KAPITEL 5


Verführung

1958
Politik: Kalter Krieg der Supermächte; Massenkundgebungen gegen atomare Aufrüstung; Atomtests im Pazifik.
Gesellschaft: 100 Jahre Mutter Gottes in Lourdes;
»Wunderheiler« Bruno Gröning wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.
Im Kino: Die Zehn Gebote; Es geschah am helllichten Tag (Gert Fröbe).
Schlager: Great Balls of Fire (Jerry Lee Lewis).
Literatur: Nobelpreis für Boris Pasternak (Doktor Schiwago).
Spruch des Jahres: Macht das Tor auf!

Als Alfred Matthusen im Sommer 1957 aus Graz nach Deutschland zurückgerufen wird, vermisst Gudrun ihn sehr. Wo er ist, da will auch sie sein. Ja natürlich, gute Werke will sie auch tun. Das steht im Vordergrund, als sie mit ihren Eltern verhandelt. Da trifft es sich gut, dass Paul Schäfer gerade jetzt viele helfende Hände beim Aufbau des Jugendheims in Heide braucht. Gudruns Wunsch führt zu einem Konflikt zwischen ihren Eltern. Der Vater, begeisterter Schäfer-Anhänger, gibt die Erlaubnis, doch die Mutter verweigert ihr Einverständnis.

»Du gehst wegen Alfred dahin, nicht wahr?«, sagt ihre kleine Schwester Hedi traurig. Sie ist fünf. Aber auch das ändert nichts.

Füreinander einstehen

Gudrun geht trotzdem. Am 15. Mai 1958 bricht sie ihre Lehre ab und fährt per Anhalter nach Heide bei Birk, um das Jugendheim von Paul Schäfer mit aufzubauen. Und um ein neues Leben zu beginnen. Mit Alfred. Einen Monat später folgt ihre ältere Schwester Hilde. Im Jahr darauf der Vater mit den Zwillingen Else45 und Martha; die beiden sind nun dreizehn.

Eine christliche Gemeinschaft, in der alle füreinander einstehen, einander helfen und gute Werke tun: Das ist Gudruns Erwartung, als sie nach Heide fährt. Unterwegs sieht sie Mädchen auf der Straße, die bunte Hula-Hoop-Reifen um die Hüften kreisen lassen. Die haben Hurengeister im Bauch, sagt Paul Schäfer dann in Gudruns Kopf. Manchmal hört sie auch Musik aus einem offenen Fenster. »Wenn Teenager träumen«, singt einer. Gudrun ist sechzehn, sie ist ein Teenager, aber davon weiß sie nichts. Mit ihrem straffen Kranz auf dem Kopf, den flachen Schuhen und dem gesenkten Blick unterscheidet sie sich deutlich von den meisten Mädchen, die jetzt ihre Weiblichkeit ausprobieren, ihre Petticoats mit Wäschestärke einreiben, damit sie schwingen beim Tanzen, die mit Lippenstift und Wimperntusche ihre jugendlichen Reize unterstreichen. Die sind des Teufels, schau weg, sagt Paul. Gudrun weiß, dass sie selbst gottgefällig lebt, sie wird nicht verloren gehen.

Füreinander einstehen. Auch Ida Ritz will das. Beim gemeinsamen Abendessen in Heide sagt sie es: »Wenn Hugo« – Idas jüngerer Bruder – »in der Gemeinschaft bleiben will, gehe ich wieder nach Hause und unterstütze die Eltern. Die können wir nicht im Stich lassen beim Hausbau.«

Da brüllt Schäfer los: »Wo gibt es denn so was, dass Eltern auf Kosten ihrer Kinder Häuser bauen! Sag deinen Eltern, sie sollen uns das Haus geben, dem Alfred Schaak und mir, und wir werden sie unterhalten.«

Tatsächlich übermittelt Ida diese Botschaft den Eltern. Erst der Wutanfall ihres Vater zeigt ihr, dass etwas nicht stimmt mit Schäfers Vorschlag. »Ihr doofen Kühe«, beschimpft der Vater seine Töchter, »bringt dem faulen Strick euer Geld! Ich brauche doch keinen Schäfer, der mich ernährt! Ich habe immer noch meinen Verstand.«

