Methusalem
Ich habe einige Jahre in einem Haus gewohnt, das mit zwei anderen Häusern einen großen Hof abseits der Straße umgrenzte. Hof und Gebäude gehörten einer Erbengemeinschaft: Vier oder fünf alten Schwestern und ihrem etwa vierzigjährigen Neffen.
Teils wurde der Hof als Parkplatz benutzt, teils bestand er aus gepflegten Rasenflächen, von Blumen, Büschen und Bäumen gesäumt. Das Seltsame war: Niemand durfte den Rasen betreten – abgesehen von dem armen Wicht von einem Neffen, der darauf spekulierte, nach dem Ableben der Tanten das gesamte Erbe in die Hand zu bekommen. Um sich das Wohlwollen der Alten zu sichern und sich gegen die Konkurrenz der ferneren Verwandtschaft zu behaupten, mähte er den Rasen, pflegte und stutzte die Blumen, Büsche und Bäume, übernahm alle Hausmeisterarbeiten und wartete im übrigen ungeduldig auf den Tod der reizenden Tanten. Nur – die alten Damen wollten partout nicht sterben. Als ich nach sechs Jahren auszog, waren alle noch am Leben und quietschfidel. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Tanten gehörte es, am Fenster oder auf dem Balkon zu lauern und den kostbaren Rasen zu überwachen – immerhin gab es einige Kinder in den Häusern, und hin und wieder verirrte sich eins auf das gemähte, gepflegte Grün, nur um sofort von den wachsamen alten Weibern angekeift und verscheucht zu werden. Die Tanten waren der festen Überzeugung, daß kleine Kinder der gefährlichste Feind ihres Rasens waren. Den Kindern erklärten sie, sie sollten sich gefälligst auf dem nächsten Spielplatz austoben (wo, nebenbei bemerkt, andere alte Damen ihre übergewichtigen Dackel spazierenführten und in den Sandkasten scheißen ließen.) Ich habe mich oft gefragt, was die Kinder wohl gedacht haben. Ich glaube nicht, daß sie verstehen konnten, warum der Rasen verbotenes Gebiet war. Immerhin habe ich selbst es nicht verstanden – sieht man davon ab, daß ich die auf den Balkonen lauernden Tanten für krank hielt … Irgendwann las ich dann einen Artikel über die rückläufigen Geburtenziffern in der BRD und die daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Jahren nach 2000. Und wieder einige Zeit später fügten sich die Tanten, der Rasen, die Kinder und der Artikel zu einer Geschichte namens »Methusalem« zusammen …
In der Nacht hatten Unbekannte einen Elektrischen Maulwurf auf die Computerleitspur des Kölner Citytax-Netzes angesetzt, und gegen Morgen, als es dem Technischen Dienst endlich gelang, den Maulwurf aufzuspüren und mit einem gezielten elektromagnetischen Schockimpuls auszuschalten, waren vier Verteilerrelais zerstört und große Teile der Südstadt ohne City-Anschluß.
Das sind die Nachrichten, die einem den Morgenkaffee versüßen, dachte Philip Jaumann verdrossen und schaltete über die Fernbedienung das Radio aus.
»Juniacs«, sagte Katrin. Mit zusammengekniffenen Augen bohrte sie ihr Messer in das ofenfrische Brötchen. »Ich gehe jede Wette ein, daß die Juniacs dahinterstecken. Genau wie in Berlin. Halbwüchsige Terroristen, die jeden umbringen, der älter als fünfzig ist.« Sie nickte bekräftigend und teilte das Brötchen mit chirurgischer Präzision. Es sah wie eine Hinrichtung aus.
Jaumann schauderte. Daran werde ich mich nie gewöhnen, durchfuhr es ihn. Nicht an diese allmorgendliche Hinrichtung des Backwerks. Zum Teufel, das kann kein Zufall sein. Es muß etwas zu bedeuten haben. Vielleicht ist Katrin krank. Unheilbar geisteskrank wie diese Junior-Aktivisten, für die jeder Rentner, jeder, der auch nur irgendwie alt aussieht, Freiwild ist …
»Warte nur ab«, fuhr Katrin düster fort. »Das mit dem Maulwurf ist erst der Anfang. Es ist wie in Berlin. In Berlin hat es auch mit Maulwurf-Anschlägen auf die Leitspuren der Automatentaxis begonnen, und später haben sie dann ein Krebsprogramm in den Zentralcomputer geschleust. Sechzehnjährige Hacker, die eine ganze Stadt lahmgelegt haben. Und all die Toten! Gott, bin ich froh, daß wir keine Kinder haben. Stell dir vor, wir hätten eine derartige Bestie in unserem Haus großgezogen. Man weiß doch, was die Berliner Senioren mit den Eltern der Juniacs gemacht haben.«
Jaumann rührte in seinem Kaffee. »Unsinn«, sagte er. »Köln ist nicht Berlin. Es wird hier keine Wiederholung des Berliner Blutsonntags geben. Und noch liegen keine Beweise dafür vor, daß die Täter zu den Junior-Aktivisten gehören. Vielleicht waren es Technophobe; irgendwelche gemeingefährlichen Naturfreaks, die sich nicht mehr mit der Demontage von Taschenrechnern oder mikroprozessorgesteuerten Schmusetieren zufriedengeben wollten. Zum Teufel, in dieser Stadt wimmelt es doch von gelangweilten Irren, die nur auf eine Gelegenheit warten, ihre massenmörderischen Pläne in die Tat umzusetzen.«
Er nippte am Kaffee und verbrühte sich die Zunge. Mit einer gemurmelten Verwünschung sah er zur Kaffeemaschine hinüber. »Manchmal verstehe ich diese Technophoben«, knurrte er. »Manchmal verstehe ich sie wirklich. Diese verdammte Maschine. Immer ist der Kaffee zu heiß.«
»Es waren die Juniacs«, beharrte Katrin. Das Messer blitzte im Licht der Küchenlampe, als sie mit einer schwungvollen Bewegung ein Stück Butter aufspießte. »Die Südstadt ist ein Seniorenviertel. Dort wohnen nur Rentner und Pensionäre. Ganze Straßenzüge voller Greise. Und jeder weiß, daß die Cittax hauptsächlich von den Senioren benutzt werden.«
Sie bestrich das Brötchen mit Butter. »Warum auch nicht? Wenn ich fünfzig Freikilometer im Monat hätte, würde ich auch nicht mehr mit der Magnetbahn fahren. Ich würde mich auch direkt vor die Haustür kutschieren lassen. Dabei braucht man noch nicht einmal gebrechlich zu sein. Man muß nur seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert haben.« Sie verzog den Mund. »Wenn ich ein Junior-Aktivist wäre, ich würde mir für einen Anschlag die Südstadt aussuchen. Oder die Rheinterrassen. Gott, all diese alten Menschen, die an den Rheinterrassen mit dem wundervollen Blick auf den Fluß wohnen. Dabei haben die doch nichts von der Aussicht, oder? Die meisten sind doch blind. Oder so gut wie blind. Kurzsichtig und …«
»Sie tragen Brillen«, unterbrach Jaumann. »Kontaktlinsen. Transplantate. Manche von denen sehen mehr als du und ich zusammen.« Vorsichtig nippte er erneut an seinem Kaffee. Er verzog den Mund. Zu süß.
