KAPITEL 12
Die Flucht aus
dem Paradies
Chile 1966
Knapp ein Jahr hält Ernst-Wolfgang Kneese es aus in der »Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad«, bevor er im Juni 1962 zum ersten Mal versucht, aus dem Zwangslager zu entkommen. Er wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Den zweiten Versuch unternimmt er ein Jahr später, am 26. September 1963.
Jeder Fluchtversuch wird mit drakonischen Maßnahmen bestraft: Schläge, Elektroschocks, Isolationshaft, verschärfte Zwangsarbeit. »Maßnahmen«, das ist in der Colonia Dignidad ein anderes Wort für Folter. Ernst-Wolfgang Kneese wird bewacht, er muss am Tag rote, nachts weiße Kleidung tragen, sowie Schuhe mit auffallendem Sohlenprofil. Das erleichtert die Verfolgung, falls er wieder versucht zu fliehen.
Doch er gibt nicht auf. Die dritte Flucht im Februar 1966 gelingt ihm. Diese und die zeitgleiche Flucht von Wilhelmine Lindemann alarmieren zum ersten Mal eine größere Öffentlichkeit in Deutschland, Chile und in anderen Ländern und machen auf die Zustände in der deutschen Enklave in Chile aufmerksam. Von Entführung, sexuellem Missbrauch, Freiheitsberaubung und brutalen Schlägen auf dem »deutschen Mustergut« in Chile ist in den Berichten die Rede. Zum ersten Mal hört man auch von ungeklärten Todesfällen.
»Warum wurde Ernst-Wolfgang Kneese nicht schon bei seinen beiden ersten Fluchtversuchen geholfen?« Diese Frage stellt Bärbel Künz56 und analysiert das Verhalten der Deutschen Botschaft in Chile. Etliche Flüchtlinge aus der Colonia Dignidad kommen bis zur Botschaft in Santiago. Doch dort greifen ihre Verfolger sie wieder ab und bringen sie zurück zur Kolonie. Wie kann das geschehen?
Ernst-Wolfgang Kneese ist der bekannteste Überlebende der Sekte um Paul Schäfer. Ungezählte Artikel wurden über ihn geschrieben. Das Skript seines Lebens. Um Distanz zu den Erlebnissen zu bekommen und zu halten, hat er eine ironisch-sarkastische Version entwickelt, die den Schmerz und das Leid verbirgt. Und die es Zuhörern leichter macht, sich mit dem Thema zu beschäftigen, fast unterhaltsam. Es ist seine Entscheidung, dass die Qual hinter diesem Vorhang privat bleiben soll. Vielleicht hat ihm diese aktive Loslösung aus der Opferrolle auch ermöglicht, handlungsfähig zu bleiben und seine Kraft für den Kampf gegen Schäfer und für die Befreiung der Kolonisten zu nutzen. Und um die Verwicklung deutscher Politiker in die »Affäre Colonia Dignidad« immer wieder zum Thema zu machen. So wurde es zur Geschichte seines Sieges. Hier die Geschichte seiner dritten Flucht:
»Mir war bald klar, dass das eine vollständig geschlossene Veranstaltung war. Zu Schäfer hatte ich kein Vertrauen. Er hat mich belogen, und zwar grundsätzlich. Man kann mich nicht mit einer Lüge von der einen Seite der Welt auf die andere Seite der Welt transportieren, wo alles Versprochene überhaupt nicht existiert. Soll ich dann sagen, du hast mich eben gerade belogen, aber ich gebe dir noch mal fünfzehn Jahre die Chance, mir ein ehrliches Wort zu sagen und mich wieder dort hinzubringen, wo ich hergekommen bin? Ich sah nur die Möglichkeit, mich wie ein Dieb in der Nacht vom Acker zu machen und mein Glück in der Flucht zu suchen.
Ja, da liegst du dann mit der ganzen Gruppe schlafender Menschen in einem Galpon, musst aus dem Strohbett raus, dich anziehen, runterklettern, an allen Leuten vorbei, die Tür aufmachen, die Tür wieder zu, und dann über den Kies zum Pferdestall. Und keiner darf dich hören. Musst bei Nacht ein Pferd satteln und aufzäumen, mit Lumpen an den Hufen versehen, damit es keinen Krach macht im Kies, und dann mit dem Pferd geräuschlos außer Hörweite des Gebäudes.
