KAPITEL 18


Liebe in den Zeiten der Folter

Ach, Lieben ist eine Reise mit Wasser und mit Sternen,
mit erstickter Lust und jähen Stürmen aus Mehl;
Liebe ist ein Kampf mit Blitz und Wetterleuchten,
und um des einen Honigs wegen zerfließen da zwei Leiber.

Pablo Neruda, chilenischer Nationaldichter
* 12. Juli 1904 in Parral;

† 23. September 1973 in Santiago de Chile

Vier Jahre wartet Wolfgang, nachdem er Gudrun zum ersten Mal auf der Bühne im Fundo wiedergesehen hat. Es ist schwer. Es ist schwer zu warten, aber es ist auch schwer, etwas zu tun. Es dauert lange, bis er sich durchringen kann, mit ihr zu sprechen. Wie kann ich sie treffen und wo? Wie nimmt sie das auf, und was für ein Risiko geht sie ein? Er weiß noch aus erlauschten Gesprächen in Lutter, dass man so eine Frage stellen kann, wie er sie stellen will.

Er beobachtet, wo sie arbeitet. Welche Wege sie nimmt. Wann sie wo ist. Beobachten, ohne beobachtet zu werden, denn niemand darf ahnen, was Wolfgang plant. Er versucht herauszufinden, wo es einen sicheren, aber öffentlichen Ort geben kann, um sie anzusprechen. Für einen kleinen Moment müssen sie allein sein, aber niemand, der zufällig durch den Raum kommt, darf dem irgendeine Bedeutung beimessen.

Einige Wochen nach dem Militärputsch beschließt er, es wird in der Schälküche sein. Dort, wo das Gemüse geputzt wird, arbeitet sie, und er kann diesen Raum betreten, ohne Verdacht zu erregen.

Eines Tages sagt er dann im Vorbeigehen, so unauffällig wie möglich: »Ich möchte dich gern mal sprechen.« Denselben Satz, den er schon einmal gesagt hat. Vor dreizehn Jahren.

Gudrun erschrickt, sie fühlt ihren Herzschlag im Hals, sie meint, auch andere müssten es hören. Schäfer hört es bestimmt. Allein dieser Austausch ist ein Tabubruch und kann Schläge und Schlimmeres nach sich ziehen. Dennoch geht sie auf Wolfgang ein. »Aber nicht hier.«

Beide machen eine Atempause. Sie schauen sich um. Niemand ist da. Ihr Abstand voneinander beträgt anderthalb Meter, das wird geduldet. Nun muss Wolfgang das Kunststück vollbringen, nicht näher zu kommen, aber auch nicht zu laut zu sprechen. Nebenan darf ihn niemand hören. Aber zu leise darf er auch nicht sein, denn Gudruns Ohren sind durch die routinemäßigen Ohrfeigen schon geschädigt. Wie bei vielen hier. Doch das wissen beide noch nicht.

»Abends auf dem Acker.« Es ist raus. Sie hat es gesagt.

»Auf dem Kuhweg«, ergänzt er. Er weiß genau, auf dem Pfad, über den tagsüber die Kühe getrieben werden, ist abends keiner. Über Plätze der Einsamkeit denkt er schon lange nach.

Dann verlässt er die Schälküche. Eine Zeit brauchen sie nicht zu vereinbaren, sie können es auch gar nicht. Keiner hat eine Uhr, nur die Gruppenleiter, zum Überwachen der Arbeit. Der Pito genügt, der hohe, durchdringende Ton, der die Bewohner zu den verschiedenen Tätigkeiten ruft.

Nach seiner Arbeit wird Wolfgang so lange am Kuhweg warten, bis Gudrun kommt. Dass sie kommt, weiß er.

So ein leichter Moment, denkt er, als er abends auf Umwegen dorthin geht. Er ist fröhlich. Aufgeregt und sehr fröhlich. Er muss sich zusammennehmen, um nicht zu hüpfen und zu singen. So ein leichter Moment, das hat er noch nie erlebt. Endlich kann er mit ihr sprechen. Unter vier Augen. In Gedanken spricht er schon mit ihr.

