KAPITEL 22
Sehnsucht
1987
Politik: Barschel-Affäre.
Gesellschaft: Mathias Rust, der Kreml-Flieger.
Im Kino: Dirty Dancing (Patrick Swayze);
Crocodile Dundee (Paul Hogan).
Hitparade: Stand by me (Ben E. King).
TV: Scheibenwischer (Dieter
Hildebrandt);
Schwarzwaldklinik (Klausjürgen Wussow);
Einer wird gewinnen (Hans-Joachim Kulenkampff).
Literatur: Das Geisterhaus (Isabel Allende);
Die Liebe in den Zeiten der Cholera (Gabriel Garcia
Márquez);
Wenn Frauen zu sehr lieben (Robin Norwood).
Wörter des Jahres: AIDS. Glasnost.
Ozonloch.
Gudrun schaut sich um: Die Luft ist rein. Sie ist aufgeregt, denn nach langer Zeit kann sie sich endlich wieder mit Wolfgang treffen. Mit ihrer Schwester Hilde, die 1973 nach Chile beordert wurde, arbeitet sie in der Käserei. Aber heute ist sie allein; da fährt Hilde ins zweihundert Kilometer entfernte Talca, um eine Ausstellung von Kunsthandwerk anzuschauen, Geschirr, Möbel, Kleidung und Speisen. Hilde gehört zu den Privilegierten, ihr werden solche Touren genehmigt. Sie gehorcht Schäfer aufs Wort, daher vertraut er ihr auch den Wachtposten am Tor an. Vertrauen ist das falsche Wort; »der General«, wie Schäfer sich nach dem Militärputsch 1973 auch gerne nennen lässt, denn auch die chilenische Polizei hört auf sein Wort, »der General« vertraut niemandem. Auf Schäfers Anweisung hin kontrolliert Hilde, wer durch das Eingangstor herein- und wer hinausdarf.
In Talca soll Hilde sich Anregungen für eigene Produkte holen, die sie dann im Casino familiar anbieten können. Das Restaurant Casino familiar, Aushängeschild und gute Einnahmequelle der Colonia Dignidad, liegt fünfzehn Kilometer entfernt, in der Nähe der Kleinstadt Bulnes. Die deutsche Küche ist sehr beliebt bei den Chilenen, so wie man in Deutschland gern chinesisch essen geht. Eisbein mit Sauerkraut, Wiener Würstchen, Bier- und Räucherwurst, Enten-, Gänse- und Hirschbraten, Schwarzbrot mit Schinken, Gänseschmalz, Schokoladen-, Sahnetorten und Kuchen, Stollen, Spekulatius, Honigkuchen, alles selbst hergestellt. Für chilenische Familien und Touristen ist das Casino familiar ein beliebter Ausflugsort. Auch Pinochet und besonders Geheimdienstchef Manuel Contreras, »der Mamo«, schauen gern mal rein und genießen außer Speisen auch deutschen Service, deutsche Sauberkeit, deutschen Gehorsam und deutsche Perfektion. Kündigt Walter Rauff seinen Besuch im Casino an, sagt Schäfer: »Heute rauf ich mir die Haare.« Dann wissen die, die es verstehen sollen, der Gaswagen-Erfinder ist gemeint, der sich im tiefen Süden Chiles zur Ruhe gesetzt hat.
Als Gudrun und Wolfgang das erste Mal voneinander getrennt wurden, ließ Schäfer auch Gudrun im Fundo arbeiten, um sie zügig und so weit wie möglich aus Wolfgangs Blickfeld zu entfernen. Nicht Eifersucht ist der Grund; Schäfer will vor allem verhindern, dass seine sexuellen Übergriffe auf die Jungen auch bei den Frauen bekannt werden. In der Intimität einer nahen Beziehung sieht er das größte Risiko. Zu Recht.
Kellnern darf Gudrun allerdings nicht im Casino familiar, zu viel Freiheit, zu viel Risiko bedeutet der Kontakt mit den fremden Gästen, unter denen auch Deutsche sind. Nur manchmal darf sie die Tische abwischen. Zwar dürfen die Kellner und Kellnerinnen über die Bestellung hinaus nicht mit den Gästen sprechen, auch tragen sie falsche Namen am Revers, »Fritzl« oder »Gustl«, bayerisch klingt hier immer gut, aber Schäfer lässt Gudrun trotzdem lieber nur in der Küche arbeiten. Doch durch die Fenster sieht sie die chilenischen Paare draußen spazieren gehen, sieht, wie sie sich in den Arm nehmen. Da denkt sie an Wolfgang und spürt wieder Sehnsucht.
