KAPITEL 13
Wilhelm Wagner
Österreich 1966
Die Sache mit Gudruns Vater«, wie manche es nennen, spielt sich 1966 in Deutschland und Österreich ab. Zu diesem Zeitpunkt lebt Wolfgang Müller schon fünf Jahre in Chile. Ernst-Wolfgang Kneese hat seine abenteuerliche Flucht hinter sich, versteckt sich aber noch in Chile. Gudrun Wagner arbeitet in Siegburg zusammen mit etwa zwölf Sektenmitgliedern unter Führung von Hugo Baar und Alfred Schaak. Ida Ritz hat geheiratet und arbeitet als Hebamme in Düsseldorf; eine schwere Depression nach der dramatischen Ausreise ihrer Schwester Gertrud nach Chile hat sie inzwischen überwunden. Kontakt zur Privaten Socialen Mission in Siegburg hat sie nicht mehr. Und die beiden Vierjährigen, Waltraud und Bernd, gehen Hand in Hand im Sonnenschein unter Weinranken den Anna-Weg in Chile entlang und vertrauen ihrem Gedächtnis einen Satz an: »Das Graubrot wird nicht heute, sondern übermorgen gebraucht.«
Jeder, jede in einer Welt für sich.
Die Sache mit Gudruns Vater ist ein Krimi. Über diese Sache zu sprechen ist für Gudrun fast noch schwerer als über die Sache mit Alfred. Sie braucht viel Ruhe, Zeit und Kraft, um einen klaren Blick auf diese Ereignisse zu werfen und sie dann in eine entlegene Schublade des Gedächtnisses zu packen, die sie öffnen kann, wann immer sie will, die aber weder klemmt noch aufspringt, wenn Gudrun es nicht will. Die Ereignisse damals waren so schmerzlich und sind immer noch verworren. Eigentlich mag Gudrun sie gar nicht anschauen. Ihre Erinnerungen daran sind bruchstückhaft.
Vieles weiß sie nur, weil andere ihr davon berichtet haben und weil sie nach Jahrzehnten endlich die Zeitungsartikel aus dem Jahr 1966 lesen kann.
1966 aber kann sie keine Zeitungen lesen, obwohl sie noch in Deutschland ist. Zeitungen sind des Teufels. Zusammen mit ihrer Schwester Hilde arbeitet sie in den Geschäften der Schaak und Kuhn OHG. Die anderen Geschwister sind schon seit Jahren in Chile. Da sagt man ihr, dass sie ihren Vater im Gefängnis besuchen soll. Bevor Gudrun sich noch von dem ersten Schock erholt hat, folgt schon ein zweiter Auftrag: Die Schwestern sollen erreichen, dass die kleine Hedi, die Einzige, die noch bei Mama in Graz lebt, dieser auch entzogen wird. Der Antrag auf Sorgerechtsentzug ist mit den Namen von Hilde und Gudrun Wagner unterschrieben. Es bleibt bis heute unklar, ob die Schwestern tatsächlich unterschrieben haben. Manche der Unterschriften auf Dokumenten der Colonia Dignidad wurden gefälscht.
»Warum sollte das Sorgerecht entzogen werden? Ich weiß es bis heute nicht«, sagt Gudrun noch 2011.
Die Tour von Siegburg nach Graz ist ein Horrortrip. Hugo Baar am Steuer, Dorothea als Beifahrerin. Die Schwestern auf dem Rücksitz. Gudrun wird überschüttet mit Vorwürfen und Beschimpfungen. Tausend Kilometer, zehn Stunden Fahrt und keinen Moment Ruhe. Wenn sie widerspricht oder nicht antwortet, wird sie geohrfeigt.
Was ist der Sinn? Für das verrückte Verhalten der anderen sucht Gudrun immer noch die »Schuld« bei sich. Der Qual einen Sinn geben. Gudrun weiß nicht, warum die anderen auf ihr »herumdreschen mit Worten«. Vielleicht soll ich einfach keine Kraft mehr haben, denkt sie, mit meinen Eltern etwas zu besprechen. Ich könnte mich verplappern. Ich darf mich nicht verplappern. Was darf ich nicht erzählen? Ich darf nicht erzählen, was mit mir passiert ist. Unter keinen Umständen. Am besten, ich vergesse einfach, was mit mir passiert ist. Was ist überhaupt mit mir passiert? Ist doch gar nichts passiert. Es ist doch alles schön. Wenn sie bloß aufhören, mich zu beschimpfen. Auch wenn ich weine, hören sie nicht auf.
