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Als Erstes wird ihr bewusst, dass sie kein Wasser
sieht, obwohl welches da sein müsste. Gleich darauf ein lautes
Klatschen, und sie schlägt mit der Stirn aufs Lenkrad. Sekundenlang
ist ihr schwarz vor Augen, aber das Wasser um ihre Knöchel bringt
sie rasch wieder zu Bewusstsein. Noch reichlich benommen, öffnet
Senta die Augen und legt die Hand an die Stirn. Lichtblitze jagen
über ihre Netzhaut, und der Schädel pocht schmerzhaft.
Panik erfasst Senta.
Draußen sieht sie Wasser, dunkelgraues Wasser. Ihre
Finger umklammern das Lenkrad, die Angst lähmt sie von Kopf bis
Fuß. Sie kann sich weder bewegen noch einen klaren Gedanken fassen.
Wie erstarrt sitzt sie da, als könnte sie sich damit ihrer
furchtbaren Lage entziehen.
Inzwischen umspielt das Wasser ihre Knie. Die
hochziehende Kälte lässt sie laut aufschreien: Der Panzer der
Erstarrung bricht auf, sie schafft es, das Licht anzuschalten,
und tastet mit zitternden Fingern nach dem Gurtschloss.
Wenn man bei einem Unfall mit dem Auto im Wasser
landet, hat Senta einmal gelesen, soll man warten, bis das Auto
vollgelaufen ist, dabei bilde sich eine Luftblase im oberen
Bereich, in der man weiterhin atmen könne. Aber das ist Unsinn,
denn die Luftblase hält sich nicht immer lange, und falls doch,
dann wandert sie beim Sinken oft nach hinten ab. Das Dümmste, was
man tun kann, ist also zu warten, bis die Türen sich nicht mehr
öffnen lassen und die elektrischen Fensterheber den Dienst
versagen. Man hat ziemlich genau zehn Sekunden Zeit, in denen die
Seitenfenster noch aufgehen, zehn lebensrettende Sekunden, um sich
zu befreien. Mit einem Nothammer kann man ein Fenster
einschlagen.
Aber Senta hat keinen solchen Hammer.
Blindlings löst sie den Gurt, dann packt sie den
Griff und versucht, die Tür zu öffnen. Es gelingt ihr nicht. Wie
eine Besessene drückt sie auf den Knopf für die Fensterheber, aber
die Elektronik funktioniert nicht mehr, die Seitenfenster bleiben
unerbittlich geschlossen und trennen sie von der Außenwelt. Die
Scheinwerfer, die eben noch breite Lichtstreifen im trüben Wasser
gezogen haben, verlöschen.
Am besten entkommt man durch ein Seitenfenster,
erinnert sie sich. Die Windschutzscheibe besteht aus Verbundglas
und lässt sich deshalb kaum einschlagen. Sie dreht sich auf dem
Fahrersitz, presst den Rücken gegen die Tür und versucht mit aller
Kraft, das Fenster auf der Beifahrerseite einzutreten. Das Wasser
leistet
Gegendruck. Sie schafft es einfach nicht, fest genug zuzutreten,
zumal ihre Pfennigabsätze immer wieder abrutschen. Kostbare
Sekunden verstreichen, während sie die Schuhe abstreift, dann
versucht sie es erneut mit bestrumpften Füßen.
Inzwischen ist das Wasser auf Sitzhöhe gestiegen
und schwappt um ihre Hüften. Sie keucht vor Angst und tritt immer
wieder zu. Aber das Glas des Seitenfensters gibt nicht nach.
Wider besseres Wissen drückt sie noch mehrmals fest
auf den Knopf für die Fensterheber – vergeblich. Graues Wasser
umströmt sie, steigt auf Brusthöhe. Schluchzend tritt sie weiter
gegen die Scheibe, obwohl ihre Muskeln von der Kälte bereits steif
werden und ihre Kraft erlahmt.
Seltsam, woran man in so einer Situation denkt: Bis
man ertrinkt, vergehen drei bis fünf Minuten, eineinhalb davon bei
vollem Bewusstsein. Eineinhalb Minuten sind keine lange Zeit, bis
es tatsächlich so weit ist und einem klar wird, dass das neunzig
Sekunden Todeskampf bedeutet. Sind die Sauerstoffreserven
schließlich aufgebraucht, gelangt kein Blut mehr zum Gehirn, und
man wird binnen zehn Sekunden bewusstlos. Alles Faktenwissen aus
irgendeinem blöden Zeitungsartikel …
Fröstelnd und zähneklappernd liegt Senta im Wasser.