Dieser wundervoll leichte Moment wird ihm immer im Gedächtnis bleiben. Alles Schwere ist plötzlich weg. Alles andere zählt nicht.

Da kommt sie nun, die Kleine. Immer noch so zart. So was Feines. Man sieht es trotz der groben Kleidung, die sie tragen muss.

Er möchte sie berühren, aber er tut es nicht. Ihre Hand anfassen vielleicht. Ihr Haar. Er spürt aber auch ihre Angst. Er weiß von ihren schlechten Erfahrungen. Vielleicht mehr als sie selbst. Er hat ein fast überwältigendes drängendes Gefühl. Aber er möchte ihr Vertrauen. Ganz zart will er umgehen mit ihr. Dass man ohne Angst einfach miteinander reden kann, ist schon unglaublich viel. Und wenn es nur ein paar Worte sind und ein paar Minuten.

»Wollen wir zusammenkommen und zusammenbleiben?«, fragt er sie. Diese Frage ist so bedeutungsschwer, als hätte er gefragt: »Willst du mich heiraten?« Und das hat er ja auch.

»Gib mir ein bisschen Zeit, ich muss überlegen. Ich kann das nicht sofort sagen«, antwortet Gudrun.

»Nimm dir alle Zeit, die du brauchst«, erwidert Wolfgang. Und fragt gleich am nächsten Tag wieder nach. Später treffen sie sich wieder.

»Ja«, sagt Gudrun. Mehr nicht. Eine schlaflose Nacht lang hat sie sich damit beschäftigt. Sie kennt ihn ja gar nicht. Geht sie danach, wie die anderen ihn sehen, wie er abgestempelt ist? Der Fuscher, der manchmal stottert, der Rotfuchs? Aber in ihrem Herzen ist es anders drin. Von Anfang an. Als er sie am nächsten Tag wieder fragt, da weiß sie: Ja. Ja.

Und das Ja festigt sich immer mehr.

Was bedeutet dieses Eheversprechen für zwei, die nicht zusammen gesehen werden dürfen, geschweige denn heiraten können?

Trotz der ständigen sexuellen Angriffe des tío permanente, verlernt Wolfgang nicht, die Signale seines eigenen Körpers und seines Herzens wahrzunehmen. Trotz Strafe, Folter, Mordversuchen folgt er seinem Gefühl für Gudrun, für eine Frau. Einem Gefühl also, das in der Kolonie als unmoralisch, verderbt, vom Teufel gilt.

Wolfgang ist jetzt 27, Gudrun 33 Jahre alt. Es gibt ein Foto von Wolfgang aus dieser Zeit. Er sitzt auf der Bruchsteinmauer zwischen dem Freihaus und dem Zippelhaus. An der Hauswand Kunst am Bau: die bekannte Plastik einer dürren, Lasten schleppenden Frau; auf vielen Bildern aus der Colonia Dignidad ist sie zu sehen. Bei genauem Hinsehen erst bemerkt man, dass die Lasten, die der Frau von den Händen hängen wie schwere Gewichte, zwei ebenso magere Kinder sind, eines von ihnen schreit. Die Sonne scheint Wolfgang ins Gesicht, er lächelt, und er sieht stämmig aus, kräftig, zupackend, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln. Er wirkt jünger als 27, aber das liegt an der kurzen Hose, wie sie alle Männer bis vierzig hier tragen. Dazu Halbschuhe und Socken. Jemand hat mit Kugelschreiber einen Pfeil auf das Foto gemalt, er weist auf die Armbanduhr. Sie ist etwas Besonderes. Das ist ein offizielles Foto, das nach Hause geschickt wird, als Beweis, dass Wolfgang das Geschenk seiner Eltern tatsächlich erhalten hat. Nach der Aufnahme nimmt man ihm die Uhr wieder ab.

Am nächsten Tag sehen sie sich wieder. Wolfgang geht in die Küche, Gudrun hat Frühdienst.