Am liebsten würde ich gar nicht aussteigen, denkt sie, als der Wagen im Hof des Gefängnisses in Graz angekommen ist. Aber ich muss. Da stehen meine Eltern. Ich kann sie kaum sehen, meine Augen sind so verquollen. Ich kriege nichts mehr über die Lippen. Ich kann nur weinen. Der Anblick von Papa und Mama zerreißt mir das Herz.
»Papa, es tut mir leid.«
Habe ich das gesagt? Ich kann doch gar nichts dafür. Wofür überhaupt? Mama weint, wir nehmen uns in den Arm. Ich bin nicht mehr fähig, irgendwas zu sagen.
So ist es richtig.
Beschuldigen und beschimpfen, laut, fordernd, anklagend ungerecht, stundenlanges Anschreien – das erleben alle, die in den Bannkreis von Paul Schäfers Gruppe geraten. Dass Frauen Hurengeister im Bauch haben, dass man ihnen den Teufel mit Schlägen austreiben muss wird so häufig geschrien, wie man sich anderswo Guten Tag wünscht.
Manche, die anfangs sanft waren wie Hugo Baar und Gerhard Mücke, den Ida Gatz in ihrer Schulzeit als »feinen, gebildeten Menschen« erlebt hatte, erleiden eine auffallende Vergröberung ihrer Persönlichkeit. Schäfer und Baar empfehlen anderen dieses schreiende, lang andauernde Beschuldigen als Methode, um sich durchzusetzen und andere zum Nachgeben zu zwingen oder sogar zum seelischen Zusammenbruch.
Noch heute wundert sich Gudrun, dass ihre Schwester während der langen Fahrt nach Graz schweigend neben ihr saß. Aber vielleicht tat sie das nicht, sondern fühlte sich genauso bedroht wie Gudrun. Eine Aussprache zwischen den Schwestern ist immer noch nicht möglich.
Allerdings sind 1966 alle österreichischen und viele deutsche Zeitungen voll von dem Fall der »Grazer Kinder im Sekten-KZ«. Leider trägt das nur mäßig zur Erhellung bei. Man könnte die Frage nun einfach beiseitelegen – wäre da nicht die tiefere Frage der fehlenden Erinnerungen.
Fest steht, dass der Gärtner Wilhelm Wagner 1965 in Graz wegen »Blutschande« an zweien seiner Töchter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und 1967 vorzeitig entlassen wurde.
»Er ging freiwillig ins Gefängnis, weil er das alles einfach nicht mehr aushielt«, ist eine Lösung, mit der Gudrun heute gut leben kann. Wolfgang unterstützt diese Version: »Dann hatte er seine Ruhe, und er konnte dort auch als Gärtner arbeiten.«
Nun kommt man ja – trotz gegenteiliger Behauptungen – als unschuldiger Freiwilliger nicht so leicht ins Gefängnis. Wie kam es überhaupt zu der Anschuldigung gegen Wilhelm Wagner? Oder besser: wann?
Die Anzeige ging 1964 bei der Polizei ein.
Hierzu passt eine Erinnerung von Ida Gatz. Ihr gesteht Hugo Baar Jahrzehnte später seinen Vertrauensmissbrauch. »Ich bin an dem Wagner schuldig geworden«, erzählt er ihr, nachdem er sich von der Schäfer-Sekte getrennt hat. Wilhelm Wagner hatte sich offenbar 1956 seelsorgerisch Hugo Baar anvertraut. Und Hugo Baar hinterbrachte es Schäfer. Dieser nahm die Beichte zu seinen »Seelsorgeakten«. Es muss also etwas vorgefallen sein mit den Töchtern. Damit ist Wilhelm Wagner erpressbar.
Nun lebt die Rumpf-Familie Wagner in Graz – der Vater im Gefängnis, die Mutter mit der Jüngsten, die plötzlich keine Geschwister mehr hat, im leeren Haus. Vielleicht versteht Hedi schon, dass sie die Geschwister manchmal sehen darf. Aber ob ihr das hilft?