Viele treffen zu diesem Zeitpunkt in Heide ein. Aus allen Himmelsrichtungen. Schäfer und seine engeren Vertrauten können gut organisieren. Die Gläubigen sind beseelt von ähnlichen Hoffnungen und Wünschen wie Gudrun Wagner. Andere werden von ihren Müttern und Vätern abgeliefert wie Ernst-Wolfgang Kneese und Wolfgang Müller. Alle sollen nach Kräften beim Aufbau einer gemeinsamen Zukunft helfen. Urchristlich soll die sein. Was das für sie bedeutet, dazu wird ihnen Paul schon das Nötige erklären. Beizeiten. Wie er ihnen auch das Nötige geben wird. Das Allernötigste, wie sich herausstellen soll.

Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.46

So beschreibt die Apostelgeschichte die christliche Urgemeinde. Sie hatten alles gemeinsam. Ein schöner Traum. Viele Sekten, die sich als urchristlich bezeichnen, haben sich das auf die Fahnen geschrieben. Doch bei manchen bereichert sich nur eine kleine Führungsschicht, die keinerlei Rechenschaft über ihr Tun ablegt, sondern selbstherrlich darüber entscheidet, wie viel die anderen nötig haben.

Den Teufel blamieren

Sie hatten alles gemeinsam. Diese Worte sprechen auch Johannes Bechtloff an, einen jungen Hamburger Baptistenprediger mit großer Sehnsucht nach tieferem geistigem Leben. Das Wort »religiös« ist ihm viel zu flach für das, was er ersehnt. »Ein Verlangen nach intensivem Glaubensleben, wahrhaftem Leben mit Jesus«, so erklärt er seiner jungen Frau das Bedürfnis. Zwei Kinder haben sie damals. Bechtloff will leben, »ohne Heuchelei, ohne im Verborgenen Sünde zu haben«. Im Verborgenen Sünde haben – was mag das für ihn bedeuten?

Johannes Bechtloffs Sehnsucht scheint sich zu erfüllen, als er einen alten Studienfreund wiedertrifft, Hugo Baar. Baar hält eine Bibelwoche in der Baptistengemeinde Hamburg-Eimsbüttel, und Bechtloff will hören, wie sein früherer Mitschüler aus der Bibelschule in Wiedenest bei Köln sich macht. Vielleicht will er auch über alte Zeiten reden. Baar predigt anders, als sie es auf der Bibelschule gelernt haben, spontan, scheinbar ohne vorbereitetes Konzept, als ob ein heimliches Feuer in ihm glühte. Als Bechtloff die Predigt lobt, sagt Baar: »Ja, aber ich kenne einen, der ist viel größer als ich«, und beseelt beginnt er von der neuen Lehre und von Paul Schäfer zu schwärmen. Er berichtet von der Generalbeichte seines Lebens, die er bei Schäfer abgelegt habe, eine Erfahrung, die ihm so gutgetan, die ihn so befreit habe. Johannes Bechtloff ist berührt. Baar bringt eine Saite in ihm zum Schwingen. Sie beten zusammen, und Bechtloff spricht sich vor Baar als Seelsorger aus. Auf Deutsch: Er schüttet ihm sein Herz aus. Nun weiß Baar, was darin ist.

Bald darauf erhält Johannes Bechtloff eine Einladung zur Osterfreizeit in Heide. Er kommt gern. Diese Woche beschert ihm tatsächlich das tiefere, intensivere Leben mit Christus, nach dem er sich sehnt, und nun will er diese radikalere Form mit Beichte und »den Teufel blamieren« auch in seiner Gemeinde in Hamburg-Hamm einführen. Bechtloff ist sehr beliebt bei seinen Baptistengeschwistern. Bis jetzt. Diesen neuen Ton aber können sie nicht ertragen. Er ist zu heftig, drohend, strafend. Er macht ihnen Angst. Es ist ein zorniger Gott, den Bechtloff beschwört. Seine Gemeinde sagt ihm freundlich, aber unmissverständlich, dass sie in den Versammlungen lieber getröstet als mit Worten geprügelt werden will. Und entlässt ihn.

Da fügt es sich für den jungen Familienvater – Bechtloffs Frau ist gerade mit dem dritten Kind schwanger – ganz wunderbar, dass Baar und Schäfer ihn auffordern, nach Heide zu kommen und dort als Hauslehrer zu arbeiten. Die Gemeinde wächst stetig, auch von »seinen« Baptisten in Hamburg-Eimsbüttel hat Hugo Baar eine Gruppe Jugendlicher abgezogen und Schäfer zugeführt.