Sagt sie Ja? Wenn sie Ja sagt, weiß er Bescheid. Ja. Heute will sie sich mit ihm treffen.

Sie treffen sich, so oft sie können. Heimlich. Bei Nacht und Nebel. Draußen. Wo sollen sie auch hin? Einmal, was für ein Luxus, treffen sie sich in einer kleinen leer stehenden Wellblechhütte, einem Wohnwagen aus Blech. Das Hannelore-Häuschen. Wolfgang weiß, dass es ein Wachtturm ist, und Gudrun hat dort 1970 mit ihrer Gruppe, dem »Dornbusch«, kampiert, als sie die Wahl von Allende zum Präsidenten mit göttlicher Hilfe und inbrünstig betend verhindern sollten.

Doch das ist jetzt egal.

Der unvergleichlich zarte Moment wiederholt sich. So zart, wie er sie wahrnimmt, geht Wolfgang auch mit ihr um.

Wie geht es einem Mann, der seit Jahrzehnten auf eine Frau wartet, ohne dass sie es weiß? Der sie heranwachsen sieht und sie nicht erreichen kann. Ein Junge, der grob missbraucht wird. Dem seit fünfzehn Jahren erzählt wird, dass Frauen Teufelsbrut sind, dreckig und verachtenswert? Der darauf trainiert wurde, sexuelle Erregung nicht zu spüren. Der wegschauen muss, wenn Frauen seinen Weg kreuzen. Was macht der, wenn er allein ist mit der Frau, die er seit Langem liebt?

Als sie in ihrem Versteck sind, der Blechhütte, fällt all das plötzlich von ihnen ab.

Er kann sich so geben, wie er ist, er kann sich ausziehen, und sie kann er auch ausziehen. Alles ist plötzlich ganz leicht. Sie lachen. Alle Zeit der Welt.

»Es war ein zauberhafter Moment«, sagt er noch heute. »Es war der siebte Himmel.«

Sie schauen sich an. Sie, die sich nicht einmal selbst anschauen dürfen, geschweige denn andere, betrachten einander mit Ruhe und Neugier. Sie suchen nach Wörtern, denn sie haben keine gelernt. Zart berühren sie einander. Wolfgang ist ganz vorsichtig; ganz sanft geht er mit ihr um. Wie mit etwas sehr Zerbrechlichem.

Er ist lieb, denkt Gudrun.

Sie erzählt ihm von ihrer Angst. Dass sie nie mehr erleben möchte, was sie in Siegburg erleben musste. Zwar weiß sie noch nichts von den Schlägen, der Folter, aber ihre Erinnerungslücken fühlen sich so schrecklich an, und in den schwarzen Lücken verbinden sich Lust und Schuld miteinander. Als sie es erzählen kann und er sie tröstet, verschwindet das Gefühl. Für diesen einen Moment. Sie sehen sich an und finden sich schön. Sie sind schön. Aber sie wissen es nicht, denn sie leben seit ihrer Kindheit in einer Umgebung, wo das Schöne verteufelt wird und das Grobe verherrlicht. Er, den andere immer nur schlechtmachen, über den sie sich lustig machen, und sie, für die Schäfer nicht einmal einen Namen hat, haben erkannt, wer sie sind.

»Und dann habe ich das erste Mal auf ihr gelegen«, sagt Wolfgang. »Das vergisst man nicht, wenn es so schön ist.«

Egal, was jetzt kommt, denkt er, das ist alles, was ich in meinem Leben erreichen wollte.

Wie kann Wolfgang so sein? Woher hat er diese Zartheit? Seine Biografie, seine Kindheit und Jugend, nichts ließ auf so etwas hoffen.

Und dennoch.

Sie treffen sich, so oft sie können.

Nach einer Woche kommen sie zu sich. Du darfst das ja gar nicht, denkt Wolfgang, du darfst nicht einmal daran denken.

Aber sie treffen sich weiter, weil es so schön ist.

