VORWORT


Spurensuche

Die Vergangenheit ist nicht tot,
sie ist noch nicht einmal vergangen.
William Faulkner, Requiem für eine Nonne, 1951

Gudrun und Wolfgang Müller, deren Liebesgeschichte in diesem Buch erzählt wird, haben fast fünfzig Jahre Gehirnwäsche und Folter überlebt. Trotz allem standen sie bis 2005 treu zu ihrem Führer, ihrem Gott, Paul Schäfer, der sie belogen und betrogen, verschleppt, misshandelt und missbraucht hatte.

Dann erfuhren sie die Wahrheit und zogen die einzige Konsequenz, die ihnen richtig erschien: Sie verließen ihr mit Stacheldraht und Stolperfallen abgeriegeltes Gefängnis in Chile, das sie fast ihr ganzes Leben lang als Heimat betrachtet hatten.

Am 24. April 2010 starb der deutsche Sektenführer Paul Schäfer im Gefängniskrankenhaus von Santiago de Chile. Vier Jahre zuvor war der Chef der deutschen Auswanderersiedlung im Süden Chiles, der Colonia Dignidad1, zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden – wegen Missbrauchs chilenischer Kinder in 27 Fällen.

Doch diese 27 Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. »Der durchschnittliche pädophile2 Triebtäter missbraucht 50 bis 150 Kinder, bevor er verhaftet wird (und danach noch viele andere)«, schreibt die Kriminalpsychologin Anna Salter.3 Viele überführte und verurteilte Sexualstraftäter verbringen ein paar Jahre im Gefängnis und machen dann weiter. Bei einem langen Leben – Schäfer wurde 88 und war nur die letzten fünf Jahre in Haft – kann man von der hundertfachen Dunkelziffer an Taten ausgehen.

Die meisten Opfer sexueller Gewalt werden nicht zu Tätern. Doch einige schon. Studien bestätigen, dass sexuelle Gewalt in der Kindheit ein ganzes Leben prägen kann. Und seit Kurzem weiß man, dass sie sogar Spuren im Erbgut hinterlässt.4

Mehr als sechzig Jahre lang konnte Schäfer ungestraft Menschen körperlich, sexuell und seelisch quälen und von sich abhängig machen. Niemand gebot ihm Einhalt. Die 1961 aus Deutschland nach Chile entführten Kinder hatten keine Wahl – ihre Eltern schon. Am Anfang jedenfalls. Die meisten Erwachsenen waren ihm freiwillig gefolgt – es waren gläubige und gottesfürchtige Menschen, die gute Werke tun und ein urchristliches Leben führen wollten. Ihre Folterkammern errichteten sie selbst: Am Fuße der chilenischen Anden besiedelten rund vierhundert Deutsche ein riesiges Gebiet, machten es urbar, bauten Häuser, Straßen, Brücken, errichteten Fabriken, landwirtschaftliche Betriebe, Krankenhäuser, Restaurants. Ein sauber gewienertes deutsches Mustergut. Geschaffen in Zwangsarbeit. Genannt »Colonia Dignidad« – »Kolonie der Würde«, in zynischer Tätersprache. Dem chilenischen Militärdiktator General Augusto Pinochet und seinem Geheimdienst DINA5 in den 1970er und 1980er Jahren zur Verfügung gestellt zum Foltern, Morden und zum Verscharren der Leichen.

Paul Schäfers Flucht (1997), seine Verhaftung (2005), Verurteilung (2006) und sein Tod (2010) bedeuten nicht das Ende seiner Herrschaft. Viele Anhänger, denen er Freiheit, Gesundheit, Menschenrechte und Würde raubte – manchen unwiederbringlich auch den Verstand –, sind ihm weiterhin treu ergeben. Die Türen ihres Gefängnisses stehen jetzt offen, aber aus dem inneren Gefängnis lösen sie sich nur schwer. Manche kehren nach Deutschland zurück und leben hier. Vielleicht wohnen sie nebenan? Viele geraten sofort in den Sog der nächsten Sekte, zum Beispiel der Freien Volksmission in Krefeld unter Ewald Frank. Einige versuchen selbstbestimmt zu leben – nach fünfzig Jahren, in denen sie keine eigenen Gedanken, kein privates Gefühl zeigen durften. Welches Erbe werden sie alle weitergeben an ihre Kinder und deren Kinder wiederum an die Enkel?

Immer wieder verfangen Menschen sich im Netz sektenartiger Wahnsysteme, geben ihre Freiheit auf und folgen charismatischen Führern in den Abgrund, manchmal sogar in den Tod. Wie können sie so abhängig gemacht werden? Und warum verharren sie dort? Mit welchen Strategien arbeiten die Täter? Welche Sehnsüchte in uns stillen sie? Welche Leere füllen sie, und welche Wunden nutzen sie aus? Mit anderen Worten: Wie funktioniert Gehirnwäsche?

Diese Fragen beschäftigen mich seit Langem. Mein erster Freund aus Kindertagen – wir wohnten in derselben Straße und gingen die ersten vier Jahre gemeinsam zur Schule – wuchs in einer christlichen Sekte auf, die ihm viele seiner kindlichen Freiheiten raubte. Ich bemerkte nichts. Erst Jahrzehnte später erzählte er mir davon.

