PROLOG


Villa Baviera, Parral, Chile
Im März 2000, zwischen 2 und 4 Uhr morgens

Wie ein angeleinter Hund in der Nacht hockt er im Dunkel des schmalen Raumes, das eine Ende des Stricks am eisernen Feldbett festgeknotet, das andere um den Hals. Jetzt nur noch die Schlinge zuziehen, sich fallen lassen. Nur noch.

Sein Name ist Wolfgang. Doch sie nennen ihn den Pfuscher. Oder Herbert. Manchmal weiß er seinen eigenen Namen nicht mehr. Spitznamen sind lustig, sagen sie; wer keinen hat, bei dem stimmt’s nicht.

Wolfgang lauscht, doch alles bleibt still. Das rasselnde Schnarchen aus dem Nachbarzimmer im Neukra, wie sie das neue Krankenhaus nennen, ist das Einzige, was er hört.

Günter12, der Kranke, der dort liegt, wird ihn nicht stören. Selbst wenn der jetzt erwachte, er könnte ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten, so wie der Schlaganfall ihn zurückgelassen hat. Allein kann der nicht einmal das Bett verlassen. Wolfgang muss ihn versorgen, ihn füttern, waschen, muss ihn in den Rollstuhl heben. Doch zuerst muss er in die Metzgerei, muss schlachten, zerlegen, schleppen. Dann wieder zurück zu Günter, der nicht aufwachen will. Denn Schlaf ist für viele die einzige Zeit ohne Qual. Ihre Tage sind voller Leid und Demütigungen. Wie für Helmuth Schaffrik, den anderen Gelähmten. Mit dem niemand sprechen darf, über den sich alle lustig machen. »Mit dir stimmt’s nicht«, sagen sie zu ihm, »wirst schon wissen, was du getan hast, dass du im Rollstuhl sitzen musst.« Und drehen sich weg, gehen weiter, wenn er stecken bleibt mit seinem Rollstuhl im Sand und Geröll der Wege. Gestern hat Wolfgang gewartet, bis alle weg waren, dann hat er Helmut durch den Sand geschoben.

Nur wenige Stunden Schlaf gibt es. Manchmal bleibt er traumlos. Das ist am schönsten. Denn die Gewalt folgt einem auch in die Träume.

Doch heute ist alles anders. Heute bleibt Wolfgang in seinem Zimmer. Mit dem Strick um den Hals. Den hat er sich schon vor Wochen besorgt. Heimlich. Aus der Werkstatt. Da hinzugehen ist unverdächtig; dort, bei seinem Lehrherrn und Meister, arbeitet er oft. »Alles gehört allen«, sagen sie. Doch nehmen darf man sich nichts. Denn ihnen, die hier arbeiten, manchmal sechzehn Stunden am Tag, jeden Tag, bis die Tage ineinandergeflossen sind ohne Unterschied, ihnen gehört gar nichts. Sich etwas zu nehmen wird schwer bestraft. Wenn es herauskommt. Und es kommt fast immer heraus. Auch wenn der, den sie am meisten fürchten und am meisten lieben – ihr Führer, ihr Gott Paul Schäfer – längst fort ist, seit Jahren schon. Es kommt heraus, weil alles gebeichtet werden muss. Gerade das Heimliche. Doch auch wer beichtet, wird bestraft. Wegen der Schuld. Sie schlagen auf einen ein, alle, die gerade in der Nähe sind, die zur Stelle sind. Mit Fäusten, Stöcken, Kabelenden. Oder treten zu, bis man zusammenbricht. Dann tragen sie einen ins Neukra, das neue Krankenhaus, und nehmen den Elektroschocker, bis nur die eigene Schuld in der Erinnerung bleibt, alles andere ist weg. Gelöscht.

Ihn, Wolfgang, der so stark ist, dass er gefährlich werden könnte, hatten sie ruhiggestellt mit Medikamenten, seine Gefühle abgeschaltet, bis ihm der Speichel aus dem Mund lief und er nur noch lallen konnte.

Wer aber nicht beichtet, der wird verraten. Denn Verrat ist Pflicht. Wer nicht verrät, wird bestraft. Denn meist beobachtet jemand auch den, der etwas sieht. Auch dieser muss seine Beobachtung melden. Denn auch ihn könnte jemand gesehen haben.

Dennoch muss das Heimliche geschehen. Sonst würde man den Verstand verlieren. Das, was noch übrig ist. Aber was für einen Sinn hat das Heimliche, wenn man allein bleibt damit? Über vierzig Jahre hat Wolfgang gewartet, und jetzt, da sich alles ändern soll, hat er niemanden. Was soll ich noch auf der Welt, wenn ich allein sein muss?, denkt er, knotet den Strick fester und zieht die Schlinge zu.

»Sie kommt, sie kommt, sie kommt.«

Was war das? Hat jemand gesprochen, oder war das eine Stimme in seinem Kopf? Günter nebenan schnarcht weiter, der hat nichts gehört.

Vielleicht sollte man doch noch warten, schießt es Wolfgang durch den Kopf. Was für einen Unterschied macht schon ein weiterer Tag, hier, wo ein Tag ist wie der andere?

Aber das war nicht ihre Stimme. Die kennt er genau. Es kann gar nicht ihre Stimme gewesen sein, denkt er; sie würde nie mehr mit ihm sprechen. Nie mehr. Damals, vor zwölf Jahren, haben sie ihm den Brief gezeigt, in ihrer Handschrift. Dass sie ihn nie wiedersehen will, stand da, dass sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben will und wird. Am nächsten Tag kam er dann weg. Ans Meer. In die Verbannung.

Egal, wohin sie ihn auch verbannen würden und wie lange, immer bleibt doch das Bild in seinem Kopf, wie sie aussah, vor fast einem halben Jahrhundert, als er sie zum allerersten Mal erblickte.

Es war bei seiner ersten Versammlung, einer Evangelisationsfreizeit in den Ferien. Rechts stand das große Zelt. Dahinter floss die Oker. Er trat aus dem Versammlungszelt, davor sang der »Wagner-Chor«. Wagner, so hieß ihre Familie. Wunderschön haben sie gesungen. Der Fluss warf die späten Sonnenstrahlen zurück, das Gras duftete. Und da war sie, vorne rechts an der Seite, die Kleine mit der hohen Stirn und dem dunkelblonden Kranz auf dem Kopf. Sie gefiel ihm, wie sie dort stand, im weit schwingenden Sommerkleid. Ganz in sich versunken. Und im Gesang. Das ist sie, dachte er. Meine Frau. Er denkt es auch jetzt.

*

Dies ist eine Geschichte von Liebe und Sehnsucht.

Die Geschichte einer Liebe, die systematisch und gewaltsam zerstört werden sollte. Mit Folter, Elektroschocks, Isolation, Gehirnwäsche. Und die doch immer wieder aufflackerte, fünfzig Jahre lang.

Und eine Geschichte von Angst und Verrat. Von Gewalt und Vernichtung. Von Schuld. Von Menschen und von Regierungen, die wegsehen, weil sie feige sind oder weil sie von der Gewalt profitieren.

Sie begann, als Wolfgang neun Jahre alt war.