Eines Abends arbeiten sie zu dritt an den Maschinen in der Werkstatt, Wolfgang, »der Mauk« und »Kuddel«. Es dämmert schon, da sieht Kuddel, Karl Stricker, wie ein Bus vom Empfangshaus, vom Galpon herunter in ihre Richtung kommt. Der 31-jährige Siegfried Hoffmann sitzt am Steuer. Etwas ist merkwürdig, aber was? Sie schalten die Maschinen aus und lauschen. Die Straße führt an ihnen vorbei in die Berge. Irgendwo wird ein Licht angeschaltet.

Der Mauk sagt: »Ich muss gehen. Macht’s gut, bis morgen.«

»Was ist denn jetzt los?«, fragt Kuddel und schaut ihm nach. Plötzlich erlischt das Licht an der Straße. Der Motor wird leiser, der Wagen hält.

Kuddel sagt: »Mal gucken, was da los ist.« Wolfgang und Kuddel schleichen hinter eine Hecke und versuchen zu verstehen, was vor sich geht. Der Bus steht Richtung Schlosserei, der Weg führt in die Berge. Allmählich wird es dunkel.

Nach einer Weile sagt Kuddel: »Machen wir, dass wir abhauen.«

Was machen die bloß da unten?, denkt Wolfgang, während sie leise in die Werkstatt zurückschleichen. Er hat das Gefühl, dass Kuddel mehr ahnt. Lassen wir lieber die Finger davon – diesen Gedanken haben sie beide.

Es ist nicht nur ein Bus, es sind viele, die abends oder nachts auf den Fundo fahren, mit ihrer unheimlichen Ladung. Einen davon fährt Willi Malessa.

»Heute holst du den Bus ab«, sagt Schäfer zu Willi Malessa und erklärt ihm, woher und wohin. Bis zu einer bestimmten Stelle auf dem Fundo soll er fahren, dann aussteigen, den Bus an einen anderen Fahrer übergeben und warten, bis der Bus zurückkommt. »Um alles andere kümmerst du dich nicht«, sagt Schäfer.

Im Bus ist es dunkel, als Willi ihn übernimmt, Licht wird nicht gemacht. Menschen sind drin, das merkt Willi. Beim Halt auf dem Fundo steht schon Gerhard Mücke, um den Bus zu übernehmen. Ohne ein Wort schwingt er sich hinters Steuer und fährt los.

Willi wartet. Dann hört er Gewehrsalven. Als der Bus zurückkommt, ist kein Mensch mehr drin. Außer Gerhard Mücke. Da sagt Willi Malessa: »Nicht noch einmal.« Auch wenn er den Auftrag kriegt, er wird sich weigern, so einen Bus noch einmal zu fahren.

Von alldem weiß Gudrun nichts. Aber sie weiß, dass unter dem Wohnbereich ein Schacht ist, wo sie sich verstecken können, wenn Gefahr droht. »Wenn die Russen kommen«, sagt Schäfer, »dann verschwindet ihr da unten.«

Und Wolfgang weiß, dass in der Autohalle ein Waffenlager ist. Die Pistolen liegen im Freihaus hinter dem Pavillon. Pistolen und Munition. Bei Schießübungen und Einsätzen ist auch seine Gruppe dabei und holt sich Pistolen. Später lernen sie, mit Maschinenpistolen umzugehen. Sie lernen auch, sie zu bauen. Eine interessante neue Beschäftigung. Deutsche und israelische Maschinenpistolen bauen sie nach.

Darüber sprechen die beiden nicht, wenn sie sich sehen. Das ist eine andere Welt. Meistens bleibt sowieso nur wenig Zeit, sich anzuschauen, ein paar Worte zu wechseln. Sich zu berühren, sich bei der Hand zu nehmen. Wenn es möglich ist, sich kurz zu umarmen, welch ein Geschenk.

Heinrich Neufeld aus der Ukraine spricht perfekt Russisch. Er ist Dolmetscher. Heinrich sitzt unten im Kartoffelkeller bei den Wachen und stellt Schuhputzbürsten her, wenn er nichts zu tun hat. So viele Bürsten, dass er sie verschenkt. Auch Wolfgang bekommt welche.

