KAPITEL 20
Bei den sieben Zwergen
1977
Politik: RAF-Terror; Deutscher Herbst;
GSG 9.
Gesellschaft: Friedensnobelpreis für Amnesty International;
Emma erscheint; Apple kommt auf den Markt.
Im Kino: Der Stadtneurotiker (Woody Allen);
Rocky Horror Picture Show; Saturday Night Fever
(John Travolta, Olivia Newton-John).
>Hitparade: We are the Champions (Queen);
Und es war Sommer (Peter Maffay).
Spruch des Jahres: Ein Herz für Kinder.
Den Weltuntergang, genauer: das »Ende aller Weltsysteme«, hatte der Endzeitprediger William Branham für das Jahre 1977 vorausgesagt. Für die Colonia Dignidad sieht es im März 1977 tatsächlich so aus, als sei der Untergang ihres totalitären Systems nah. Amnesty International veröffentlicht eine Broschüre über die Kolonie als »Folterlager der DINA« und lenkt damit den Blick der Öffentlichkeit auf die dunklen Seiten der »Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad«. Die Dokumentation belegt, dass in der Kolonie, die bisher als deutsches Mustergut galt, Regimegegner gefoltert und ermordet werden.
Erhärtet wird das durch die Aussagen dreier Zeugen, die 1975 vom chilenischen Geheimdienst DINA in ein geheimes Folterlager gebracht wurden. Viele Details weisen auf die Colonia Dignidad als Ort der Folter hin. Zeitgleich berichtet der Stern über Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad.
Die Kolonie kontert wieder mal mit Hungerstreik, einstweiligen Verfügungen und strengt Prozesse an. Einer davon wird zum längsten Prozess in der Geschichte von Amnesty International. Dabei zeigt sich auch, wie reich an Vermögen und Einfluss die Führungsclique der Kolonie inzwischen ist. Auch in Deutschland hat sie mächtige Freunde. Nicht nur Franz-Josef Strauß.
Der damalige deutsche Botschafter in Santiago, Erich Strätling, gehört ebenfalls dazu. Ein »herrlicher Empfang« mit Chor, Orchester und deutscher Nationalhymne war ihm bereitet worden, als er die Kolonie im Vorjahr besuchte, nachdem diese in einem UN-Bericht als Folterzentrum genannt wurde. Ihm hingegen sei es dort ergangen »wie im Märchen bei Schneewittchen«69, soll Strätling geschwärmt haben. Weniger märchenhaft ist der Anlass seines Besuchs: Der UN-Bericht zitiert Aussagen, nach denen in der Colonia Dignidad Häftlinge Experimenten unterzogen wurden:
Hunde, die darauf dressiert sind, sexuelle Aggressionen zu begehen und die Geschlechtsorgane von Männern und Frauen zu zerstören; ›Versuche‹ über die Grenzen der Belastbarkeit mit verschiedenen Foltermethoden … Experimente, um die Häftlinge mit Hilfe von Drogen geistig zu zerbrechen; lange Perioden von Isolierung … In Colonia Dignidad scheint es ein besonderes Folterzentrum in einem unterirdischen Ort mit spezieller Ausrüstung zu geben, wo es kleine schalldichte, hermetisch geschlossene Gefangenen-Zellen gibt.70
So gut gefiel es Strätling »hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen«, dass er gleich im folgenden Jahr wiederkommt, um zu bestätigen, dass auch die Vorwürfe von Amnesty International nicht zutreffen. Er vermeldet dem Auswärtigen Amt: »Ich habe keine unterirdischen Folteranlagen gefunden.« Kein Wunder: Schäfer weigert sich, ihm die Kellerräume zu zeigen. Dann insistiert man lieber nicht.
Aber warum sollte man die Kellerräume überhaupt zeigen, schließlich gibt es eine eidesstattliche Erklärung der Kolonie, die versichert:
… Im Bereich unserer Siedlung haben keinerlei Folterungen stattgefunden, noch sind Gefangene auf unser Grundstück verbracht worden. In unserer Siedlung ist die Geheimpolizei zu keiner Zeit tätig geworden. Wir selbst haben zu keiner Zeit irgendetwas mit politischen oder sonstigen Gefangenen des chilenischen Staates zu tun gehabt.
Es ist auch undenkbar, dass derartige Aktionen auf unserem Grundstück ohne unser Wissen im Geheimen durchgeführt worden wären. Der gesamte Bereich der Siedlung, einschließlich aller Gebäude, auch die dazu gehörigen Kellerräume, sind ständig unverschlossen und können von jedem ungehindert zu jeder Zeit betreten werden. Alle Gebäude, einschließlich der Kellerräume, werden ausschließlich zu den jedermann bekannten Funktionen im Rahmen unserer landwirtschaftlichen Siedlung benutzt.
Es ist völlig ausgeschlossen, dass im »Fundo El Lavadero« politische Gefangene von der chilenischen Geheimpolizei festgehalten und gefoltert worden wären, ohne dass uns solche Aktionen bekannt geworden wären. Wir können darum mit Sicherheit sagen: Die DINA war zu keiner Zeit auf unserem Gelände. Hier sind weder Gefangene festgehalten noch gefoltert worden.
Parral/Chile, den 30. April 1977
51 Sektenmitglieder unterschreiben diese Erklärung, auch Mitglieder aus Gudruns Familie. Wobei von Freiwilligkeit nicht in allen Fällen auszugehen ist. Interessant ist der unnötige zweimalige Hinweis auf die Kellerräume. Doch dass im »Kartoffelkeller« gefoltert wurde, ist inzwischen erwiesen.
Dazu trägt auch die Aussage bei, die die chilenische Lehrerin Adriana Borquez am 20. Juni 1978 vor dem Bonner Landgericht macht. Genau beschrieb sie den Teelöffel, den man ihr zwischen Folterungen und Verhören zum Essen reichte. Das eingravierte Datum »Weihnachten 1953« zeigt: Dieses ist einer der Löffel, die Kindern der Baptistengemeinde in Gronau geschenkt wurden. Und die diese mitnahmen in die Colonia Dignidad.
Nun bildet sich ein »Freundeskreis der Colonia Dignidad«. Der Waffenhändler Gerhard Mertins stellt eine Liste von etwa 120 Personen zusammen, darunter der ZDF-Journalist Gerhard Löwenthal, der Bundestagsabgeordnete und Siegburger Bürgermeister Adolf Herkenrath und Erich Strätling. Sie alle waren in der Kolonie zu Gast und haben nichts Negatives zu berichten.