Ein hungriger Ausdruck trat in Katrins Augen, aber ihr Hunger galt nicht dem Brötchen, dessen knusprige, gebutterte Spitze soeben in ihrem Mund verschwand und von den Schneidezähnen geköpft wurde. »Vielleicht hat es Tote gegeben«, sagte sie kauend. »Wie in Berlin. Wie am Blutsonntag.«
»Nein.« Jaumann schüttelte den Kopf. »Dann hätten sie es in den Nachrichten gebracht. Du hast doch gehört: Nur ein Dutzend Unfälle mit geringen Sachschäden. Die Automatentaxis haben bei den ersten Störungen die Parkstreifen und Haltebuchten aufgesucht. Sie sind programmiert, bei irgendwelchen Zwischenfällen an den Straßenrand zu fahren. Was in Berlin passiert ist, kann sich in Köln nicht wiederholen. Selbst wenn der Zentralcomputer von einem Krebsprogramm lahmgelegt wird – unsere Cittax rasen nicht wie Geschosse aufeinander los. Sie fahren an den Straßenrand.«
Katrin kaute. Ihre Backenzähne mahlten knirschend aufeinander und zermalmten das Brötchen Stück für Stück. Jaumann hörte fasziniert zu. Es war ein obszönes Geräusch. Es erinnerte ihn an eine hydraulische Presse, unter der Knochen barsten.
»Wieviel Menschen sind beim Berliner Massaker ums Leben gekommen?« fragte Katrin. »Hundert? Zweihundert?«
»Zweihundertsiebenundachtzig«, antwortete Philip Jaumann. »Keiner davon war jünger als sechzig. Du kannst im BTX nachschauen. Es war schrecklich. Die Automatentaxis sind zu Dutzenden aufeinander zugerast. Kamikaze. Wie diese Verrückten japanischen Flieger im Zweiten Weltkrieg.«
»Von Rasen kann keine Rede sein«, sagte Katrin. Sie griff nach der zweiten Brötchenhälfte.
»Wie?«
»Cittax können nicht rasen«, sagte Atrin. »Ihre Höchstgeschwindigkeit liegt bei vierzig Kilometer pro Stunde. Nennst du das rasen?«
»Sie sind aufeinander zugerast, und vierzig und vierzig macht achtzig. Das Krebsprogramm hat den Berliner Rechner völlig durcheinandergebracht. Jedes zweite Automatentaxi scherte auf die Gegenspur aus. Die Perversion des Reißverschlußprinzips. Ohne das rasche Eingreifen der Techniker hätte es noch mehr Tote gegeben. Aber das eingeschleuste Programm haben sie bis heute nicht eliminieren können.
Jedesmal, wenn sie glauben, das verdammte Ding endlich gelöscht zu haben, baut sich das Krebsprogramm von neuem auf. Eine teuflische Sache. Die gesamte Software ist ruiniert.«
Katrin senkte Brötchen und Messer. Sie sah ihren Mann an, und plötzlich waren ihre Augen groß und furchtsam. »Und wenn so etwas doch hier in Köln passiert, Philip?« fragte sie. »Was ist, wenn diese verdammten Juniacs auch unseren Verkehrscomputer mit einem Krebsprogramm verseuchen? Ich meine« – das Messer fuhr hoch, zerschnitt blitzend die Luft – »ich meine, dann sind wir doch alle in Gefahr. Nicht nur die Alten.«
»Seit Berlin hat man dazugelernt«, sagte Jaumann. Er ließ das Messer nicht aus den Augen. »Die Sicherungen sind so gut wie perfekt. Außerdem sind die Jugendlichen hier in Köln weniger radikal. Wir sind keine Greisenstadt wie Berlin. Bei uns besteht die Bevölkerung nicht zu neunzig Prozent aus Rentnern. Wir liegen bei knapp sechzig Prozent. Das ist schon ein Unterschied. Wirklich. Das macht verdammt viel aus.«
Der Vormittag war grau und regnerisch, und erst gegen elf Uhr riß die Wolkendecke auf. Der matte Klecks der Herbstsonne stand über den Dächern der Stadt, wo die bunten Plexiglasplatten der Fluoreszenz-Kollektoren das diffuse Licht tranken und über ihre Solarzellen in Strom umwandelten. In der Ferne reckten sich die zwanzigstöckigen Energietürme der Darrieus-Rotoren in die Höhe: Windturbinen mit vertikal angebrachten Rotorblättern, die die Auftriebskräfte des Windes nutzen konnten. Sie sahen wie gigantische, kopfstehende Schneebesen aus.
Jaumann dämpfte die Lichtgardine des Küchenfensters und sah hinunter auf den Innenhof. Da kam es. Er hatte es erwartet. Das Kind.
Das Kind war vier oder fünf Jahre alt und es gehörte den Sobrowskys vom Haus gegenüber. Es hatte blondes, kurzgeschnittenes Haar. Es war ein stilles Kind.
Aber, dachte Jaumann, das beweist nichts. Schließlich ist es das einzige Kind in der ganzen Straße. Ihm bleibt keine andere Wahl als still zu sein.