Und wenn er etwas zu tun hat?

Wenn er etwas zu tun hat, dann übersetzt er, was die Russen, die sie geschnappt haben, sagen.

Nachdem sie gefoltert wurden.

Gefoltert wird im Kartoffelkeller. Oben drüber sind Schlafräume. Oben hört man manchmal die Schreie.

Als Heinrich mal etwas zu tun hat, kriegt er mit, was sie mit den Russen machen.

»Was für scheußliches Essen die Russen kriegen«, sagt er zu Wolfgang. »Was wir nicht mehr essen, das kriegen die.« Als ob es nur um das Essen ginge.

Russen in der Colonia Dignidad?

Vor allem Mitglieder der Allende-Regierung, Gewerkschaftler und politisch Linke werden verfolgt. Schäfer übersetzt das in eine Sprache, die seine Anhänger verstehen: die Russen kommen. Was in Deutschland perfekt funktionierte, setzt Schäfer in Chile wieder ein: die Angst der Flüchtlinge vor den Russen im Zweiten Weltkrieg. »Der russische Stiefel ist uns auch hierher gefolgt, wir müssen um unser Leben kämpfen, um nicht zertreten zu werden.« Diese Angst schürt Schäfer. Es wirkt so nachhaltig, dass Wolfgang Müller noch 2009 von »den Russen« spricht, obwohl weder er noch seine Eltern Fluchterfahrung hatten.

Aber Wolfgang ist sich sicher: Es waren Russen in der Kolonie. Zur Zeit des Militärputsches landeten sie an der chilenischen Küste, wurden gefangen genommen und in die Kolonie gebracht. Dort wurden sie gefoltert. Was sie sagten, musste übersetzt werden. Wolfgang ist nicht der Einzige, der dies berichtet.

1974 hört der evangelische Bischof in Santiago, Helmut Frenz, Gerüchte, dass in Chile gefoltert wird. Er geht den Gerüchten nach und begibt sich, von einem Kollegen begleitet, mit der Dokumentation unter dem Arm zu Pinochet persönlich. Um diesen nicht zu provozieren, reden sie nicht von Folter, sondern sagen »physische Behandlung«. Pinochet unterbricht: »Sie meinen Folter«, sagt er, dann fügt er an: »Wenn wir die Kommunisten nicht foltern, singen sie nicht.«66

Adriana Borquez, Lehrerin für Französisch und Mitglied der kommunistischen Partei, wohnt in Talca. In den frühen Morgenstunden des 23. April 1975 wird die 39-Jährige von der DINA in ihrem Haus verhaftet, in die Colonia Dignidad verschleppt, dort 24 Tage gefangen gehalten und gefoltert. Wo sie ist, weiß sie nicht, aber sie hört deutsche Worte. Hört, wie Männer über »psychologische Folter« bei Frauen reden. Bin ich in der Colonia Dignidad?, denkt Adriana. Sie will bei Verstand bleiben, sagt lautlos Gedichte von Pablo Neruda auf. In Parral, wenige Kilometer vom Folterkeller entfernt, wurde der chilenische Nationaldichter 1904 geboren.67

Später, als sie auch andere Folterorte kennt, sagt sie, die Folter an diesem Ort war anders, technischer, und alles war so sauber. Eines Tages verrutscht ihre Augenbinde ein wenig, und sie kann sehen, dass der Teelöffel, den man ihr zum Essen gibt, eine Gravur trägt: Weihnachten 1958. Oder war es 1953? Sie sieht es nur einen kurzen Moment.

Eines Tages trifft Gudrun Wolfgang in der Autohalle. Dort sitzen sie in einem Pkw zusammen. Da geht die Schiebetür der Halle auf. »Leg dich auf den Boden«, flüstert Wolfgang.

