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Soso, da will jemand jetzt auf einmal doch nicht mitfahren.
Der Constable sah aus den Augenwinkeln, wie der Campervan die Reihe verließ und langsam Richtung Hauptstraße steuerte.
Er überlegte. Von den Einheimischen wäre keiner zu einem Mord fähig gewesen. Und die paar Touristen, die er sich hier bisher angeguckt hatte – das Pärchen aus Kanada, die Familie aus Bristol, der hier ein Ferienhaus gehörte, die beiden fröhlichen Holländer, die hier partout angeln wollten, und das deutsche Lesbenpärchen, das ungeachtet der Jahreszeit in der ersten Nacht doch tatsächlich ein Zelt am Strand aufgeschlagen hatte auf der Jagd nach Polarlichtern und großen Fischen – nein, die kamen nach seiner Überzeugung alle nicht infrage. Bis auf die beiden Franzosen.
Er sah zum Ende der Schlange. Nur noch zwei Campervans. Ob da der Mörder noch drinsitzen könnte? Egal, das Nächstliegende waren die beiden. Zwei Ohrfeigengesichter, vor allem das blonde Narbengesicht. Hatten ihm nicht direkt in die Augen gesehen. Waren seinem Blick ausgewichen. Solche Leute waren nach seiner Erfahrung samt und sonders falsche Fuffziger. Und jetzt fuhren sie weg.
All diese Gedanken waren ihm in Sekundenschnelle durch den Kopf gegangen. Er begann zu seinem BMW zu spurten und schalt sich einen Dummkopf, daß er ihn oben an der Wache abgestellt hatte. Nach kurzer Zeit hatte er ihn erreicht und drängte sich mit ihm in die Schlange der Fahrzeuge, die gerade die Fähre verlassen hatten und nun, wie er, auf die Hauptstraße zustrebten. Rücksichtslos hupte und drängelte er die Fahrzeuge zur Seite. Sein Wagen kam ihm dabei zugute. Der X5 war zwar schon eine alte Karre, funktionierte aber noch tadellos. Und kein Autofahrer mag es, wenn ein kompakt gebautes Polizeifahrzeug ihm hinten auf die Pelle rückt.
So drängelte er sich nach und nach an den Fahrzeugen vorbei, bis er schließlich nur noch den Campervan vor sich hatte.
Er grinste. Jetzt haben sie das Tempolimit überschritten. Ein Grund mehr, sie anzuhalten.
Ihm war klar, daß ihre Abfahrt auch andere, legale Gründe haben könnte. Auch wenn ihm jetzt keine einfielen. Aber sie hatten jedenfalls alles Recht, sich auf einer öffentlichen Straße zu bewegen. Deswegen ging der Constable streng nach Vorschrift vor, schaltete Blaulicht und Sirene ein und blinkte den Campervan mehrmals an.
Ohne Erfolg.
Stirnrunzelnd griff er nun zum Mikro und forderte sie per Lautsprecher zum Anhalten auf. Daß mit den beiden etwas nicht stimmte, stand für ihn nun fest. Aber ihm ging es darum, den Vorschriftenweg korrekt einzuhalten und nicht der Grund für irgendwelche Beschwerden von Touristen zu sein. Damit war hier zwar nicht zu rechnen. Aber man kann nie wissen. Sind manchmal ein seltsames Völkchen, diese Touristen.
Jetzt hatte er sie zum dritten Mal zum Halten aufgefordert. Ohne Erfolg.
Der Constable blies die Backen auf und atmete geräuschvoll aus. Was jetzt? Barra war ein friedliches Plätzchen. Sicher, es gab mal die eine oder andere Pöbelei, Alkohol am Steuer war insbesondere an den Wochenenden keine Seltenheit, und die Schlaglöcher auf manchen Sträßchen waren ärgerlich. Womit auch schon die wesentlichen Probleme der Insel aus polizeilicher Sicht umschrieben wären, die die Bewohner in einer Umfrage ausgemacht hatten.
Aber sowas hier? Im Normalfall brauchte er nur einmal ein Fahrzeug anblinken und die Sirene nur eine Sekunde anschalten – egal, ob bei Einheimischen oder Touristen.
Er konnte den Campervan jetzt einfach verfolgen. So lange, bis der anhielt. Und sich dann die beiden vorknöpfen. Aber was, wenn sie zum Flugplatz fahren? Ihm fielen die Schaulustigen ein, die sich dort ständig aufhielten. Was, wenn es wirklich Killer sind, die sich dort womöglich Geiseln nehmen? Und er war allein.
Grimmig griff er an sein Holster und holte die Glock heraus, die gegenwärtige Standardwaffe der schottischen Polizei. Und wieder war er froh darüber, nicht nach England gezogen zu sein, wie sein ehemaliger Klassenkamerad Sean, der ständig über den Dienst in der englischen Polizei klagte. Denn obwohl Schottland und England zum Vereinigten Königreich gehören, gibt es zwischen englischer und schottischer Polizei kleine, feine Unterschiede. Einer besteht darin, daß an der Waffe ausgebildete Polizisten in Schottland ihre Waffe seit 2013 ständig im Holster während ihres Dienstes mitführen dürfen. Ein anderer ist der Umstand, daß Mitglieder von Spezialeinheiten kreuz und quer über Schottland verstreut auf den Revieren normalen Tagesdienst versehen, wenn es für sie als Spezialeinheit nichts zu tun gibt. Ein harmloser Tourist also kann sich in Schottland bei einer normalen Straßenkontrolle unvermittelt einem bewaffneten Beamten einer Spezialeinheit gegenüber sehen.