Dann folgt der nächste Angriff.
Längere Zeit verweigern die Wagners ihr schriftliches Einverständnis zur Ausreise der minderjährigen Kinder nach Chile. Die Mutter ist entschieden dagegen. Ohne dieses Einverständnis aber begeht die Sekte Kindesentführung, als sie Basti am 2. August 1961 in Windeseile nach Chile ausfliegt, denn er ist damals erst zwölf. So schnell wie er wurden alle Kinder außer Landes geschafft, die vor Gericht gegen Paul Schäfer hätten aussagen können.
Wie kann ich Wagner unter Druck setzen, damit er sein Einverständnis gibt?, wird sich Schäfer gedacht haben. Er kramt den sechs oder sieben Jahre alten Zettel mit der Beichte Wilhelm Wagners aus dem Archiv verwertbarer Sünden hervor. Von Chile aus befiehlt er Hugo Baar, Anzeige gegen Wagner zu erstatten. Wie alle anderen hatte auch Wilhelm Wagner sich dem schriftlichen Beichtzwang unterworfen, den Paul Schäfer eingeführt hatte. Sich einmal auszusprechen über geheime Wünsche, Gedanken, Begierden, Taten mag für viele befreiend, entlastend gewesen sein. Nicht nur die katholische Kirche kennt die Beichte. Allerdings kennt sie auch das Beichtgeheimnis. Anders Schäfer, Baar und Komplizen: Sie lassen beichten, und Schäfer lässt nachbessern, was ihm missfällt; manches muss drei- oder viermal geschrieben werden. Alles wird archiviert, denn die unterschriebenen Beichten geben erstklassige Geständnisse ab, die bei Bedarf gegen die Beichtlinge verwendet werden können.
Nun wird eine Beichte gegen Wilhelm Wagner verwendet. Da gibt Wagner nach und unterschreibt die Einwilligungserklärung.
So könnte es gewesen sein. Allerdings wird man nie mit Sicherheit sagen können, ob dieses Geständnis der Wahrheit entspricht oder Ergebnis psychischer Manipulation ist.
Auf das Versprechen hin, sie können ihren Kindern nach Chile folgen, verkaufen die Wagners Haus und Grundstück. Als sie aber das gesamte Geld vorab an die Sekte überweisen sollen, schaltet sich die Vernunft wieder ein, und Wagner behält sein Geld. Das passt Schäfer und Baar gar nicht. Sie verweigern ihnen die Zuwanderung in die Kolonie. Manche der in Deutschland lebenden Verwandten der Kolonisten vermuten, dass Schäfer schon damals die Macht hat, eine Einreise nach Chile zu verhindern, doch das ist zweifelhaft.
Eine Weile reist Hugo Baar dem Wilhelm Wagner hinterher, um ihm das Geld abzujagen. Derselbe Hugo Baar, sanfter Familienvater mit einer christlichen Bilderbuchfamilie, auf dem anrührenden Foto in Ida Gatz’ Album. Und doch nicht derselbe.
Wagner ist inzwischen mürbe geworden und bereit zu einer Selbstanzeige. Er kommt zu spät: Baar hat den unterschriebenen Beichtzettel schon der Polizei übergeben. Wagner wird angeklagt und verurteilt. Seine Töchter Hilde und Gudrun sagen gegen ihn aus.
An ihre Aussage hat Gudrun keine Erinnerung. Das kann viele Gründe haben.
Kurz darauf werden die beiden jungen Frauen wegen Falschaussage vernommen. Dass sie ihre Aussagen unter Zwang oder unter Beeinflussung gemacht haben, wird vor Gericht deutlich. Der Richter fragt Hilde, ob sie noch Jungfrau sei. »Natürlich!«, antwortet sie empört. Dieser Widerspruch entgeht dem Gericht nicht.
Der Mann im Gefängnis, die Kinder in Chile oder genauso unerreichbar in Siegburg – da gibt Mina Wagner eine Weile ihrer Erschöpfung nach. Dann beginnt sie von Neuem zu kämpfen: Mithilfe eines Anwalts versucht sie, ihre Kinder in Chile zu befreien, bevor diese volljährig sind. Der Briefwechsel zwischen dem engagierten Anwalt Kornberger und dem Auswärtigen Amt in Wien liest sich bedrückend, und die Antwort der Beamten wirkt genauso desinteressiert wie die deutscher Behörden, denen es über Jahrzehnte nicht gelingt, in ähnlichen Fällen Hilfe zu leisten. Der Brief schließt mit den Worten: »Sollten die Eltern weiterhin an der Rückführung der drei Minderjährigen interessiert sein, wird um Mitteilung gebeten.«
Sollten sie interessiert sein.