»Onkel Hermann« kommt rein, er macht die Tür auf, macht sie wieder zu, geht um den Wagen herum, macht die Haube auf, macht sie wieder zu, geht herum, geht wieder weg. Er sieht sie, aber er sagt nichts. »Onkel Hermann«, das ist Hermann Schmidt, in Heide war er Leiter des Jugendheims, jetzt ist er der »Präsident« der Kolonie.

In jedem Raum sind Lautsprecher angebracht. Plötzlich eine Durchsage: »Fuscher, ruf in der Dunkelkammer an.«

Wolfgang ruft an und wird in die Dunkelkammer beordert. Dort werden Filme entwickelt, die offiziellen und andere, die heimlich angefertigt werden. Es sind viele. Ach du Schande, denkt er, was passiert jetzt mit dir?

Er geht hin, klopft. »Komm rein, geh in den nächsten Raum.«

Durch drei Räume muss er gehen. Alle sind dunkel. Jetzt knallt es, denkt er, zieht schon mal den Kopf ein. Nach einer Weile geht das Licht an. Der Präsident kommt herein, sagt: »Pass mal auf, trefft euch nicht immer am selben Platz, verstanden?« Das war’s. Mehr passiert nicht. Wolfgang kann sein Glück kaum fassen.

Nicht alle petzen. Manche sehen sie, aber sagen nichts. Nur im Vorbeigehen kurz: »Wir haben euch nicht gesehen.«

Ein paar Tage später sagt der Schneidermeister zu Wolfgang: »Ich habe euch nicht gesehen, aber geht bloß nicht immer an die gleiche Stelle.«

Doch es geht nicht lange gut. Sie werden wieder gesehen, und dieses Mal werden sie verraten. Wo sollen sie auch hin? Man kann sich nirgendwo verstecken. Alles findet draußen statt. Die wenigen Kinder, die in der Kolonie noch geboren werden, nennt man »Wald-und-Wiesen-Kinder«.

Nur wenige Wochen dauert dieses kleine große Glück. Ein wenig Nähe und Wärme. Vertrauen. Etwas ganz allein zu zweit haben. Niemand sonst, nur wir beide. Erotische Versuche, tastendes Vorwagen. Obwohl ihnen immer die Angst im Nacken sitzt, erwischt zu werden. Das Besondere: Sie reden miteinander. Über ihre Gefühle und über das, was sie tun. Es ist schwierig, denn ihnen fehlen die Worte. Aber auch das Suchen nach Worten ist schön.

Als der Schneider sie warnt, wissen sie, sie brauchen keine Angst zu haben. Aber es gibt andere, die gar nicht schnell genug bei Schäfer sein können. Dann gibt es »Maßnahmen«, und Wolfgang und Gudrun werden auseinandergerissen.

Es ist vorbei.

König, Dame, Sprinter, Turm

Auch für den elfjährigen Bernd Schaffrik bringt das Jahr 1973 einschneidende Veränderungen. Eines Tages wird er vom Neukra abgeholt und mit dem Fahrrad zum Freihaus, dem großen Empfangshaus, gebracht. Man führt ihn direkt in das Schlafzimmer zu Paul Schäfer im hinteren Teil des Gebäudes.

Nun ist Bernd ein Sprinter. Und wird es lange bleiben.

Wer sind die Sprinter, und was sind ihre Aufgaben? Auf diese Frage antworten viele Kolonisten zuerst: Sie sind Paul Schäfers persönliche Adjutanten. Ein Adjutant ist Offizier, der den Truppenbefehlshaber unterstützt. Doch in diesem Zusammenhang ist das beschönigend.