Das Kind trug Stiefel. Thermaloverall und einen Anti-Schmutz-Anorak, grün wie der wachstumsgehemmte Zuchtrasen, der die eine Hälfte des Hofes einnahm. Auf der anderen Hälfte – weitab von den Bänken und Tischen, an denen sich bei schönem Wetter die Senioren der angrenzenden Häuser versammelten und die welke, runzlige Haut der Wärme der Sonne aussetzten – stand wie ein Fossil die Kunststoffrutsche neben einem plastikumrandeten Sandkasten von der Größe einer Besenkammer. Der Sandkasten war abgedeckt, die Abdeckung zugeschraubt.
»Es ist schön, in einem Haus zu wohnen, das ein Herz für Kinder hat«, murmelte Jaumann.
Im Wohnzimmer mäßigte sich das Dröhnen der TV-Wand. »Was hast du gesagt?« rief Katrin durch die halb geöffnete Tür.
»Das Kind.« Jaumann hob seine Stimme. »Das Kind ist wieder da.«
Er sah aus dem Fenster.
Das Kind hatte sich der Rutschbahn auf halbem Weg genähert. Es hätte die Abkürzung über den Rasen nehmen können, aber es war zu klug, dieses Risiko einzugehen. Jaumann lächelte schmal. Ja, es hatte dazugelernt. Es war ein raffiniertes kleines Luder … Er hörte Schritte. Dann blies ihm Katrin ihren warmen Pfefferminzliköratem in den Nacken.
»Das gefällt mir nicht – diese Hartnäckigkeit«, zischte Katrin. »Das gefällt mir nicht. Dieses Kind ist mir unheimlich.«
Jaumann starrte nach draußen, schüttelte den Kopf. »Ich möchte wissen, warum sie nicht am Stadtrand geblieben sind. Bei den anderen.« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Da gibt es Leute, die haben sogar drei Kinder.«
»Kinder, die so hartnäckig sind«, sagte Katrin, »können gar nicht anders. Solche Kinder werden automatisch zu Juniacs. Es liegt ihnen im Blut. Es gefällt ihnen, alte Leute zu quälen.«
Jaumann dämpfte die Lichtgardine um weitere fünfzig Watt, um besser sehen zu können. »Einfach verantwortungslos. Ich möchte wissen, was sich die Eltern dabei gedacht haben. Zum Teufel, warum sind sie nicht am Stadtrand geblieben? Warum hat man sie überhaupt hier einziehen lassen? Sie stören hier nur.«
»Kleine Kinder und alte Leute«, sagte Katrin. »Dafür arbeiten wir. Um den einen die Rente und den anderen das Kindergeld zu finanzieren.«
Jaumann schwieg. Das Kind hatte inzwischen die Rutschbahn erreicht. Es blieb stehen, klein und grasgrün, und Jaumann fragte sich plötzlich, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Im Sommer, dachte er. Im Sommer werden wir es erfahren. Dann werden wir sehen, ob es Röcke oder Hosen trägt. Aber vielleicht wohnen die Sobrowsky im Sommer gar nicht mehr hier.
Der Kopf des Kindes, halb von der Anorakkapuze verborgen, drehte sich forschend hin und her. Es schien die Fenster zu beobachten, die gleißenden Rechtecke der Lichtgardinen. Als es nichts sah, hob es einen Fuß. Der Fuß näherte sich der untersten Leitersprosse der Rutschbahn.
»Jetzt«, sagte Jaumann. Er hielt den Atem an. Er wußte, was geschehen würde, und dann geschah es.
Im gegenüberliegenden Haus, im dritten, im vierten, im fünften Stock, erloschen die Lichtgardinen und die Fenster wurden aufgerissen. Wie zornige, graue Krähen streckten die Rentner die Köpfe hinaus. Weitere Gardinen erloschen, weitere Fenster öffneten sich, weitere Krähen reckten die Köpfe. Kalt starrten ihre Knopfaugen in die Tiefe, auf das Kind.
Das Kind bewegte sich nicht. Es stand da, den Fuß noch immer erhoben, erstarrt unter den Krähenblicken. Die alten Köpfe wackelten hin und her. Sie verständigten sich stumm. Die Drohung wuchs.
»Sie haben darauf gewartet«, flüsterte Katrin. Jaumann sah, daß ihre Wangen glühten. Ihr Flüstern klang heiser. Erregt. »Sie haben auf diesen Moment gewartet. Sie hassen das Kind.«
»Sie hätten am Stadtrand bleiben sollen«, wiederholte Jaumann, »die Sobrowskys. Sie müssen verrückt sein.«
In dieser Sekunde hob das Kind den Kopf und schien direkt zu ihm hinaufzuschauen. Das Gesicht war ein kleiner weißer, ovaler Fleck im grauen Vormittagslicht. Fast schuldbewußt wich Jaumann zurück. Dann drehte sich das Kind um und ging langsam über den Kiesweg zurück zum Haus. Eine Tür schlug. Der Hof war wieder leer. Die Krähen nickten in grimmiger Befriedigung. Die Fenster schlossen sich. Die Lichtgardinen leuchteten auf.
»Ja«, sagte Katrin, »es wird ein Juniac. In zehn oder fünfzehn Jahren wird aus diesem Kind ein verdammter Junior-Aktivist, und dann sind wir die Alten. Es wird uns hassen. Es wird sich an uns erinnern. Wahrscheinlich notiert es schon jetzt die Namen der Hausbewohner, um sich später zu rächen, und unsere Namen werden an erster Stelle stehen. Ich fühle es. Ich weiß es. Das Kind macht mir Angst, Philip.«
Jaumann starrte sie an. »Angst?« wiederholte er. »Aber es ist noch ein Kind. Nur ein Kind.«
Katrin wandte sich ab. »Es wird älter werden. Genau wie wir.«
»Das Kind tut mir leid«, sagte Jaumann leise.
