Epilog
„Alle Offiziere in die Messe! Sofort!“
Die 90 Männer sahen sich überrascht an. Ein
solcher Befehl hatte Seltenheitswert. Aber da sie Gehorsam gewohnt
waren, gingen sie schulterzuckend weiter ihrer Arbeit nach oder
drehten sich in der Koje auf die andere Seite, während 31 von ihnen
alles stehen und liegen ließen, in die Messe eilten und sich dort
stehend zusammendrängten.
Nikolai Sinofejew blickte in die Runde und
zeigte auf einen Mann. „Wie viele haben ihre Bewerbung
abgegeben?“
„Alle, Genosse Kapitän!“
„Keine Ausnahme?“
„Nein.“
Sinofejew blickte seine altgedienten
Offiziere an. „Möchte jemand seine Bewerbung wieder
zurückziehen?“
Schweigen.
„Gut.“ Sinofejew wandte sich wieder an den
älteren Offizier. „Wie haben sich die neuen Mannschaften
gemacht?“
„Gut und verläßlich“, meinte derselbe Mann.
„Man kann mit ihnen effizient und vertrauensvoll
zusammenarbeiten.“
„Und die beiden Offiziere?“
Der Mann blickte zu zwei jüngeren Männern
hinüber. „Fehlende Routine“, meinte er dann. Und nach einer kleinen
Pause fügte er hinzu: „Bei beiden.“
Sinofejew nickte und sah langsam von links
nach rechts über die Runde. Die Altgedienten blickten ernst,
während bei den beiden jungen Offizieren ein leichtes Grinsen über
die Gesichter huschte.
„Es ist eine Ehre, unter Ihnen zu dienen,
Genosse Kapitän!“ Einer der beiden jungen Anwärter entbot den
militärischen Gruß.
Sinofejew sah ihn einen kurzen Moment an und
grunzte.
„Darf ich eine Frage stellen, Genosse
Kapitän?“ Der andere junge Leutnant sah ihn fragend an.
„Nur zu“, brummte Sinofejew.
„Wir beobachten jetzt seit fast zwei Wochen
diese Korvette. Warum?“
Sinofejew blickte ihn einen Moment
schweigend an. „Wir befinden uns seit zwei Wochen auf einer
Testfahrt, um zu sehen, ob die neue Technik auch ordentlich
funktioniert“, meinte er dann langsam.
„Aber warum beobachten wir dann diese
Korvette?“
Sinofejew blickte ihn amüsiert an. Doch den
altgedienten Offizieren entging nicht, daß die Wärme in seinem
Blick dabei unter den Gefrierpunkt sank.
„Weil ich es so will, HERR Unterleutnant“,
meinte er schließlich leise. „Oder wünschen HERR Unterleutnant eine
vorherige Erklärung meiner Befehle?“
„N-nein … natürlich nicht, Genosse
Kapitän!“
„Eure Güte, Hochwohlgeboren, werden für mich
steter Quell neuer Anstrengungen sein“, spottete Sinofejew und
blickte wieder in die Runde. Diesmal grinsten seine altgedienten
Offiziere, während sich bei den jungen Nervosität breitmachte.
Schließlich seufzte Sinofejew und wedelte mit einer Hand. „Macht
Euch alle wieder an die Arbeit!“
Die Offiziere drängten sich heraus.
„Alexej!“, rief der Kommandant
hinterher.
Einer der jungen Offiziere blieb irritiert
stehen, wurde aber von den Älteren, die genau wußten, wer gemeint
war, weitergeschoben.
Einer der älteren war grinsend
stehengeblieben. Es war derselbe, der als einziger geredet
hatte.
„Dich brauche ich hier noch“, meinte
Sinofejew. „Komm her und setz Dich!“
Alexej Petrow, Sinofejews Eins-O, gehorchte
und blickte seinen Kommandanten dann erwartungsvoll an.
„Gib mir alle Bewerbungsunterlagen; ich
sorge dafür, daß sie alle vom GRU übernommen werden.“ Sinofejew
verzog seinen Mund zu einem leichten Grinsen. „Erleichtert die
Befehlskette, wenn die gesamte Stammcrew drin ist.“
Dann lehnte er sich zurück. „Nun zu den
Neuen. Fangen wir mit den Offizieren an. Fehlende Routine bei
beiden, hm?“, grunzte er.