Bernd weiß es besser. Bernd ist viele Jahre lang einer von Paul Schäfers Sprintern. Eine Rolle, für die man ausgesucht wird und aus der es kein Entrinnen gibt. Eine Rolle, um die andere Jungen einen aber auch beneiden. Schäfer lässt sich immer von zwei Jungen begleiten, einem jüngeren, meist im vorpubertären Alter, und einem älteren. Tagsüber tragen sie seine Aktentasche, nachts die Last sexueller Ausbeutung. Dass diese Last nicht nur Gewalt bedeutet, sondern auch Lust sein kann, macht es schwerer, nicht leichter, die Erlebnisse zu verarbeiten. Wer sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben unwillig oder gar widerspenstig zeigt, landet im Krankenhaus bei Frau Dr. Gisela Seewald, der Doctora, wie sie genannt wird. Sie gibt den Jungen Elektroschocks mit Viehtreibern und Spritzen in die Hoden. Die Hoden schwellen dadurch massiv an. Möglicherweise handelt es sich nicht nur um Strafmaßnahmen, sondern auch um unnötige und gefährliche medizinische Experimente.

Fast während seiner ganzen Kindheit hat Bernd seelische Qual und körperliche Folter erlebt. Aber kaum Nähe und Fürsorge. Nach dem Leid der frühen Jahre spürt Bernd ein großes Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit und menschlicher Wärme, ohne dass er sagen könnte, was ihm fehlt. Die Kinder kennen keine Bilder oder Bücher von Familienleben, keine Zärtlichkeit oder Liebe. Selbst die Kinderbibel ist stark zensiert, Hinweise auf Familie und Fortpflanzung sind zugeklebt. »Seid fruchtbar und mehret euch« kommt in ihren Bibeln nicht vor. Wahrscheinlich ruft Schäfer diesen Mangel, dieses tiefe Loch der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit bewusst in den Kindern und Jugendlichen hervor und füllt es dann aus.

Schäfer kann väterlich, beschützend und trostspendend auftreten. Er kann drohen, einschüchtern, auch gewalttätig werden. Gewalttaten delegiert er meist an seine Schläger. Inzwischen hat er einen raffinierten Ablauf konstruiert: Wer ihm zuwiderhandelt, erhält »Maßnahmen«, das heißt, er wird durch einen Schläger verprügelt, ohne dass er weiß, dass Schäfer den Auftrag dazu gab. Eine Anordnung sagt, dass man sich nach einer solchen Bestrafung innerhalb weniger Minuten bei Schäfer melden muss. Schäfer lässt sich die Strafe in allen Einzelheiten berichten. Dann tröstet er.

Bernd weiß nichts von Sexualität. Und er wird auch nichts davon erfahren, bis er fast vierzig Jahre alt ist. Er denkt, was Schäfer mit ihm macht, sei eine besondere Art der Bestrafung für irgendeine von Bernds vielen Übeltaten. Und diese Bestrafung darf nur er, der tío permanente, der oberste Priester, der Papst, wie Schäfer sich inzwischen auch nennen lässt, an ihm ausführen. Niemand sonst.

Oft fragt Schäfer mit ernstem, besorgtem Gesicht nach körperlichen Regungen oder Handlungen. »Hattest du Anfechtungen?« Anfechtungen sind zum Beispiel Erektionen. Wer von den Jungen Anfechtungen hat, geht zu Schäfer. Der weiß zu helfen. Manche drängen sich darum. Manche gehen zu Schäfer, bis sie dreißig sind. Die Pubertät hat bei Bernd noch nicht begonnen, in der Hinsicht hat er nichts zu vermelden. Weiß aber Bernd oder ein anderer Junge nichts zu vermelden, zweifelt Schäfer es an. »Willst du etwa lügen?« Dann geht die Befragung weiter: »Es sind aber einige Herren zu mir gekommen, die gesehen haben, dass du das gemacht hast! Willst du das noch länger abstreiten? Oder soll ich den Onkel Mauk reinholen?«

Wenn man vor lauter Angst sagt, was er hören will – was auch immer das ist –, fordert er auf: »Zeig mal, wie du das gemacht hast!« Und verlangt, dass der Junge es zeigt. Am eigenen oder an Schäfers Geschlechtsteil. Später findet Bernd heraus, dass es anderen ebenso ergeht.

Viele befriedigen sich gegenseitig. Das aber darf Schäfer nicht erfahren. Das ist ausschließlich sein Privileg.