Katrin lachte. Ihr Lachen blitzte wie das Frühstücksmesser. »Du bist eben sentimental, Philipp. Hoffnungslos sentimental.«
Am Nachmittag liebten sie sich. Der Regen prasselte gegen das Fenster, und Donner stieg polternd vom Himmel herab, und bei jedem Donnerschlag drang Jaumann tief in Katrin ein. Naturgewaltig, dachte er, schwitzend und keuchend, und er rieb sich an ihrer Haut, und ihre Haut war glatt und ihre Brüste waren straff, und er dachte: Sie ist noch so jung. Sie ist erst fünfundvierzig. Er sah sie an, während er sich über ihr hob und senkte, und wie immer, wenn sie miteinander schliefen, hatte sie die Augen geschlossen und ihr Gesicht war verzerrt, wie im Schmerz. Er hielt inne.
»Was ist?« fragte Katrin. »Was hast du? Was ist los?« Aber sie hielt die Augen geschlossen.
»Ich dachte gerade«, sagte er, »ich habe mich gerade gefragt, wie es sein wird, wenn wir sechzig sind. Oder siebzig … Ich meine, werden wir es dann immer noch tun? Die Senioren«, sagte er, »tun sie es? Wie wir? Schlafen sie miteinander wie wir?«
Katrin blinzelte. »Was soll das? Was ist los mit dir? Was redest du da?«
Es war lächerlich. Er wußte, daß es lächerlich war, jetzt, in diesem Augenblick, eine derartige Frage zu stellen, doch gleichzeitig spürte er, daß diese Frage wichtig war. »Wie ist der Sex im Alter? Greisensex. Wie wird das sein? Was fühlen wir, wenn wir uns lieben und wenn unsere Haut faltig ist? Wenn deine Brüste« – er stütze sich auf die Ellbogen, umfaßte mit den Händen die Wölbung ihrer Brüste – »wenn deine Brüste schlaff sind. Wenn sie alt sind. Runzlig.«
»Großer Gott!« Sie starrte ihn an, ungläubig, schockiert, und dann stieß sie ihn fort, rollte sich auf die Seite und zog die Decke über ihre Brüste, zog sie hoch bis zum Hals. »Großer Gott! Du mußt den Verstand verloren haben!«
»Wir könnten neunzig werden«, sagte er. Die Worte kamen von ganz allein. Er sprach wie unter einem inneren Zwang. Es war absurd. »Oder hundert. Viele Leute werden heute schon hundert Jahre alt, Verdammt, über die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Rentnern. Die Menschen werden immer älter und älter, es gibt immer und immer mehr alte Menschen. Mit ein wenig Glück haben wir noch sechzig oder achtzig Jahre vor uns. Achtzig Jahre! Zum Teufel, das sind fast … das sind fast dreißigtausend Nächte! Was werden wir in diesen Nächten tun? Und was tun die anderen in all den Nächten? Was treiben diese alten Hexen und diese Greise vom Haus gegenüber in den Nächten?«
»Du mußt den Verstand verloren haben!« Katrin sah ihn noch immer mit diesem ungläubigen, schockierten Gesichtsausdruck an.
»Ich habe gehört, daß die Lust nicht nachläßt«, sagte Jaumann. »Bei den Frauen. Sie läßt bei den Frauen nicht nach. Selbst im hohen Alter nicht. Bei uns Männern ist es anders. Organisch, verstehst du? Organisch. Altersimpotenz! Prostata! Kreislauf! Blutgefäße!« Er sprach jetzt laut. Zu laut.
Warum ereifere ich mich so? fragte er sich. Was rede ich da? Was ist los mit mir? Was? »Aber die Frauen. Was ist mit den Frauen, mit all den Millionen und aber Millionen alten Frauen? Sie müssen doch irgend etwas tun. Sie hören doch nicht auf, wenn sie sechzig sind. Oder? Hören sie auf? Hören sie einfach auf? Oder nehmen sie sich junge Männer? Gibt es Bordelle für all diese Millionen alten Frauen mit ihrer alten Haut und ihren alten Brüsten; Bordelle, wo Männer auf diese alten Frauen warten? Junge Männer? Juniacs? Ist das der Grund für den Haß der Jungen auf die Alten? Fühlen sie sich mißbraucht? Ist es das? Ist es das?«
Katrin sprang auf. Sie war blaß. Sie griff nach ihrem Morgenrock und zog ihn hastig an. »Das genügt, Philipp«, sagte sie. »Es genügt. Gott! Du bist krank. Das ist es. Du bist krank. Wir schlafen miteinander, und du denkst an diese schmutzigen Dinge.«
Das Fieber wich. Er war verwirrt. »Schmutzig? Wieso schmutzig? Was ist daran schmutzig? Ich verstehe das nicht. Was hast du?«
»Du bist pervers«, sagte Katrin. Sie nickte. Sie wurde rot. »Pervers. Mein Mann ist ein gottverdammter Perverser.«
Es donnerte, und mit dem Donnerschlag fiel die Schlafzimmertür ins Schloß. Jaumann lag da, auf dem Bett, das noch warm war von Katrins Körper, und er fragte sich, was er falsch gemacht hatte.
Angst, sagte er sich. Sie hat Angst. Vor dem Alter. Vor dem Altwerden, den Falten und Runzeln. Deshalb will sie nichts davon hören. Sie hat schreckliche Angst, aber sie kann der Wahrheit nicht entfliehen. Wenn sie aus dem Fenster sieht, wenn sie auf die Straße geht – Spiegelbilder. Wir alle sehen unsere Spiegelbilder auf den Straßen. Mit unseren Augen reisen wir in unsere persönliche Zukunft. Mit den Augen sehen wir all diese alten Menschen, diese furchtbaren Spiegelbilder unserer Zukunft: Greise, die uns so grausam an das erinnern, was aus uns werden wird.
Er dachte an das Kind.
Er fröstelte.
In den Abendnachrichten wurden Unruhen in der Südstadt und Rentnerdemonstrationen an den Rheinterrassen gemeldet. Die Panther und die Seniorenpartei riefen für den nächsten Tag zu einem Schweigemarsch zu den Familiensiedlungen am Stadtrand auf, und der Kölner Polizeipräsident warnte im Bürgerkanal des kommunalen Fernsehens vor einer Eskalation des Konflikts. Noch immer gab es keine Beweise dafür, daß Juniacs für den Anschlag auf das Cittax-Netz verantwortlich waren, aber angeblich wurden alle Kölner unter Dreißig von den Fahndungscomputern überprüft. Gerüchte. Die ganze Stadt war eine einzige Gerüchteküche.