Sie zieht die Beine an und setzt sich wieder auf.
Das Auto sinkt, immer schneller strömt das Wasser
in den Innenraum. Es reicht ihr bereits bis zum Kinn, und sie kniet
sich auf den Sitz, um ein paar Sekunden zu gewinnen. Eine kleine
Chance bleibt ihr noch.
Ihr Denken funktioniert klarer denn je: Wenn die
Seitenfenster nicht mehr aufgehen, muss man warten, bis der Wagen
auf den Grund gesunken ist. Lange kann das nicht mehr dauern; sie
muss sich immer weiter nach oben recken, um Luft zu bekommen. Dann
ist er da, der Moment, in dem ihr Gesicht das Autodach berührt.
Wasser überspült Nase und Augen, und sie hat den letzten Atemzug
genommen.
Mit einem sanften Stoß kommt das Auto am Grund des
Kanals auf. Mit einem Mal ist es unheimlich still und düster um
sie.
Senta tastet nach der Tür. Nun, da das Auto
gesunken ist, müsste der Wasserdruck eigentlich abnehmen, sodass
sich die Tür öffnen lässt. Sie kann ziemlich lange die Luft
anhalten, weiß aber, dass ihre Überlebenschancen mit jeder Sekunde
abnehmen. Ihre Hand findet den Griff, sie zieht daran und drückt
zugleich mit der Schulter gegen die Tür. Tatsächlich – sie geht
einen Spalt auf! Senta schöpft neue Hoffnung und presst mit aller
Kraft, aber durch die Anstrengung atmet sie versehentlich zu stark
durch die Nase aus. Kostbare Luft verschwindet aus ihrer Lunge.
Beklemmung macht sich breit, und das Herz klopft ihr bis zum
Hals.
Ihre Gier nach Sauerstoff wird immer größer, sie
muss sich zusammenreißen, um nicht den Mund aufzumachen. Die Lunge
schreit nach Luft. In Todesangst wirft Senta sich mit ihrem ganzen
Gewicht gegen die Tür. Sie geht ein Stückchen weiter auf. Mühsam
zwängt sie den Arm durch den Spalt und versucht die Schulter
nachzuschieben. Quälend langsam, als glitte sie durch dicken Sirup,
öffnet sich die Tür.
Plötzlich taucht neben ihr etwas Dunkles auf. Sie
wird am Arm gepackt und ganz aus dem Wagen gezogen. Ein fester
Griff um ihre Taille, und es geht nach oben.
Langsam, viel zu langsam bewegen sie sich in die
Höhe. Den Blick starr auf die zitternde Helligkeit über ihr
gerichtet, kämpft Senta sich empor. In ihren Ohren rauscht es, das
Erstickungsgefühl erfasst nun auch die Luftröhre. Nur noch ein
kleines Stück. Ihr Retter schwimmt mit kräftigen Zügen, viel
schneller, als sie es selbst gekonnt hätte. Aber in ihrer Lunge ist
so gut wie kein Sauerstoff mehr, vor ihren Augen tanzen immer
größere schwarze Flecke.
Um ein Haar entgleitet sie ihm, doch er packt
kräftiger zu, zieht sie weiter nach oben.
Sentas Körper erschlafft, gibt den Kampf auf. Ihr
Retter hingegen scheint nicht ans Aufgeben zu denken, das verrät
sein Griff, dennoch sackt ihr Kopf zur Seite. Gleich muss sie den
Mund aufmachen, es geht nicht anders. Ihre Lippen, die sie die
ganze Zeit fest zusammengepresst hatte, geben nach. Sie weiß, das
ist der Anfang vom Ende, binnen weniger Augenblicke wird sich ihre
Lunge mit Wasser füllen.
Sie schafft es, den Mund noch kurz geschlossen zu
halten, dann wird der Sauerstoffmangel übermächtig, und sie hat das
Gefühl, dass ihr Kopf explodiert.
Mit weit offenen Augen sieht sie die
Wasseroberfläche über sich, ganz nah jetzt, aber es ist zu spät.
Farben zucken vor ihren Augen, sie sieht Sterne, dann fällt sie in
einen tiefen, dunklen Schacht. Es ist wie eine Befreiung.