Alle arbeiten mit beim Bau des Jugendheims, Gräben werden ausgehoben, Fundamente gelegt, Mauern hochgezogen, Läden werden eröffnet, Geld verdient, alles kommt in eine Kasse. Daraus wird bezahlt, was nötig ist an Kleidung. Sie haben alles gemeinsam. Begeistert packt Johannes mit an.

Doch auch in Heide kann Schäfer nicht unkontrolliert tun, was er will. Die Gesundheitsbehörde kündigt eine Routinekontrolle des alten Gebäudes an, in dem die Jugendlichen während der Bauarbeiten noch wohnen. Ein Problem: Es gibt nicht genügend Schlafplätze; die Jugendlichen müssen sich zu zweit ein Bett teilen. Diese Feststellung hätte zur Schließung des Heims geführt. Daher ist die Kontrolle lästig, Schäfer will sie verhindern.

Wieder kann Onkel Paul seine Anhänger überzeugen, dass auch dies ein Akt der Verfolgung wahrer Christen ist. So lässt er seine Herde fasten; aus Protest gegen behördliche Willkürmaßnahmen treten sie nun in den Hungerstreik. Sie hungern mehrere Tage lang. Eines Nachts entdeckt Heinz Rahl im Jugendheim eine undichte Leitung, als Klempner will er sie reparieren und macht sich auf die Suche nach dem Leck. Als er an der Küche vorbeigeht, hört er Leute lachen. Er linst durch einen Türspalt hinein und sieht Schäfer und dessen engere Freunde beim Festmahl: gebratene Enten und Hühner. Es kommt ihm vor wie ein Blick ins Schlaraffenland. »Sie haben gefressen«, erzählt er später, »und wir sollten fasten.« Er lässt alles stehen und liegen, verlässt das Heim und die Gemeinschaft und kehrt nie mehr zurück. Den anderen sagt er nichts. Schon jetzt können Konflikte nicht mehr in der Gemeinschaft gelöst werden, sondern nur noch durch die Flucht.

Die Heimkontrolle taucht dann doch noch auf. Überzählige Kinder müssen sich sofort verstecken. Bis alles vorüber ist, hocken Gudrun und ihre Freundin Lilli aus Gronau im früheren Schweinestall, jetzt ein sauberes kleines Häuschen. Gudrun wohnt zwar im Jugendheim, ist da aber nicht gemeldet. Lilli wohnt überhaupt nicht hier, sondern weiterhin in Gronau bei ihren Eltern, und kommt an den Wochenenden her. Im Schweinestall hockt sie nur, um Gudrun und den anderen Mädchen in ihrem Versteck Gesellschaft zu leisten. Sie flüstern miteinander und erzählen sich Witze. Dann fragt eine: »Wen würdet ihr später heiraten?« Renate Müller sagt: »Wenn ich später mal heirate, dann möchte ich den Wolfgang Müller haben.« Alle kichern. Rita schwärmt für Manfred Skrabs. Marlies findet Ernst-Wolfgang Kneese interessant. Ein Spiel unter Mädchen, unbeschwert, vertraut, bedeutungslos. Keiner der Jungen hat eine Ahnung von den Gefühlen der Mädchen. Nie würden die es ihnen sagen.

Als Lilli wieder einmal ein Wochenende im Jugendheim verbringt, kommt eine Postkarte an von Rita. »Du hast es gut«, steht auf der Rückseite. Paul Schäfer hat sie schon gelesen. Was das bedeutet, will er wissen. Lilli druckst herum, will es nicht sagen. Er besteht darauf. Nach längerem Verhör gibt sie preis, dass Rita gern hier wäre, weil sie dann einen Jungen sehen könnte, den sie mag. Manfred Skraps.

Sie hatten alles gemeinsam. Nein, nicht alles. In der Baracke leben Männer und Frauen getrennt. Johannes Bechtloff erfährt, dass es auch im neuen Jugendheim einen Männertrakt und ein Haus für Mädchen und Frauen geben wird. Und einen dritten Trakt mit Schäfers Domizil. An den ist der Jungen-Trakt angegliedert. Bisher wundert sich keiner über diese seltsame Anordnung.