»Vielleicht waren es in Wirklichkeit die Panther«, sagte Jaumann. »Radikale Rentner, die die Spannungen anheizen wollen. In Berlin hat man nach dem Blutsonntag eine Bannmeile um die Seniorenviertel gelegt. Man hat den Jugendlichen das Betreten ganzer Stadtteile verboten. Vielleicht wollen die Panther das auch in Köln erreichen. Das ist doch denkbar, oder?«
Er sah Katrin an.
Seine Frau lag im Körperformsessel des Wohnzimmers, hielt in der einen Hand ein Glas mit grünem Pfefferminzlikör und kraulte mit der anderen das Elektrische Schmusetier: Katzenfell und Rehaugen. Das Schmusetier schnurrte. Jaumann schaltete die TV-Wand aus. Der Nachrichtensprecher verschwand in einer schwarzen Implosion.
Katrin drehte den Kopf.
»Du redest wie ein verdammter Junior-Aktivist«, beschuldigte sie ihn. »Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Schau dich doch an! Du bist fünfundvierzig! Dir fallen die Haare aus, du bekommst Falten, einen Bauch. Du wirst alt. Wenn dich diese halbwüchsigen Terroristen allein auf der Straße erwischen, bringen sie dich um. Und du verteidigst sie noch!«
Jaumann schwieg. Sein Blick wanderte zum Fenster. Die Lichtgardine war ein diffuser Schleier, und durch den Schleier glitzerten die Laternen der Stadt, und oben am dunklen Himmel glühte rot wie Kohlenfeuer ein Hologramm des Kölner Doms.
Katrin horchte. »Was ist das?«
Von der Straße kam Lärm. Wildes Geschrei. Heisere Stimmen wie krächzende Krähen. Jaumann fuhr zusammen.
»Großer Gott!« flüsterte Katrin. »Es wird doch nichts passiert sein. Die Juniacs werden doch nicht …«
Jaumann war mit vier großen Schritten beim Wohnzimmerfenster. Er drehte am Regulator der Lichtgardine. Sie erlosch. Er äugte hinunter auf die Straße. Im gedämpften Schein der Straßenlaternen warfen die Bäume drohende Schatten. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren geöffnet. Graue Köpfe zeichneten sich wie Scherenschnitte gegen die hellen Rechtecke ab. Haustüren standen weit offen, aus ihnen drängten sich lärmende, gestikulierende Gestalten. Die Straße war voller alter Menschen. Stöcke wurden geschwenkt, knochige Fäuste geschüttelt. Die Schreie verrieten Haß – und Furcht.
Hysterie, dachte Jaumann.
»Was ist?« stieß Katrin hervor. Sie klammerte sich an seinen Arm und starrte auf die wogende, haßerfüllte Menge. »Was ist los, Philip?«
Jaumann zuckte die Schulter. »Ich weiß es nicht. Es ist nichts zu sehen. Es ist zu dunkel.«
»Das Kind«, sagte Katrin plötzlich. Ein böser Zug entstand um ihren Mund. »Es ist das Kind. Es hat irgend etwas angestellt.« Sie atmete schwer. »Vielleicht hat es Feuer gelegt. Bestimmt hat es irgend etwas in Brand gesteckt. Ich wußte es! In diesem Kind steckt der Teufel!«
»Unsinn«, wies Jaumann sie barsch zurecht. »Das ist eine fixe Idee von dir.«
Er wandte sich ab. Katrin hielt ihn fest.
»Wo willst du hin?«
»Nach draußen«, sagte er. »Auf die Straße. Ich werde nachsehen, was passiert ist.«
Katrin lief an ihm vorbei. »Ich komme mit. Ich bleibe nicht allein in dieser Wohnung. Nicht, wenn dieses mörderische Kind in der Nacht herumschleicht und Feuer legt.«
Jaumann verzichtete auf eine Erwiderung. Mit einem leisen Seufzer ging er in den Korridor, streifte hastig Schuhe und Mantel über und folgte ihr dann ins Treppenhaus. Im Treppenhaus war es seltsam still. Ihre Schritte hallten, als sie zum Aufzug hasteten, und Jaumann sah sich schuldbewußt um. Aber die Türen blieben verschlossen. Kein Rentner kam herausgeschlurft, um sich über den Lärm zu beschweren. Wahrscheinlich waren sie alle draußen auf der Straße.
Vor dem Aufzug blieb Katrin plötzlich stehen. Im Neonlicht der Treppenhausbeleuchtung war ihr Gesicht kalkweiß.
»Wir sollten die Treppe nehmen«, flüsterte sie. »Der Aufzug … Es ist so leicht, den Aufzug lahmzulegen. Wir könnten steckenbleiben, und dieses Kind …«
Jaumann fluchte und hieb mit der Faust auf den Rufknopf. »Nun ist es aber genug«, fauchte er. »Hör auf mit diesem Unsinn!«
Katrin kniff die Lippen zusammen. Ihre Blicke wanderten unstet hin und her.
Jaumann sah sie an und dachte: Sie meint es ernst. Sie hat wirklich Angst vor diesem Kind.
Der Aufzug kam. In der engen Kabine waren Katrins Atemzüge laut. »Es war ein Fehler, den Straßenverkehr auf Computersteuerung umzustellen«, sagte sie zusammenhanglos. »Ein Fehler. Wegen der Kinder.«
»Der Kinder?« wiederholte Jaumann verwirrt.
»Als die Autos noch von Menschen gesteuert wurden«, sagte Katrin, »gab es Tausende Verkehrstote im Jahr. Viele davon waren Kinder. Es waren die wildesten Kinder, die totgefahren wurden, weißt du, die gefährlichsten.«
»Hör auf«, schrie Jaumann. »Hör auf, so zu reden!«
»Schrei ruhig. Du wirst es schon noch merken. Du wirst schon sehen. Warte nur, wenn du älter bist. Und wenn dieses Kind älter ist.« Sie nickte. »Es wird dich hassen. Und dann …«
Der Lift hielt. Jaumann verließ die Kabine und eilte hinaus auf die Straße. Die Luft war kühl und von Haß und Geschrei vergiftet. Graue Gesichter drehten sich Jaumann und Katrin zu. Falten, Runzeln und graue Haare. Knopfaugen spiegelten das Licht der Straßenlaternen. Dreißig Meter weiter drängten sich die Greise vor einem Haus und krähten zornig durcheinander.