»Mir bricht es das Herz, wenn ich die Pärchen im Park spazieren gehen sehe, weil es mir nicht vergönnt ist, zu lieben«, sagt sie. Ausgerechnet zu Schäfer sagt sie das, denn der ist ja der Seelsorger hier und der Einzige, bei dem man sich aussprechen darf.
Innerhalb von einer halben Stunde muss sie ihre Sachen packen, kommt wieder weg vom Casino familiar und muss zurück ins Fundo. Kurt Schnellenkamp fährt den Wagen, ihre älteste Schwester ist Beifahrerin. Die beiden bedrängen Gudrun, zu reden, aber die schweigt. Die Angst, dass sie wieder ins Krankenhaus muss, »behandelt« wird, raubt ihr die Sprache. Und so kommt es dann auch.
Nun arbeitet sie also in der Käserei zusammen mit ihrer Schwester Hilde. Doch heute ist Hilde weg, und das ist Gudruns Chance. Es ist sehr aufregend: Sie muss es schaffen, dass Wolfgang sie sieht, um ihm ein Zeichen zu geben. Aber kein anderer darf es sehen. Dann muss sie den Schlüssel vom Keller kriegen und unauffällig in den Keller gehen. Wolfgang muss auf einem anderen Weg in Keller. Es reicht gerade für eine Umarmung, ein paar Worte, ein paar Küsse, ein wenig Zärtlichkeit. Dann treibt die Angst vor Entdeckung sie wieder auseinander.
Gudrun muckt auf, sagt Worte zu Schäfer, die sie nicht sagen darf und die ihr selbst tollkühn erscheinen: »Das ist hier ja wie in der Ostzone!« Ein fürchterlicher Vorwurf aus Sicht der Kolonisten, deren politische Einstellung in der Adenauer-Ära der Fünfzigerjahre stehen geblieben ist. Dann wird sie persönlich: »Seelsorger, was soll das eigentlich heißen? In meiner Bibel steht nichts von Seelsorger.« Das ist ein direkter Angriff auf Schäfer, den alleinigen Seelsorger der Kolonie. Da wird sie wieder »behandelt«. Ihre Erinnerung reicht dann immer nur bis zur Spritze. Und bis zum Gefühl eines starken Drehschwindels. Die Spritze gibt ihr jedesmal Dorothea Witthahn, die Ehefrau von Hartmut Hopp.
Die Fluchtversuche nehmen zu, das zwingt Schäfer zu einer Reaktion. »Wir halten keinen«, sagt er auch hier, wie schon im Jugendheim Heide, »jeder kann gehen, und keiner muss bleiben. Wer wegwill, bekommt seine Papiere. Aber er soll das nicht tun wie ein Dieb in der Nacht, er soll es sagen.«
Eines Tages nimmt sie Schäfer beim Wort, geht zu ihm und verlangt ihre Papiere. Drei Mal geht sie hin. Die Drei ist eine magische Zahl, vieles wird drei Mal getan oder gesagt hier. Vielleicht bedeutet das auch nur, immer wieder versucht sie, Schäfer umzustimmen. Sie lässt nicht locker. »Du hast es versprochen, jetzt halte dein Wort«, sagt sie. »Ich will meine Papiere haben, ich bleib hier nicht.«
»Wo willst du denn hin?«, fragt Schäfer scheinheilig.
»Zurück nach Österreich zu meinen Eltern«, antwortet sie. Das könnte dir so passen, Wagnerpest, denkt Schäfer. Gudrun zu ihren Eltern zurückzulassen, das wäre Munition für Wilhelm Wagner, den Schäfer vor zwanzig Jahren ins Gefängnis gebracht hat. Ein Insiderbericht über Folter in der Kolonie ist das Letzte, was Schäfer gebrauchen kann.
»Geh in die Küche und warte dort«, sagt Schäfer schließlich.