Mit ausgefeilter Verzögerungstaktik und einem Bündel Lügen (ansteckende Krankheit, Suiziddrohung, verschwunden) gelingt es der »Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad«, der »Wohltätigen Gesellschaft«, das Verfahren so lange zu verschleppen, bis die Zwillinge 21 Jahre alt sind.
Mina Wagner ist erschöpft. Gleichzeitig muss sie weitere Versuche aus Siegburg abwehren, ihr das Sorgerecht für die jüngste Tochter, das einzige Kind, das ihr geblieben war, zu entziehen. Angeblich soll der Vater auch dieses Kind missbraucht haben. Dieser Antrag im Namen von Gudrun und Hilde wird schließlich abgelehnt.
Für Hedi ist diese Zeit ihrer Kindheit eine Zeit voller Angst. Bis sie fünf Jahre alt ist, hat sie sechs Geschwister. Plötzlich sind alle weg. Und der Vater auch. Wenn die Mutter das Haus verlässt, zum Einkaufen, zum Arzt, um einen Besuch zu machen, jedes Mal hat Hedi Angst, dass sie nicht zurückkommt. Dass sie ganz allein zurückbleibt. Für die Mutter ist es eine Zeit tiefer Scham: Aus den Zeitungen glaubt die ganze Stadt zu wissen, was in der Wagner-Familie los ist. Jeder Einkauf wird zum Spießrutenlaufen. Jeder Blick wird so gedeutet. Was sieht sie im Blick der anderen? Ist es Anteilnahme, Entsetzen, Verachtung? Ist der Blick freundlich, oder ist er hämisch?
Eine Zeit lang belauern Mitglieder der Sekte die Restfamilie. Immer wieder stehen dieselben Autos vor dem Haus, Leute gehen vor dem Haus auf und ab, schauen in die Wohnung. Es war eine begründete Angst. Später gibt Hugo Baar zu, dass er etliche Überwachungen »Abtrünniger« in Auftrag gegeben oder selbst durchgeführt hat.
Im folgenden Jahr wird Wilhelm Wagner aus dem Gefängnis entlassen. In überstürzter Flucht vor öffentlicher Aufmerksamkeit, nachbarlicher Neugier und sicher auch aus Scham wandert die kleine Familie nach Rhodesien aus. Dort kauft sie sich ein Haus, muss aber bald zurückkehren, da aus Panik und Uninformiertheit – bloß weg hier! – vorab kein Einreiseantrag gestellt wurde. So verlieren sie auch noch ihr Geld. In den Siebzigerjahren leben sie in einer kleinen dunklen Wohnung, nicht zu vergleichen mit dem schmucken Haus am Wald, das sie sich aus eigener Kraft geschaffen hatten. Wagner stirbt, erschöpft, weit vor der Zeit.
In diesem Jahr warnt auf dem Fundo in Chile Gisela Malessa ihre Kinder vor Schäfer. Er missbrauche die Jungen, sagt sie, sie sollen sich von ihm fernhalten. Ob wegen der Beichtpflicht oder aus anderen Gründen – die Kinder sagen es Schäfer. Dieser reagiert genauso entspannt und entwaffnend wie vor zehn Jahren auf der Zeltfreizeit in Groß Schwülper, als Ida Ritz ihn mit Adolf Hitler verglich. Diesmal ist seine Antwort: »Ja, eure Mutter hat recht, das brauchen Jungen in eurem Alter.«
Aber vielleicht scheint er nur so locker. Schäfer ist ein begabter Schauspieler, wie alle Soziopathen. Gisela Malessa gehört von nun an zu den Ausgegrenzten, man spricht nicht mehr mit ihr, will nicht mehr mit ihr gesehen werden. Und Schäfer ist entschlossen, die Kinder endgültig von ihren Eltern zu trennen. Damit das Gerede endlich aufhört.