Dann habe ich die Lumpen weggeschmissen, meine Aktentasche genommen, da hatte ich einen Kompass drin und anderen Kram. Aber ich hatte keinen Pass dabei. Dann bin ich mit dem Pferd zur Panamericana geritten. Plötzlich lande ich in einer riesengroßen abgezäunten Weide und finde nicht wieder heraus, weil es kein Tor gibt, ich finde jedenfalls keines. An einer Stelle ist eine tiefe Ausgrabung, eine Furt, durch die ich mit dem Pferd gerade eben durchkomme. Dann bin ich wieder draußen, kann über die Holzbrücke am Termas de Catillo und in den Feldweg nach Parral rein. Eine Hand für die Zügel, eine für die Aktentasche, reite ich durch diese Steppe aus mannshohen Sträuchern, wobei wir an einer Stelle Meinungsverschiedenheiten haben, das Pferd und ich. Das Pferd will links am Busch vorbei, ich will rechts am Busch vorbei. Das Pferd läuft alleine links am Busch vorbei, und ich hänge rechts in der Luft, mache dann den großen Aufprall, wobei das Pferd sich erschreckt, aber freundlicherweise stehen bleibt und wartet, bis ich wieder aufsitze.
Die Strecke nach Parral. Links und rechts stehen riesengroße Pappeln. Zwischen diesen Pappeln wachsen hohe, undurchdringliche Brombeerhecken. Zwischen diesen großen Brombeerhecken gibt es alle paar Kilometer eine Schneise, durch die man auf den Acker kommen kann oder zu einem Haus. Wenn du dich diesen Weg entlangflüchtest und dir von hinten die Scheinwerfer im Nacken sitzen oder du unbeleuchtete Fahrzeuge hörst, dann kannst du weder nach links noch nach rechts weg. Du weißt nicht, wie viele Kilometer du noch reiten musst, oder hat er dich nach dreihundert Metern gleich am Arsch? Also muss ich mir immer den letzten Durchbruch merken, damit ich eventuell auf dem Absatz kehrtmachen kann, um dort zu verschwinden.«
Schließlich erreicht Ernst-Wolfgang Kneese die Panamericana, die berühmte Schnellstraße, die von Alaska bis Feuerland den gesamten amerikanischen Doppelkontinent durchläuft. Er bindet das Pferd am Zaun einer Tankstelle in Richtung Santiago fest, hängt noch einen Zettel dran, wem es gehört. Er ist kein Dieb. Dann trampt er. So kommt er ins vierzig Kilometer entfernte Chillán.
Dort nimmt eine Familie ihn auf. Sie geben ihm eine Orange zu essen. Er isst sie mitsamt der Schale. Es ist die erste Orange seines Lebens.
Nach dieser dritten Flucht, die einigen Wirbel in der chilenischen Presse macht, zeigt die Kolonie Ernst-Wolfgang Kneese wegen Pferdediebstahl, Falschaussage, Pressemanipulation und Homosexualität an. Auf Druck von Schäfer muss Wolfgang Müller eine Falschaussage machen: Kneese hätte ihn verführt. Nichts daran ist wahr. Wahr ist, dass dieser sah, wie Schäfer Wolfgang Müller vergewaltigte. Schäfer mag Zuschauer. Der chilenische Richter glaubt die Lüge und schickt Kneese für zwei Wochen ins Gefängnis.
Die Colonia Dignidad genießt hohes Ansehen und große Wertschätzung in der chilenischen Gesellschaft, bei den chilenischen Behörden und der Justiz. Im Krankhaus der Kolonie werden kranke chilenische Kinder der armen Landbevölkerung gepflegt, operiert, geheilt. Von den Eltern verlangt die Kolonie kein Geld. Geld für die Behandlungen bekommt sie vom chilenischen Staat.
Zu schrecklich scheinen dagegen die Geschichten, die Ernst-Wolfgang Kneese über die Kolonie erzählt, man mag sie nicht glauben. Seine Chancen, das Land auf legalem Wege zu verlassen, stehen daher schlecht. So flieht er nach seiner Freilassung auf Kaution illegal weiter über die Grenze nach Argentinien und von dort nach Deutschland.
Die Flucht von Ernst-Wolfgang Kneese lenkt zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Presse einiger Länder auf die Colonia Dignidad. Um Offenheit zu signalisieren, beschließt Paul Schäfer, drei seiner jungen Männer außerhalb der Kolonie studieren zu lassen: Hartmut Hopp, Günter Reuss und Hussain Siam. Hartmut Hopp beginnt Medizin zu studieren; Hopp bekommt von Schäfer im Laufe der Jahre viele Rechte, er darf reisen, sich frei außerhalb der Kolonie bewegen, sexuelle Beziehungen zu Frauen haben, bekommt Zugang zu Auslandskonten der Kolonie. Er ist der Liebling Schäfers, viele nennen ihn den »Außenminister« der Kolonie. Trotzdem bleibt er ein Getriebener, Zerrissener – soll er gehen oder bleiben?
Hussain hat schon einen Fluchtversuch hinter sich, als Schäfer ihn mit Günter Reuss zum Studium nach Los Angeles in den USA schickt. Er kehrt nie wieder in die Kolonie zurück.