Kann das wahr sein?, fragt sich Gudrun. Habe ich ihn wirklich überzeugt? Weil ich so hartnäckig geblieben bin?
Sie geht hinüber ins Freihaus, genannt nach Eduardo Frei Montalva, dem chilenischen Präsidenten von 1964 bis 1970. Schäfer weiß immer einen Weg, sich einzuschmeicheln, und wenn es eine ehrende Namensvergabe ist. Frei starb 1982 an einer Senfgas- und Thallium-Vergiftung, für die die DINA verantwortlich gemacht wird. Da Schäfer mit Manuel Contreras befreundet ist, weiß er auch dies.
Nun wartet Gudrun in der Küche vom Freihaus und kann ihr Glück kaum fassen: Sie wird ihren Pass bekommen. Doch auch der Zweifel mischt sich in ihre Gedanken: Warum soll sie ausgerechnet in der Freihausküche warten?
Nach einer Weile wird die Tür geöffnet und Kurt Schnellenkamp kommt herein. In der Hand hält er einen Knüppel, fast einen Meter lang und fünf Zentimeter dick. Er geht auf sie zu, und ohne ein Wort zu sagen schlägt er auf sie los. Er schlägt, wohin er gerade trifft. Sie versucht, ihr Gesicht zu schützen, doch das hilft ihr nicht. Schnellenkamp schlägt, bis sie am Boden liegt.
»Steh auf«, befiehlt er, doch sie kann nicht. Da schlägt er weiter auf sie ein. Dann hebt er sie auf, wirft sie sich über die Schulter wie eine Rinderhälfte und bringt sie ins Kinderhaus, wo die 65-jährige Hanni Myslewitz die Aufsicht hat. Dort muss sie wochenlang allein in einem Einzelzimmer bleiben. Und wird »behandelt«.
Als sie wieder auf den Beinen ist, flieht sie. Unter einem Vorwand beschafft sie sich vorher ihren Pass, der unter Verschluss gehalten wird wie alle anderen.
»Ich möchte mir auch gern so eine hübsche Hülle für meinen Pass häkeln wie Dorothea sie hat«, sagt sie zu Ursula Schmidt, der Frau des Präsidenten. Ursula Schmidt leitet das Büro der Kolonie und hat die Pässe aller Kolonisten unter Verschluss. »Gib mir doch mal eben meinen, damit ich Maß nehmen kann.« Dieser Trick aus dem Nähkästchen weiblicher Klischees genügt, um die Aufpasserin einzunebeln. Gudrun bekommt den Pass, und noch in derselben Nacht flüchtet sie.
Als Gudruns Flucht entdeckt wird, beschimpft Schäfer Ursula Schmidt wüst und unflätig, nimmt ihr den Schlüssel für den Dokumentenschrank ab, sie verliert die Büroleitung und wird im Krankenhaus zwangsbehandelt. Im Beschimpfen ist Schäfer Meister, er macht es gern und vor allen. Mistvieh, Dreckstück, Teufelsbrut, Hurengeist sind Wörter, die ihm leicht über die Lippen kommen. »Dieses Weibstück frisst, was sie geschissen hat«, sagt er einmal zu Lotti Packmor.
Gudrun schafft es tatsächlich bis zur österreichischen Botschaft in Santiago. Aber sie weiß nicht mehr, wie. Die Erinnerung ist weg. Was bleibt, ist die Erinnerung an Schläge, als man sie zurückbringt ins Fundo.
Ihre Schwester in Österreich hört über das Auswärtige Amt in Wien davon. Sehr viel später erfährt Gudrun von ihr, wann das überhaupt war. Aus eigener Erinnerung weiß sie es nicht.
Aber sie weiß genau, dass sie immer wieder wegwill. Vorher hat sie es zwei Mal geschafft, ein Stück außerhalb des Fundo, vom Wohnbereich, zu kommen, vielleicht fünfhundert Meter. Sie entdeckt eine schmale Lücke im Zaun, dicht an einer der Turbinen, mit denen die Kolonie ihren eigenen Strom erzeugt. Da klettert sie hindurch. Wegen des Gestrüpps muss sie am Zaun hochklettern. Sie kommt nicht weit.