Sonntags steht Schäfer mit der Bibel in der Hand da und liest Gottes Wort vor. Das allein flößt seiner Gemeinde ein solches Vertrauen ein, dass es für sie unmöglich ist, etwas anderes dabei zu denken.

Nicht einmal die, die sehen, wie Schäfer die heranwachsenden Jungen wäscht und badet, wundern sich. Auch nicht, als sie beobachten, wie die Kinder morgens aus Schäfers Bett krabbeln. Schäfer ist erhaben über irdische Dinge. Er ist der Schäfer, der Hirte, er ist nicht der Wolf. Er ist heilig.

Johannes Bechtloff hat sich nie verziehen, dass er Schäfer damals nicht durchschaut hat. Der alte Mann kann den jungen Mann von damals nicht mehr verstehen. Jenen jungen Mann, der 1958 voller Begeisterung Schäfers Ideen umsetzt und dessen Aktionen mit allen Kräften unterstützt. Wie die Tonfilm-Missionswoche im Saal des Kaiser-Wilhelm-Museums in Krefeld 1958, über die ein Regionalblatt schreibt:

Junge Missionare des christlichen Glaubens – 60 Jungen und Mädchen traten wie an vielen anderen Orten Deutschlands auch in Krefeld an die Öffentlichkeit, um vor allem die Jugend durch überzeugende Filme zu den tieferen Werten des Lebens hinzuführen.

Vor dem Posaunen- und Liederchor, zu dem auch Gudrun gehört, haben sich Hermann Schmidt, Paul Schäfer und Johannes Bechtloff für die Kamera des Pressefotografen aufgebaut. Der Artikel zitiert Bechtloffs Worte, »dass der Mensch mehr denn je darauf bedacht sei, sein Tiefstes und Innerstes vor dem Nächsten zu verbergen«. Das ist natürlich O-Ton Schäfer, der alles daransetzt, sein Innerstes zu verbergen, und dasselbe auch bei seinen Mitmenschen vermutet. Man könnte es Projektion nennen. Spannend zu beobachten, wie dieser Prozess jene tiefe Sehnsucht nach Offenheit bei Bechtloff entzündet.

Zu der Veranstaltung müssen die jungen Leute des Posaunen- und Liederchors eine Woche lang jeden Abend von Siegburg nach Krefeld trampen und nach dem Ende der Veranstaltung wieder zurück. Manchmal kehren sie erst in den Morgenstunden heim und müssen sofort zur Arbeit. Oft tun Gudrun die Füße weh, und sie kann kaum mehr gehen vor Müdigkeit. Aber da ist die Angst vor dem strafenden und brüllenden Schäfer-Gott, wenn man es nicht schafft. »Du bist selber schuld«, schreit er, »sicher hast du die Pest!« Oder er schreit: »Du hast sie sitzen!« Was meint er damit? Die Teufel? Schäfer kann sich jetzt schon darauf verlassen, dass die Angstfantasien seiner Anhänger das ergänzen, was ihm an Worten fehlt.

Nichts davon wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen, auch das Regionalblatt ist voll des Lobes über die »Hilfe für junge gefährdete und Hilfe suchende Menschen … Die Jugendmissionsgruppe baut an ihrem Sitz in Heide ein Jugendheim für 120 Jugendliche, das für diese den Start in ein neues Leben bedeuten wird.«

Dass die Jugendlichen gerade in diesem Heim ganz besonders gefährdet sind, ahnt keiner. Damals nicht. Und bei heutigen Parallelfällen auch nicht. Die systematische pädosexuelle Unterwanderung der Odenwaldschule überraschte ebenfalls. Warum eigentlich? Hinweise gibt es überall von Anfang an.