Jaumann sah sich suchend um und entdeckte nicht weit den alten Zerrgiebel, den Hausmeister, einen dürren Senior mit Ziegenbart und Halbglatze, der schimpfend mit seinem Stock fuchtelte. Ein schweigsamer, mürrischer Mann. Aber jetzt funkelten seine Augen. Sein Gesicht war verzerrt.
Jaumann ging zu ihm. Katrin hielt sich dicht an seiner Seite.
»Was ist los?« fragte Jaumann.
Zerrgiebel senkte seinen Stock.
»Terroristen«, krächzte er. »Es sind drei. Meyer-Lansky hat sie entdeckt. Meyer-Lansky aus Nummer Vier.« Er lachte meckernd. »Auf die Panther ist Verlaß. Gleich nach dem Anschlag heute morgen haben sie in der Straße einen Wachdienst organisiert. Die Juniacs sind sofort entdeckt worden. Wir haben sie auf den ersten Metern in Ruhe gelassen und dann die Straße abgesperrt. Verdammte Bastarde!«
»Juniacs!« keuchte Katrin. »Also doch! Ich wußte es. Ich wußte es!«
Jaumann runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie, daß es Juniacs sind?«
»Woher!« Zerrgiebel schnaufte. »Es sind Jugendliche. Das ist Beweis genug. Nur Juniacs treiben sich in der Nacht in den Seniorenvierteln herum.«
»Du wartest hier«, sagte Jaumann zu Katrin. »Verstanden? Du wartest hier und ich sehe nach.« Er sah Zerrgiebel an. Der alte Mann lächelte dünn. »Hat man die Polizei benachrichtigt?«
»Wir brauchen keine Polizei«, brummte Zerrgiebel. »Wir werden allein mit diesen verfluchten Terroristen fertig.«
Jaumann lief los. Auf die Menge zu. Das Geschrei schwoll an. Der laue Abendwind roch nach Alter, nach Veilchenparfüm, ranzigem Schweiß und Zigarrenrauch. Dann kämpfte er sich durch die Menge und spürte Haß und Mordlust im Geschrei und in der bösen Blässe der Gesichter.
»Bitte«, keuchte er, »lassen Sie mich durch. Bitte.«
Widerwillig machte man ihm Platz.
Dann sah er sie.
Die drei. Junge Burschen, nicht älter als sechzehn oder siebzehn. In dünner, bunter Sommerkleidung. Mit dem Rücken an einer Hauswand. Seite an Seite standen sie mit geballten Fäusten und verschreckten Augen da und starrten in greise, haßerfüllte Gesichter. Und duckten sich, wenn Stöcke nach ihnen schlugen.
»Nicht!« rief Jaumann. »Laßt sie in Ruhe!«
Eine dicke, rotgesichtige Frau stieß ihn zurück. Faltige Hände zerrten an ihm. Knöcherne Hände wie Klauen zogen ihn zurück. Tritte. Drohungen.
»Hört auf!« brüllte er.
»Verschwinden Sie«, fauchte ein Mann, hohlwangig, kahl, mit hektisch gerötetem Gesicht. »Sie haben hier nichts zu suchen. Verschwinden Sie!« Der Mann versetzte ihm einen Faustschlag.
Jaumann stolperte und spürte weitere Knüffe. Flüche und Schimpfworte begleiteten die Schläge, die Tritte. Die Menge stieß ihn wie einen Fremdkörper ab. Er atmete schwer, als er wieder freien Raum erreicht hatte. Katrin eilte zu ihm.
»Philip! Bist du verletzt! Was ist geschehen? Warum haben sie dich geschlagen? Philip!«
Jaumann schüttelte den Kopf. »Mein Gott«, flüsterte er. Ihm wurde schlecht. »Mein Gott, sie müssen verrückt sein! Sie wollen sie umbringen!«
»Die Juniacs?« fragte Katrin atemlos.
»Sie können nicht älter als sechzehn sein«, sagte Jaumann. »Sie haben ihnen nichts getan, aber sie wollen sie umbringen.« Er fuhr herum. »Wir müssen die Polizei …«
Er verstummte.
Zerrgiebel und ein halbes Dutzend anderer alter Männer kamen näher, umringten ihn. Aus der Menge kam ein Schrei. Nicht krächzend: Jung und hell. Der Schrei brach ab. Triumphierendes Geheul verschluckte ihn.
»Sie sollten in Ihre Wohnung gehen, Jaumann«, sagte Zerrgiebel langsam. »Nehmen Sie Ihre Frau und gehen Sie in Ihre Wohnung. Gehen Sie.«
Katrin ergriff Jaumanns Hand. »Komm«, zischte sie. »Komm schon.«
Widerstandslos ließ er sich von ihr fortziehen. Die alten Männer blieben zurück. Als er ins Haus stolperte, sah er sich noch einmal um, sah direkt in Zerrgiebels Augen. Sie waren klein und drohend. Wie die Augen eines Raubvogels. Dumpf fiel die Tür ins Schloß.
»Sie bringen sie um«, sagte Jaumann fassungslos. »Sie bringen die Jungen einfach um!«
Katrin stieß ihn zum Lift. »Wir haben nichts gesehen!« preßte sie hervor. »Nichts, verstehst du? Wenn man uns fragt, sagen wir, daß wir nichts gesehen haben. Wir haben geschlafen. Hast du gehört?«
Er blieb plötzlich stehen. Die Hintertür stand einen Spalt weit offen. In der fahlen Helligkeit der Lichtgardinen war der Hof fremd und feindselig wie die dunkle Seite des Mondes. Eine Bewegung. Eine zwergenhafte Gestalt, die über den Hof rannte, über den Rasen.
»Komm!« Katrin hatte die Fahrstuhltür geöffnet. »Komm jetzt! Warum kommst du nicht?«
Jaumann starrte nach draußen. »Das Kind«, sagte er.