„Ja, die beiden kann man wohl vergessen“,
meinte Petrow und seufzte. „Das meint auch Sascha. Er kam gestern
abend zu mir und sagte, er würde sie am liebsten beide mit einem
Fußtritt auf den Mond befördern.“
„Sascha? Der ist doch sonst so geduldig mit
neuen Leuten an Bord!?“
„Eben.“ Petrow guckte den Kommandanten einen
Moment verdrießlich an und seufzte dann wieder. „Aber ich wäre mit
dem Fußtritt auch dabei.“
„Naja, vom Speichellecker bis zum
Infragesteller hatten wir ja eben in nur zwei Minunten die volle
Bandbreite an Ungenießbarkeiten erlebt“, brummte Sinofejew. „Nicht
zu fassen, wer und was hier alles Offizier sein will.“
Dann blickte Sinofejew auf. „Die beiden
werden nicht übernommen. Und was sagst Du zu den neuen
Mannschaften?“
„Die sind in Ordnung. Willig und
diszipliniert. Sie lernen schnell – und stellen keine Fragen.“
Petrow grinste. „Und wir haben für die beiden Abgänger
möglicherweise schon Ersatz. Eigentlich war das Saschas Idee. Ich
habe mir die beiden dann mal vorgenommen und bin auch ihre Akten
nochmal durchgegangen.“
„Und?“
„Es ist einen Versuch wert.“
„Wenn die beiden Möchtegern-Leutnants unser
Boot verlassen haben, wird Mehrarbeit auf die Offiziere der
Stammcrew zukommen.“
„Damit haben die längst gerechnet – und die
Mehrarbeit schon übernommen. Ist gottseidank nicht viel.“ Petrow
grinste. „Es ist doch gut, daß dieses Boot trotz 50 Prozent mehr
Mannschaften mit derselben Zahl an Offizieren auskommt wie das alte
Akula. Die 'Kazan' ist wirklich ein hervorragendes U-Boot.“
„Oh ja.“ Sinofejew nickte zustimmend. Dann
wiegte er den Kopf. „Dennoch hätte ich gern zwei
Elektronik-Offiziere zusätzlich hier. Schon wegen der Optronik und
dem sphärischen Sonar.“
Petrow grinste. „Genau deswegen schlage ich
Dir die beiden Neulinge vor – Maxim Smirnow und Daniil Sokolow. Es
ist im Moment hier deren Aufgabengebiet.“
„Ah, die beiden?! Na, das ist doch schon mal
nicht schlecht.“ Sinofejew schmunzelte. „Und können sie sich gegen
ihre anderen Kameraden, die neu sind, auch durchsetzen?“
„Sie sind gut in dem, was sie tun.
Fachleute.“ Petrow grinste. „Auch die Stammcrew respektiert
sie.“
„Dann bereite die Unterlagen für die
Beförderung der beiden zum Mitschman vor.“
„Ja, aber die Verordnung mit den
Bestimmungen für die Beför- ...“
„Alexej.“ Sinofejew seufzte und verzog sein
Gesicht. „Ich brauche keine Truppe, die unter bürokratischen
Bedingungen funktioniert; ich brauche eine Truppe, die unter
tatsächlichen Bedingungen funktioniert. Also komm mir jetzt bitte
auch nicht mit bürokratischen Nickeligkeiten wie fehlendem
'Kursant'-Status und ähnlichem.“
Er deutete mit dem Daumen nach oben. „Über
uns fährt jemand mit einer Korvette, der bei seiner Sonarmeisterin
auf die dort eigentlich vorgeschriebene Probezeit gepfiffen hat.
