu haben, ich bin doch bei dir.«
»Licht!« Jetzt schwingt Panik in ihrer Stimme mit,
doch Lisa kann sie beschwichtigen: »Weißt du was, Schätzchen, wir
kuscheln uns ganz eng zusammen, dann macht uns die Dunkelheit
nichts aus.«
»Wo sind wir?«
Lisa kann Anouks Anspannung deutlich spüren.
»Im Keller«, sagt sie schlicht. »Wo Papas Werkstatt
war.«
»Mit den vielen Sachen?«
»Ja, aber die sind fort. Du weißt doch, dass ich
alles weggeworfen habe, oder?«
»Papa soll kommen!«, jammert Anouk. »Er soll das
Licht ganz machen! Ich will in mein Bett!«
Lisa seufzt leise. »Ich auch, aber das geht jetzt
nicht.«
Sekundenlang ist es still, dann sagt Anouk: »Ist
der böse Mann noch da?«
Leider, und zwar in meinem Bett!, denkt Lisa
grimmig, sagt aber betont locker: »Ja, aber bestimmt nicht mehr
lange.«
Anouk schweigt einen Moment und fragt dann: »Ist
der ein Kinderschreck, Mama?«
Trotz allem muss Lisa lachen. »Nein, ein
Kinderschreck ist er nicht. Aber du hast schon recht: Er ist alles
andere als nett. Deshalb müssen wir genau das machen, was er will,
sonst wird er wütend.«
»Und dann schlägt er dich?« Anouks Stimme hat einen
besorgten Klang, gleichzeitig spürt Lisa ihre kleine Hand an der
Wange. Sie drückt einen Kuss darauf, sagt aber nichts, weil sie
Angst hat, ihre Gefühle sonst nicht mehr kontrollieren zu
können.
Sanft schiebt sie Anouk wieder auf die Matratze,
zieht die Bettdecke über ihre Schultern und singt leise, dicht
neben ihrer Tochter liegend, bis diese einschläft. Sie selbst liegt
wach, bis das erste fahle Morgenlicht durch das schmale Fenster
fällt.
Dann steht sie auf und nimmt den Keller in
Augenschein. Wie befürchtet, ist nichts hier, was sich als Waffe
eignet oder mit dem sie Alarm schlagen könnte. Lediglich ein altes
Transistorradio von Menno steht noch herum.
Lisa steckt es ein, dreht an ein paar Knöpfen und
vernimmt zu ihrem Erstaunen ein Rauschen. Na so was, es
funktioniert!
Fieberhaft sucht sie einen Nachrichtensender. Eine
gute Viertelstunde läuft noch Musik und Werbung, dann endlich
beginnen die Sechsuhrnachrichten – und sofort geht es um
Kreuger:
Eine Sondereinheit des Landespolizeikorps hat
die Fahndung nach dem noch immer flüchtigen Häftling Mick Kreuger
übernommen, zumal der Mann eine akute Gefahr für die Öffentlichkeit
darstellt. Kreuger hat am Sonntag auf seiner Flucht einen Mann
getötet, und mitt lerweile ist bekannt, dass er auch für den Tod
seiner Familie vor zwei Jahren verantwortlich ist.
Auf einem Hocker sitzend, hält sich Lisa den
kleinen Apparat ans Ohr. Sie will ihn nicht lauter stellen, weil
Anouk sonst aufwacht oder Kreuger etwas mitbekommen könnte,
andererseits möchte sie auch kein Wort verpassen.
Kreuger konnte die Trennung von seiner Familie
nicht verkraften und brachte deshalb seine Frau und deren Freund
und anschließend seine beiden Kinder gewaltsam um.
Die Stimme des Nachrichtensprechers ist
emotionslos, er verliest die Meldung so unbeteiligt, als ginge es
um die morgendlichen Staudurchsagen. Lisa wird schwindlig, und sie
muss sich rasch an einem Regal abstützen.
Großer Gott! Er hat also tatsächlich seine Frau
umgebracht. Und nicht nur sie, sondern auch noch die Kinder!
Gewaltsam – was muss man sich darunter vorstellen …?
Vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie zwei große
Hände einem Kind die Kehle zudrücken. Ein eiskalter Schauder
überläuft sie.
Unvorstellbar! Was, um Himmels willen, geht in
einem Menschen vor, der imstande ist, ein wehrloses Kind zu
töten?
Hinter Lisa murmelt Anouk im Schlaf, und sie
schließt die Augen, um nicht von einer Welle der Verzweiflung und
Hilflosigkeit überrollt zu werden.