Das Kind hatte den Rand des Rasens erreicht. Jetzt klapperten die kleinen Füße über die Steinplatten. Im Zwielicht war das seltsam zweidimensionale, schemenhafte Oval eines Gesichts zu erkennen. Wie das eines Gespenstes. Hinten am Haus tauchten weitere Gestalten auf. Größere Gestalten mit zerzausten Krähenköpfen, und oben von einem der Fenster, aus der Wohnung der Sobrowskys, tönten verzerrte Stimmen. Jemand schrie. Eine Frau.
»Melina!« schrie die Frau. »Lauf, Melina, um Gottes willen, lauf!«
Die Silhouette eines Kopfes zeichnete sich gegen das weiße Rechteck des Fensters ab. Wie betrunken schwankte der Kopf hin und her.
Die Mutter, dachte Jaumann. Es ist die Mutter, die Sobrowsky.
»Melina!« schrie sie wieder. »Lauf, Melina, lauf!« Dann andere Köpfe, und Jaumann glaubte, den alten Meyer-Lansky zu erkennen, und die Sobrowsky schrie noch einmal, ein einziges Mal, und das Fenster wurde dunkel.
Katrins Hand legte sich auf seine rechte Schulter.
»Das Kind«, raunte Katrin. »Sie holen es. Sie holen dieses kleine Ungeheuer.«
Die Zwergengestalt stolperte und fiel, wurde von der Dämmerung aufgesogen, und wie alte, graue Riesenkatzen humpelten die Verfolger über den Hof, den Rasen, auf das Kind zu, begruben es unter sich. Jaumann wollte loslaufen, dazwischenfahren, aber Katrin hielt ihn fest. Er brachte nicht die Kraft auf, sich loszureißen. Er sah Zerrgiebels kleine, drohende Raubvogelaugen in den Schatten, und er hatte schreckliche Angst.
Ein Stoß traf die Hintertür. Sie fiel zu.
Katrin nickte befriedigt. »Das wird ihnen eine Lehre sein«, sagte sie. »Am Stadtrand hätten sie bleiben sollen, die Sobrowskys. Bei den anderen Familien. Den anderen Bälgern. Sie haben es nicht anders gewollt. Sie haben es verdient.« Sie drückte seine Schulter. »Komm jetzt. Komm.«
Wie eine Marionette folgte er ihr in die Liftkabine. Summend schloß sich die Tür. Sie fuhren nach oben.
»Aber warum?« fragte er. »Großer Gott, warum? Es war doch nur ein Kind!«
Katrin funkelte ihn an.
»Nur ein Kind!« äffte sie ihn nach. »Nur ein Kind! Begreifst du denn nie? Verstehst du denn überhaupt nichts? Ich habe dieses Kind beobachtet und ich habe Haß in diesen Kinderaugen gesehen. Es hat mich gehaßt, hörst du? Genau wie es dich gehaßt hat, dich und jeden anderen in diesem Haus. Heute ist es nur ein Kind, ja; aber morgen? Übermorgen? Wenn es herangewachsen ist?« Sie lehnte sich an die kahle Wand. »Außerdem – es ist nicht unsere Sache. Es ist allein die Schuld der Sobrowskys. Es war verrückt von ihnen, mit einem Kind in diese Straße zu ziehen. In eine Seniorenstraße. Kinder haben hier nichts zu suchen. Was soll ein Kind unter all diesen alten Menschen? Hassen lernen? Damit aus ihm eines Tages ein verdammter Juniac wird?«
Katrin kniff die Augen zusammen.
»Es ist ihre Schuld«, sagte sie. »Die Sobrowskys hätten nicht in unsere Straße ziehen sollen. Mit einem Kind.
Wo sie doch selber noch so jung sind. Frau Sobrowsky ist nicht einmal dreißig. Nicht einmal dreißig!«
Ja, dachte Jaumann. Es stimmt. Katrin hat recht. Es ist ihre eigene Schuld.
Der Aufzug hielt. Sie stiegen aus, gingen durch den leeren Korridor. Katrin blieb stehen. »Da ist jemand«, zischte sie. »Hinter der Biegung, neben unserer Tür. Ein Mann.«
Jaumann schob sich an ihr vorbei. Langsam ging er weiter. Ein Schatten fiel an der Ecke über den Boden. Jemand versteckte sich dort. Jaumann schluckte nervös. Vielleicht ein Nachbar, der zu den Panthern gehörte. Vielleicht ließ Zerrgiebel sie überwachen. Vielleicht mißtraute man ihnen, weil sie noch nicht das Rentenalter erreicht hatten, oder wegen dem, was gerade auf der Straße passiert war.
Unsinn, dachte Jaumann. Katrin und ich sind beide fünfundvierzig. Zum Teufel, niemand kann uns für Juniacs halten. Noch fünf Jahre, und wir sind ebenfalls Rentner.
Der Schatten bewegte sich. Ein Mann äugte verstohlen um die Ecke. Ein bleiches, glattes Gesicht. Der Mann seufzte und sprang aus seinem Versteck.
»Gott sei Dank!« stieß der Mann flüsternd hervor. »Gott sei Dank, daß Sie es sind, Herr Jaumann!«
Sobrowsky! durchfuhr es Jaumann. Es ist Sobrowsky.
»Sie müssen mir helfen«, flüsterte Sobrowsky. Er schwitzte. Die Hände zitterten. Er hatte Angst. »Hören Sie? Sie müssen mir helfen. Mein Gott, mein Gott, die Senioren … Sie sind in unserer Wohnung! Meine Frau, mein Kind …!«
Jaumann war wie gelähmt. Wenn jetzt einer der Alten auftauchte und sah, daß er sich mit Sobrowsky unterhielt! Schritte klapperten hinter seinem Rücken. Katrin.