In den 1980er Jahren lernte ich Ernst-Wolfgang Kneese6 kennen, dessen Flucht aus der Colonia Dignidad 1966 Schlagzeilen machte. »Wie funktioniert Gedankenkontrolle?«, fragte ich ihn. Er antwortete: »Bei jeder kleinen Entscheidung – trinke ich Kaffee oder Tee – treffe nicht ich die Wahl, sondern in meinem Kopf steht Paul Schäfer auf und entscheidet. Und ich kriege ihn da nicht weg.«

Ich traf Scientologen. Meine Nachbarn wurden Anhänger von Bhagwan, dem 1980er-Jahre-Guru mit einem Faible für goldene Luxuskarossen und die Farbe Orange. Plötzlich war die Wäsche auf der Leine nebenan durchgefärbt: Orange für Vater, Mutter und zwei Kinder. Sannyasin, so hießen die Anhänger, wurde auch die stellvertretende Chefredakteurin des Magazins Brigitte, bei dem ich damals arbeitete. Ein Freund ging zu Maharishi Mahesh Yogi wie Beatle George Harrison, erzählte vom Fliegen durch transzendentale Meditation und hob ab in unerreichbare Fernen. Eine Freundin berichtete von jahrelangem Missbrauch durch den katholischen Dorfpfarrer. Gottgefällig zu leben brachte er ihr bei. Zu lügen und ihm sexuell zu Diensten zu sein auch. Ihre Familie war arm; wenig musste auf viele verteilt werden. Die sexuellen Übergriffe schockierten und ekelten sie, brachten aber auch Privilegien: in seinem Wagen mitfahren, kleine Geschenke – für sie ganz allein, nicht für die Geschwister. Ein perverses Bindungsmuster, aus dem sich viele Opfer nie befreien können. Manche fühlen sich selbst schuldig, verlieren den klaren Blick dafür, dass sie benutzt, ausgebeutet werden. Oder sie haben diesen klaren Blick nie gewonnen: Kinder lieben ihre gewalttätigen Eltern, weil sie keine Wahl haben. Sektenopfer verteidigen den Ausbeuter zur Not mit ihrem Leben. So wie manche Entführte sich mit ihren Entführern solidarisieren: Stockholm-Syndrom7 nennt man dieses Phänomen seit der fünftägigen Geiselnahme in einer Stockholmer Bank im Jahr 1973. Die Muster ähneln sich: Immer geht es um Macht und Unterwerfung.

Vieles bleibt öffentlich unsichtbar. Die Medien berichten nur über spektakuläre Fälle, Massen(selbst)morde wie die der People’s Temple in Jonestown/Guayana, der Davidianer in Waco/USA, der Sonnentempler oder der Sekte »Heaven’s Gate«, deren Mitglieder einen tödlichen Cocktail trinken mussten, in Erwartung, von einem UFO im Schweif des Kometen Hale-Bopp abgeholt und in höhere Sphären gebracht zu werden – mit Nike-Schuhen an den Füßen.8

Auch wenn man von den unauffälligeren Sekten nichts hört – solche geschlossenen verrückten Systeme existieren weiterhin – ohne Kontrolle oder Korrektiv von außen. Ohne erkennbare Vorwarnung können sie implodieren oder explodieren.

Vor zwanzig Jahren begannen meine Recherchen zu »ritueller Gewalt« und multiplen Persönlichkeiten9, ein heiß umstrittenes Thema. Folter und rituelle Morde in Deutschland? Gibt es nicht, hieß es oft. Wo sind denn die Opfer? Dieses Buch gibt einige Antworten. Wer vor fünfzig Jahren in den Bannkreis von Paul Schäfer geriet wie Gudrun aus Österreich und Wolfgang aus Deutschland, die Hauptpersonen dieses Buches, und ihm nach Chile folgte, wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln in den Abgrund gefolgt sind, der versteht, wovon rituell misshandelte Menschen berichten; ob sie in okkultistischen, faschistischen Gruppen gequält wurden, ob sie Voodoo-Ritualen oder extremem Fundamentalismus unterworfen wurden – sei er christlich oder islamistisch. Alle schildern ähnliche Folterqualen. Der Unterschied: Die Existenz der Colonia Dignidad ist unbestritten; ihre Morde, ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ihre anderen kriminellen Taten sind bewiesen und von chilenischen Gerichten verurteilt. Belegt sind auch gemeinsame Folterkurse für deutsche Siedler der Colonia Dignidad und für DINA-Angehörige nach Anleitungen aus der Nazizeit.10

Aber auch wenn das Unrecht in Chile gerichtlich anerkannt ist, die überlebenden Opfer in der Kolonie sind immer noch nicht entschädigt. In Deutschland stellten sich die Gerichte lange taub. Das Auswärtige Amt erschwert die Akteneinsicht in dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte immer noch erheblich. Die meisten Überlebenden werden alleingelassen und leben an der Armutsgrenze. Wie Gudrun und Wolfgang Müller, die voller Entsetzen über den Abgrund an Gewalt, Missbrauch und Lügen, der endlich auch für sie deutlich sichtbar wurde, die Colonia Dignidad verließen. »Auf diesem Boden, an dem das Blut unschuldiger Menschen klebt, können wir nicht bleiben.«

»Wir schütteln den Staub von unseren Füßen«11, schrieben sie in ihrem Abschiedsbrief an die Zurückbleibenden und kehrten dem perversen Reich eines Päderasten den Rücken, einer Enklave, in der die Zeit seit den Fünfzigerjahren stillstand, mitten in einem Land, dessen Sprache sie nicht lernen durften. Wie in einer Zeitreise finden sie sich plötzlich im 21. Jahrhundert wieder und begreifen allmählich, was man ihnen geraubt hat.

Als sie mir davon berichteten, wollte ich ihre Geschichte erzählen. Denn es ist eine Geschichte über Resilienz – über die Fähigkeit, Unerträgliches zu erleben, sich aber dennoch einen unzerstörten Kern zu bewahren. Wie konnte es ihnen gelingen, sich die Hoffnung auf ein besseres Leben zu bewahren?

Ulla Fröhling