Seine IT-Expertin würde als Angsthäschen keinen einzigen
Psychologie-Test bestehen. Und mit dieser bürokratisch nicht
korrekten Crew schafft er es, jemandem so auf die Nerven zu gehen,
daß auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt wurde. Was sagt Dir das?“
Petrow grinste. „Daß ich die Unterlagen für
die Beförderung vorbereiten werde, weil mich diese Schilderung auch
wieder daran erinnert hat, wie man bei Untergebenen Loyalität
herstellt.“
Sinofejew grunzte zufrieden. Dann deutete er
mit dem Daumen wieder nach oben. „Apropos – gibt es was Neues von
meinem Freund?“
„Nein. Er fährt mit seiner Korvette
unverändert Richtung Bantry.“ Petrow zögerte. „Was ich nicht ganz
verstehe – wir haben doch eine niedermagnetische Stahlhülle und
spezielle Schrauben wegen der Kavitation. Eigentlich hätte er doch
gar nicht in der Lage sein dürfen, uns zu orten?!“
„Vergiß nicht, was ich Dir gerade über seine
Leute gesagt habe.“ Sinofejew blickte ihn ernst an. „Und Du hast
ihn ja in Aktion erlebt.“ Dann lächelte er matt. „Unsere Technik an
seiner Crew auszuprobieren ist deswegen auch keine schlechte Idee,
wie ich finde. Ortet er uns denn auch jetzt?“
„Wie es scheint, nicht.“
„Na siehst Du.“
„Möchte mal wissen, was es mit diesem
Kopfgeld auf sich hat“, murmelte Petrow und blickte seinem
Kommandeur ins Gesicht. „Wir müssen hier deswegen den Schutzengel
und Aufpasser spielen, aber niemand, mit dem ich gesprochen hatte,
weiß Näheres.“
Sinofejew, der die unausgesprochene Frage
verstanden hatte, schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht. Ich weiß
nur, daß das eine anonyme Quelle ist, die sich mit demjenigen zur
Auszahlung in Verbindung setzen will, der die Korvette versenkt
oder sonstwie zerstört hat.“
„Eine verdeckte Operation der
Regierung?“
„Das glaube ich nicht. Denn von da kam der
Befehl, auf ihn aufzupassen.“ Sinofejew stand auf und ging zu
seinem Wandsafe, aus dem er ein Blatt Papier holte, das er seinem
Eins-O zeigte. „Lies das“, forderte er ihn auf.
„Das ist ja ein Befehl direkt vom
Präsidenten!“, staunte Petrow. „Der Präsident selber hat befohlen,
die Korvette zu schützen?!“ Verwirrt sah er seinen Kommandanten an.
„Seit wann ist ihm eine Korvette so wichtig?“
„Seit sich die politische Lage zuspitzt“,
seufzte Sinofejew. „Seit jemand versucht hat Doroschkow zu
ermorden, der, wie Du weißt, loyal zu unserem Präsidenten steht.“
Er zog ein verdrießliches Gesicht. „Wladimir Wladimirowitsch hat
nicht nur Freunde. Und das kann unser Land in eine sehr schlimme
Lage bringen.“
„Wie meinst Du das?“
„Naja, wie Du weißt, testen wir die
Reaktionsschnelligkeit der NATO-Streitkräfte. Der Präsident tut das
unter anderem, um an deren Flexibilität unsere Flexibilität
auszurichten. Aber natürlich nicht nur – oder?“ Sinofejew grinste
seinen Eins-O auffordernd an.
Petrow grinste zurück. Er wußte, daß sein
Vorgesetzter manchmal gern den Lehrmeister herauskehrte. Aber er
spielte das Spiel gerne mit - nicht nur, weil Sinofejew sein
Kommandant war. Sondern weil er wußte, daß er einiges dabei lernen
konnte.
Also dachte er einen Moment nach. „Naja, ich
nehme an, er will auch herausfinden, zu welchen taktisch-operativen
Antworten die NATO greift.“
Sinofejew grinste. „Falsch. Die sind
kalkulierbar und vorhersehbar und daher planbar.“
Petrow stutzte. „Ja, aber Du selber hast
doch eben ...“
„Flexibilität ist nicht dasselbe wie
taktisch-operative Maßnahmen", unterbrach ihn Sinofejew.
„Flexibilität bei der NATO bedeutet, welches Land welche
Teilaufgaben in welchem Zeitraum bedient. Wie die Einzelverbände
aus den unterschiedlichen Ländern zusammenarbeiten. Wie schnell sie
sich organisieren und dislozieren. Die Gesamtaufgaben oder
Maßnahmen als solche vorherzusagen ist kein Kunststück.“
„Aber warum macht er es denn dann?“
„Ganz einfach: Um die Reaktionen der Völker
und ihrer politischen Eliten zu analysieren.“
Petrow grinste. „Da gibt's ja nun nicht
viel. Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen verhalten die
sich.“
„Na, da ist schon noch mehr", dozierte
Sinofejew. „Wie ist das Echo in den Medien? In den sozialen
Netzwerken? Die Bereitschaft der Völker ihre Heimat zu verteidigen?