Einige Zeit nach der Geburt des dritten Kindes folgt Christel Bechtloff ihrem Mann nach Heide. Der Nachwuchs wird bei einem kinderlosen Ehepaar in Pflege gegeben – im zwei Fahrstunden entfernten Gronau, wo Hugo Baar inzwischen Prediger ist. Die Kinder sind noch zu klein; als Arbeitskräfte also nutzlos, und so kann Frau Bechtloff ungehindert mit anpacken. »Arbeit ist Gottesdienst«, sagt Paul Schäfer, er sagt es immer wieder. Christel Bechtloff teilt die Begeisterung ihres Mannes für den Prediger nicht. Nach anfänglicher Neugierde findet sie die Sache immer merkwürdiger. Besonders die Trennung von ihrem Mann irritiert sie. Der wohnt im Männertrakt. Was soll das? Fremd kommt ihr das alles vor, unnatürlich. Doch sie beruhigt sich mit dem Gedanken, dass es nur vorübergehend ist, für ein paar Wochen, bis sich eine gemeinsame Wohnung findet. Aber die findet sich nicht. Als sie gedrängt wird, endlich ein Gelübde auf Schäfers Weg abzulegen und ins Kreuzverhältnis einzutreten, lehnt sie rundweg ab. Mit schönen Worten will man es ihr schmackhaft machen als etwas sehr Erstrebenswertes: »Die Neuen sollen doch auch die Möglichkeit bekommen, in das Kreuzverhältnis gehen zu dürfen.«

»Ich geh da nicht rein«, sagt sie und lässt sich auf keine Diskussion ein. Je klarer sie wird, desto besser behandelt Schäfer sie. Sie wartet auf eine Wohnung, und sie kann sich frei bewegen. Als sie »den Teufel blamieren« soll, ihre Sünden und alle schlechten Gedanken bekennen, denkt sie: »Das können die anderen machen, aber ich nicht.«

Nun wird Johannes Bechtloff nach Graz abgeordnet. Man muss ihn von seiner aufmüpfigen Frau trennen, mag Schäfer gedacht haben, sonst funktioniert er nicht, wie ich will. Divide et impera – teile und herrsche. Laut sagt Schäfer: »Auch die kleine Gemeinde in Graz muss mit Gottes Wort versorgt werden.« In Graz wohnt Johannes bei Gudruns Tante Resi. Weit weg und ohne seine Frau. Es gefällt ihm nicht, aber er erträgt es. Wie sie meint auch er, es ist nur vorübergehend, bis sich eine Wohnung für die Familie findet.

Seltsam. Paul Schäfer ist auch bei einem weiteren Gebot ganz deutlich: Er fordert Ehelosigkeit und Auflösung der Familien. Also: kein Sex. Genau darum hat Schäfer auch am Böcklerschen Ehebett gerungen, als Ida und ihre Schwester langsam einnickten, weil es ihnen so eintönig war oder weil es sie überforderte.

Kein Sex: Überhören Johannes und viele andere das? Oder ist es auch ihr eigenes Ziel? Hat Schäfer erreicht, dass sie ihre emotionalen und sexuellen Bedürfnisse für Teufelswerk halten, das sie sich abgewöhnen müssen? Oder ist etwas anderes im System Schäfer so ansprechend und kostbar für diese Menschen, dass sie andere Aspekte vollkommen ausblenden? Viele Frauen aus freikirchlichen Gruppen haben vier, sechs, acht, zehn Kinder geboren, manche mehr. Zuverlässige Empfängnisverhütung gibt es nicht. Oder man lehnt sie aus religiösen Gründen ab. Manchen dieser Frauen mag ein Leben ohne Sex erstrebenswert erscheinen. Aber den Männern?

Alfred jedenfalls bedrängt seine kleine Freundin Gudrun unermüdlich, aber sie bleibt standhaft. Alfred schmollt: »Erst zeigst du mir den Apfel, und dann nimmst du ihn mir wieder weg.«

Das Weihnachtsfest 1958 wollen Gudrun und Hilde mit der Familie in Graz feiern. So wie immer. Sie sagen es Paul Schäfer.

»Zu den Eltern?«, fragt er drohend. Und dann laut: »Wer sind eure Eltern?«

Gudrun weiß, was er hören will: »Die den Willen Gottes tun.«

Den Kontakt zur Außenwelt schränkt Schäfer stark ein. Entweder die ganze Familie macht mit, oder man muss sich von ihr fernhalten.

»Fragt Gott, was das Richtige ist«, befiehlt er den Schwestern. Gudrun und Hilde suchen die Antwort im Gebet. Am nächsten Morgen teilt Gudrun ihm das Ergebnis mit: »Wir sollen zu den Eltern fahren.«

»Gut«, erwidert Schäfer, »aber wenn ihr jetzt fahrt, kommt ihr nie wieder.«

Da bleiben sie im Heim.