»Sind Sie verrückt geworden?« zischte sie Sobrowsky zu. »Was wollen Sie von uns? Was wollen Sie? Wissen Sie, was passiert, wenn man uns zusammen sieht? Gehen Sie! Warum gehen Sie nicht endlich?«
»Sie müssen mir helfen«, sagte der junge Mann. Er konnte nicht älter als zweiunddreißig, dreiunddreißig sein. »Ich kann nicht in meine Wohnung. Die Panther sind dort. Sie suchen mich. Sie wollen mich umbringen; umbringen, verstehen Sie? Mein Gott«, sagte er wieder. »Sandra! Melina! Meine Frau, mein Kind!«
Mit verkniffenem Mund hastete Katrin zur Tür und schob die Magnetkarte ins Schloß. Die Tür sprang auf. »Verschwinden Sie endlich«, sagte Katrin zu Sobrowsky. »Wir wollen mit der Sache nichts zu tun haben. Es ist Ihre Schuld! Warum sind Sie in diese Straße gezogen? Warum sind Sie nicht am Stadtrand geblieben? Sie wußten doch, was in Berlin passiert ist. Sie wußten es!«
Sie trat über die Schwelle. Jaumann machte einen zögernden Schritt und verharrte neben der Tür. Er sah Sobrowsky an. Am Ende des Korridors summte es, und er drehte den Kopf. Der Fahrstuhl. Er fuhr nach unten.
»Helfen Sie mir!« bat Sobrowsky mit erstickter Stimme. »Um Gottes willen, helfen Sie mir! Die Panther suchen mich. Sie kommen. Sie werden mich umbringen. Zerrgiebel und dieser Meyer-Lansky. Die Panther …«
Über der geschlossenen Fahrstuhltür leuchtete das E auf. Die Kabine hatte das Erdgeschoß erreicht. Und von der Treppe – aus der Tiefe der anderen Stockwerke – drangen leise Stimmen.
Sobrowsky ballte die Fäuste. Schweiß perlte über sein bleiches Gesicht. »Sie werden mich umbringen! Sie suchen mich. Sie wissen, daß ich Beweise habe. Beweise, hören Sie? Ich habe es herausgefunden! Zerrgiebel gehört zu den Führern der Panther. Glauben Sie, ich bin zufällig in dieses Viertel gezogen? Wir wußten, daß etwas im Gange war, und man hat mich geschickt, Beweise zu sammeln.«
»Jesus Christus!« Katrin ergriff Jaumanns Arm und zerrte ihn in die Wohnung. »Er ist ein Juniac, Philip, ein verdammter Juniac! Oder ein Sympathisant!« Sie umklammerte den Türknauf. »Hauen Sie ab! Verschwinden Sie endlich! Wir wollen mit euch Juniacs nichts zu tun haben!«
Sobrowsky blockierte die Tür. Sein schwitzendes Gesicht drehte sich zum Aufzug, zum Treppenabsatz. Die Kabine hatte sich in Bewegung gesetzt. Sie kam hoch, und die Stimmen aus dem Treppenschacht wurden lauter.
»Bitte«, wisperte er. »Sie müssen mir helfen. Sie sind keine Panther. Sie sind noch nicht einmal Senioren. Der Berliner Blutsonntag, der Anschlag auf das Cittax-Netz hier in Köln, die Anschläge in den anderen Städten … Es waren keine Juniacs, verstehen Sie? Es waren keine Jugendlichen, die die Anschläge verübt haben! Es waren die Panther, diese militanten Alten, die …«
»Er ist verrückt«, sagte Katrin. Sie zog an dem Knauf, aber Sobrowsky verhinderte, daß sie die Tür schließen konnte. »Philip, hilf mir!«
Jaumann blieb stehen. Er starrte Sobrowsky an. Die Panther? Die Panther waren für die Anschläge auf die Seniorenviertel verantwortlich?
»Es sind Provokationen, verstehen Sie?« Sobrowskys Stimme klang gehetzt. »Die Panther wollen die Spannungen zwischen den Generationen anheizen. Sie wollen die Seniorenpartei zwingen, schärfer gegen die Jungendlichen vorzugehen. Sie wollen den Juniacs die Schuld für die Anschläge in die Schuhe schieben und sich dann als die Hüter von Recht und Ordnung aufspielen. – Jaumann«, stieß Sobrowsky hervor, »sehen Sie denn nicht, was um Sie vorgeht? Die Panther bekommen immer mehr Zulauf. Die Senioren haben Angst, und die Panther schüren diese Angst, und schon jetzt schreien sie nach den Notstandsgesetzen …«
»Lassen Sie die Tür los!« schrie Katrin. »Philip, hilf mir, hilf mir doch!«
Jaumann sah Katrin an. Wenn die Panther tatsächlich hinter den Anschlägen steckten …
»Er ist ein Juniac«, sagte Katrin.
Jaumann war wie betäubt. Was sollte er tun? Was sollte er nur tun?
»Helfen Sie mir«, flehte Sobrowsky. »Sie sind doch noch jung. Sie gehören noch nicht zu den Senioren …«
»Fünfundvierzig«, sagte Jaumann. »Ich bin fünfundvierzig. In fünf Jahren werde ich Rentner.« Er sprach mechanisch. Fünf Jahre, dachte er. Was sind schon fünf Jahre?
»Sie hören es«, fauchte Katrin. »Wir sind zu alt. Wir haben mit Leuten wie Ihnen nichts zu tun. Leute wie Sie machen nur Schwierigkeiten. Gehen Sie endlich! Gehen Sie!«
Sobrowsky fuhr zurück. Einen Moment lang blickte Jaumann noch in seine aufgerissenen Augen, dann zog Katrin die Tür zu.
»Ein Juniac!« sagte Katrin. »Jesus Christus, ich wußte es!«
Draußen auf dem Korridor polterten Schritte. Dann Stimmen. Verzerrte Stimmen. Zerrgiebel? Gehörte eine davon dem alten Zerrgiebel? Jaumann lauschte. Mehrere Schreie. Dumpfe Laute, wie von Stöcken, die auf Fleisch und Knochen schlugen.
Jaumann wandte sich ab. Er ging ins Wohnzimmer, wo Katrin auf der Sesselkante saß, die Hände gefaltet, das Gesicht blaß, auf den Wangen rote Flecke.
»Sie haben ihn«, sagte Jaumann. »Ich glaube, Zerrgiebel war dabei.« Noch immer war er benommen. »Ob er recht hat?« fragte er. »Ob das stimmt, was Sobrowsky gesagt hat? Daß die Panther …«
Katrin blickte auf. »Er war ein Juniac. Ein verdammter Juniac.«
»Aber …« Jaumann gestikulierte hilflos. Er dachte an das Kind im Hof, an die Frau am Fenster. Er fühlte sich müde. Und alt.
Sehr alt.