Zu einer solchen Spezialeinheit gehörte auch der Constable. Als Angehöriger eines MIT waren Morde für ihn nichts Ungewöhnliches, zumindest in der Theorie. Denn genau das gehört zum Aufgabenbereich von Major Investigation Teams (MIT). Da es auf den Hebriden aber in aller Regel friedlich zugeht, gibt es für deren Mitglieder auf diesem Gebiet in der Praxis kaum etwas zu tun.
Was sich jetzt aber sehr schnell und drastisch ändern dürfte, dachte der Beamte. Den Flugplatz dürfen sie nicht erreichen. Und noch etwas ging ihm durch den Kopf und erweckte seinen Trotz. Wir sind keine Dorftrottel, die man nicht ernstnehmen muß! Seine Kameraden hatten damals gelästert, als er sich nach Barra versetzen ließ, während sie in Glasgow, Aberdeen und Edinburgh oder direkt im Hauptquartier in Stirling Karriere machten. Aber er lebte gern hier und hatte im Laufe der Zeit einen Lokalpatriotismus entwickelt. Und das letzte, was er mochte, waren arrogante Städter.
Er entsicherte die Waffe und ließ das Seitenfenster herunter. An die Vorschriften hatte er sich penibel gehalten. Womit jetzt der dritte Grad fällig ist! Er beugte seinen Kopf aus dem Fenster und zielte auf die Hinterreifen 50 Meter vor ihm. Das war wegen der Unebenheiten der Straße schwierig. Und er wußte, daß er den ersten Schuß versemmelt hatte. Er zielte noch einmal. Und ein drittes Mal. Mist!
Plötzlich sah er, wie die Hecktür aufschwang und den Blick auf einen Mann mit einer MP freigab, der sofort feuerte.
Der Constable duckte sich zur Seite, trat voll auf die Bremse und riß das Steuer herum. Als die Schüsse nach wenigen Sekunden aufhörten, hob er vorsichtig den Kopf. Der Campervan war jetzt rund 300 Meter weit weg, seine Hecktür geschlossen.
Fluchend stellte der Constable den Motor wieder an, wendete den BMW und nahm die Verfolgung wieder auf. Jetzt erst bemerkte er, daß die Scheiben unversehrt waren. Der Wagen schien nichts abbekommen zu haben. Vielleicht nur Warnschüsse.
Dennoch konnte er die Sache natürlich nicht auf sich beruhen lassen. Und er begann zu bereuen, daß er Erikssons Angebot ausgeschlagen hatte und erst selber auf eigene Faust nachforschen wollte. Kurz entschlossen griff er zum PTT.
„Hallo Seapol – ich brauche Eure Hilfe!“, rief er ins Mikro, während er beschleunigte. „Verdächtige unterwegs Richtung Flugplatz im Norden!“
Stirnrunzelnd wartete er auf Antwort. Es rauschte und knisterte aus der Funkanlage.
„... wiederholen ...“, kam die Antwort verzerrt und abgehackt.
Fluchend schrie er seine Bitte nochmal ins Funkmikro.
„... Verständigung ...“, klang es zwischen dem Rauschen blechern und leise aus der Anlage.
Verdammt! Wie oft hatte er dem Chief schon gesagt, daß die Funkleistung nicht ausreichend war oder irgendwas anderes mit der neuen Anlage nicht stimmte. Aber nein, das liebe Geld im Etat hatte mal wieder nicht gereicht für etwas Solides.
Er seufzte und sah sich – nunmehr langsamer fahrend – aufmerksam um. Von dem Van war nichts mehr zu sehen. Das war hier leider nicht weiter verwunderlich. Denn sie hatten längst den nordwestlichen Teil der Ringstraße erreicht. Hier wuchsen ein paar Hecken als Abgrenzung zur Straße, die Gegend war etwas dichter besiedelt – und die Straße kurviger. Er bewegte sich nun nach Osten auf die Abzweigung zum Flugplatz zu.
Da war sie schon. Er bog links ab nach Norden und wendete den Kopf nach allen Seiten. Wo stecken die?
Er fuhr eine kleine Kurve, wo der steile Hang zu seiner Linken abflachte und in sanft ansteigende und baumlose Wiesen und Weiden auslief. Rechts schob sich die Bucht mit dem weiten, weißen Sandstrand heran. Vor sich konnte er in der Ferne am Ende der Bucht schon den nur sechs Meter hohen Tower sehen und etwa 20 Menschen, die am Drahtzaun standen.
Und da war der Van. Auf der linken Seite rückwärts in eine Einfahrt zu einer Weide oder Wiese geparkt. Als er näherkam, merkte er, daß das die Einfahrt zu einem der wenigen Bungalows war, die hier standen - und er wußte auch, von wem. Die werden doch nicht etwa zum alten MacGregor gegangen sein?! Aber nein. Als er näher kam, sah er im Fahrerhaus zwei Leute. Er grinste grimmig. Jetzt hab' ich Euch!
Plötzlich bewegte sich der Van. Er fuhr auf die einspurige Straße, blieb dort quer zur Fahrtrichtung stehen – und sperrte sie dadurch ab.
Der Constable runzelte die Stirn und trat auf die Bremse. Als er noch etwa 80 Meter entfernt war, sah er, wie sich eine Tür öffnete und der Braunhaarige ausstieg und bei der Tür stehenblieb. Gleichzeitig kam der Blonde um den Wagen herum. Ohne Hast, fast gemütlich, ging er an dem Braunhaarigen vorbei zum hinteren Teil des Vans.
Der Constable wollte den BMW schon zum Stehen bringen, als er sah, wie die beiden wie auf Kommando in ihre Jacken griffen – und dann MP's in ihren Händen hielten.
Sie begannen auf ihn zu feuern.
Diesmal waren es keine Warnschüsse.

Vor dem Sturm
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