Wie stehen die Völker zu ihren Eliten? Stehen sie hinter denen? Vor
allem aber: Wie stehen sie zu uns?“
Sinofejew schmunzelte und lehnte sich
zurück. „All das kannst Du mit diesen kleinen Provokationen im
Luftraum und auf See herausfinden. Sie tun niemandem weh, geben
aber aufschlußreiche Informationen über die Befindlichkeit in
Europa. Und daraus wiederum verbieten oder ergeben sich politische
Handlungsmöglichkeiten und Szenarien.“ Er blickte Petrow ins
Gesicht. „Psychologie, lieber Alexej. Psychologie.“
Er deutete auf das Blatt Papier mit dem
Präsidenten-Befehl. „Und jetzt stell Dir vor, diese Korvette würde
versenkt. Wem würde man die Schuld geben?“
Petrow fuhr sich mit der Hand übers Kinn.
„Verstehe“, murmelte er dann. „Und unseren Dementis würde man nicht
glauben.“
„Natürlich nicht. Niemand würde das. Und der
Präsident weiß das sehr genau.“ Sinofejew lächelte. „Er wußte auch
von der früheren Freundschaft zwischen Schmitz und mir. Deswegen
gab er ja auch mir den Auftrag.“
„Du hattest mit ihm gesprochen? Mit dem
Präsidenten?“
„Ja.“ Sinofejew nickte. Dann grinste er.
„Das war der ofiziell zweitägige Urlaub inklusive Hin- und
Rückfahrt, zwei Stunden Wartezeit und sieben Minuten
Gespräch.“
Petrow blickte sinnierend vor sich auf die
Tischplatte. „Wer wohl dann hinter dem Kopfgeld stecken mag, wenn
es die Regierung nicht ist?“, fragte er dann.
„Tja. Gute Frage.“ Sinofejew verzog das
Gesicht. „Das weiß keiner.“
„Einer der Oligarchen?“
„Gut möglich. Aber Spekulation. Vielleicht
steckt auch die CIA dahinter.“
„Wie kommst Du denn darauf?“ Petrow guckte
ihn erstaunt an.
„Naja, da war damals zusammen mit der
Doroschkow-Geschichte diese sehr seltsame Aktion mit den
Dokumenten“, meinte Sinofejew nachdenklich. „Du erinnerst
Dich?“
„Natürlich“, nickte Petrow.
„Ich bin anfangs davon ausgegangen, daß
unser Auslandsgeheimdienst dahintersteckte und scharf auf die
Dokumente war. Aber der kam erst später dahinter. Weswegen wir
damals ja auch schnell auslaufen mußten.“
„Aber wer steckt denn dann dahinter?“
Der Kommandant seufzte. „Das ist die
Frage.“
„Sind denn damals die Leute von dem
Alfa-Team nicht verhört worden? Und die U-Boot-Besatzung?“
„Doch, natürlich.“ Wieder ein Seufzer. „Die
Mitglieder des Alfa-Teams wurden unter Drogen verhört. Aber sie
wußten nichts von Hintermännern. Ihren Teamleiter fanden die
Beamten dann mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Zelle, als
sie ihn zum Verhör abholen wollten. Und der U-Boot-Kapitän wurde
auf dem Weg nach Hause aus einem fahrenden Auto erschossen. Was
bedeutet, daß es von den damals Beteiligten keinen Mitwisser mehr
gibt, der Hintergründe kennen könnte.“
„Diese Dokumente“, fuhr er dann fort,
„sollten zwar nach Rußland gelangen – aber nicht in die Hände der
Regierung. Vielleicht will die CIA Gegner des Präsidenten gegen ihn
aufhetzen. Das ist ja ein Lieblingsspiel von denen. Stell Dir vor,
DIE würden heimlich die Korvette versenken – wer stünde als
Schuldiger da?“
„Ach, Du liebe Zeit!“, murmelte
Petrow.
„Genau.“ Sinofejew sah seinen Eins-O ernst
an. „Es gibt bei uns jemanden, der ein Spiel nach eigenen Regeln
spielt. Vielleicht mit ausländischer Hilfe. Und er spielt es nach
Regeln, die wir nicht kennen. Regeln, von denen wir aber jetzt
schon wissen, daß sie sich gegen unser Land richten.“
„Das hört sich aber nicht gut an.“
„Ist es auch nicht.“ Sinofejew blickte
grimmig. „Sowas kann einen Krieg auslösen.“
ENDE