Was sie noch nicht weiß: In jedem Zaunpfahl sind Sicherheitsanlagen. Sie hetzen Hunde hinter ihr her, einer stellt sie, springt sie an. Seine Pfoten auf ihrer Brust. Sie wagt nicht, sich zu rühren. Innerhalb des Zauns fährt der Wagen mit Hans-Jürgen Riesland und Karl van den Berg heran. Die schneiden den Zaun auf und wollen Gudrun überreden, zurückzukommen auf die andere Seite.
»Ich komm nicht mehr mit«, sagt sie, »ich will hier nicht bleiben. Lasst mich endlich gehen.«
»Nun komm doch erst mal«, sagen sie freundlich, »wir können doch alles besprechen, du kannst ja gehen, wenn du willst. Aber lass uns das doch nicht hier besprechen, lass uns das doch drinnen besprechen.«
»Drinnen«, das ist das Krankenhaus. Was dann mit ihr geschieht, weiß sie nicht mehr. Sie weiß es noch bis zum Krankenhaus. Das Krankenhaus ist der Schrecken. Wieder bekommt sie eine Spritze und soll entspannen. So weit reicht ihre Erinnerung.
Wolfgang wird nun für drei Jahre ans Meer geschickt zum Fischen, damit er Gudrun nicht sehen kann. Er arbeitet auf einem der drei großen Fischkutter der Kolonie. Nur in den Wintermonaten Juni, Juli, August ist er für drei Monate »zu Hause«. In diesem Zusammenhang von »zu Hause« zu schreiben, fällt schwer. Aber vier Jahrzehnte lang ist es das einzige Zuhause, das er hat. Manchmal darf Wolfgang auch im Sommer für eine oder zwei Stunden nach Hause, um Fische auszuladen. Meistens nachts.
Dann sucht er wieder nach Gudrun, hängt irgendwas an ihr Fahrrad. Ein kleines Geschenk. Einen Hinweis: Ich bin da.
Da nehmen sie ihr das Fahrrad weg.
Sie wollen uns unbedingt auseinanderbringen. Warum nur?, denkt sie. Zeitweilig gelingt es ihnen sogar; die kleinen grünen Pillen, die sie ihr geben, machen Gudrun ganz gleichgültig. Dann ist ihr alles egal, und das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Ganz leicht wird ihr, so als ob sie innerlich schwebt. Da kommen sie mit einem Brief, den sie unterschreiben soll. In diesem Zustand kann sie kaum noch lesen, hat aber auch keinen Widerstand mehr. »Ich sage mich los von Wolfgang«, steht da. »Ich will nie wieder etwas mit Wolfgang zu tun haben und werde auch nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.«
Sie ist kaum noch bei Verstand, aber sie weigert sich. »Das kann ich nicht unterschreiben. Wenn ich das unterschreibe«, sagt sie zu Schäfer, der ihr den Brief gebracht hat, »dann kann ich für Wolfgangs Leben nicht garantieren.«
»Das lass man meine Sorge sein«, meint Schäfer. »Sei froh, dass du ihn los bist, er ist ein Lügner und Betrüger. Er erzählt allen nur Lügengeschichten.«
Schließlich hat er sie so weit. Und sie unterschreibt.
Den Zettel mit ihrer Unterschrift zeigen sie Wolfgang.
Acht, vielleicht zehn Mal können die beiden zusammen sein in den Zeiten der Kolonie. Zehn Mal in vierzig Jahren.
Es ist eine bittere Zeit. Was dann folgt, ist noch härter: Sieben Jahre muss Gudrun im Krankenhaus verbringen, von 1988 bis 1995. An die ersten Monate erinnert sie sich überhaupt nicht. Die nächsten Jahre sind eine gleichförmige, dumpfe Zeit. Als sie eine Liste ihrer Tätigkeiten aufschreibt, fehlen ganze Jahre. Bis zum Jahr 2000 arbeitet und schläft sie in der Gärtnerei.
»Dass ich meinen Verstand behalten habe«, sagt sie sehr viel später, »das ist ein Wunder. Bei all den Mitteln, die sie angewandt haben, um mich zu zerstören.«
Wahrscheinlich wurde auch LSD in der Colonia Dignidad hergestellt. Es ist leicht zu produzieren, und einige von Gudruns damaligen Symptomen legen diese Vermutung nahe.