Reich sein, frei sein
Gelegentlich werde ich – wie wohl jeder SF-Autor – gefragt: »Sagen Sie mal, wie kommen Sie überhaupt an Ihre verrückten Ideen?« Brian Aldiss, dem diese Frage auf dem Festival der Phantastik 1983 in Bergisch-Gladbach gestellt wurde, ist meines Wissens der einzige SF-Schreiber, der sie ehrlich beantwortete – Brian Aldiss bekommt seine Plots direkt von den Sternen geliefert; von Zeit zu Zeit landet ein kleines grünes Männchen in seinem Vorgarten und schiebt einen Zettel durch die Klappe in der Tür, durch die auch die Katze ein und aus geht. Ich will damit nicht sagen, daß wir alle, die wir von (und mit) der Science Fiction leben, auf derart kosmische Weise inspiriert werden. Dann und wann bleibt unser grüner Freund aus – möglicherweise, weil ihm die Honorare zu mickrig sind, die er uns mit entsichertem Blaster abpreßt – und wir müssen uns mit dem begnügen, was uns die irdische Umgebung frei Haus liefert. Um derartige Engpässe zu überbrücken, gibt es eine Reihe Möglichkeiten: Mein Roman »Alles ist gut« entstand in groben Umrissen, als ich vor Jahren eine LP der NDW-Gruppe Deutsch-Amerikanische Freundschaft hörte – eines der Stücke hatte den gleichen Titel, und er hat mich so fasziniert, daß ich nicht eher Ruhe gab, bis ich ihn auf den Umfang eines Buches ausgedehnt hatte. Meine Kurzgeschichte »See You Later, Alligator« wurde auf ähnliche Weise inspiriert – von dem gleichnamigen Rock’n’Roll-Stück. Eine andere Erzählung, »Marathon«, ist im Kern die SF-Umsetzung eines Traums, in dem ich stundenlang mit Schallgeschwindigkeit durch die nächtlichen Straßen einer Stadt rennen mußte; deprimierenderweise, ohne von der Stelle zu kommen … Andere Geschichten wurden von Zeitungsartikeln, Gesprächen, Fernsehsendungen oder einer guten Dosis Kölsch inspiriert, oft auch von allem zusammen, und bei einigen bin ich mir selbst nicht darüber im klaren, woher ich – zum Teufel – diese verrückte Idee hatte. Die vorliegende Geschichte bereitet mir kein Kopfzerbrechen: Vielleicht haben einige von Ihnen live und in Farbe jene vergnügliche Zeit miterlebt, als es hieß, man solle keinem über Dreißig trauen. Vielleicht haben einige von Ihnen bei den poppigen »Ho-Ho-Ho Tschi Minh« Rufen mitskandiert und die braven Bürger verschreckt, und vielleicht ging einigen auch jener Spruch glatt von den Lippen, der dieser Geschichte – in abgewandelter Form – den Titel verliehen hat: »High sein, frei sein, ein bißchen Terror muß dabei sein«. Und da die Geschichte Ende der siebziger Jahre entstand – in einer Zeit, wo viele Revolutionäre, Flower-Power-Freaks und Anarcho-Studiosi der APO-Generation vom Marsch durch die Institutionen geläutert worden waren – hielt ich es für besser, auch jene verspielte Losung den veränderten Umständen anzupassen. Deshalb: »Reich sein, frei sein« statt »High sein …«, und die Sache mit dem Terror ist ohnehin eine reine Machtfrage …
»Ich weiß nicht, warum ich mich jemals dagegen gewehrt habe«, sagte Gersson, während er mit der Lasersäge Schicht um Schicht des seltsam pockennarbigen Gesteins abtrug und immer wieder einen raschen, prüfenden Blick auf den Detektor warf. »Ich weiß nicht, warum ich zunächst das Angebot nicht annehmen wollte! Ich weiß es wirklich nicht! Ein Rätsel! Ein Geheimnis!« Im Hintergrund rekelte sich der bis zum fernen Horizont reichende Staubsee unter einem schwachen tektonischen Seufzer, spuckte träge Fontänen rußiger Partikel in den Himmel; Myriaden zittriger, dürrer Arme, die händelos nach den Sternen zu greifen schienen.
»Und vor allem«, fuhr Gersson fort, schaltete die Lasersäge aus, fuchtelte mit den Armen, »meine Erinnerungen sind verblaßt wie ein schlechtes Foto, das von der Zeit angegilbt wird. Warum hatte ich Zweifel, Bedenken, als wir mit den Anwerbern sprachen? Eine Arbeit als freier Prospektor auf Belsazar mit der Garantie, daß uns die Gesellschaft Höchstpreise zahlt für jedes Gramm Soltonium – und ich war unschlüssig!«
Rolff legte einen Felsbrocken zur Seite, ein wenig enttäuscht, aber nicht sehr überrascht, und griff nach dem nächsten, dessen Oberfläche mit einem Muster haarfeiner kristallener Äderchen tätowiert war. Während er vorsichtig mit dem Vibrohammer einige Stücke abschlug und die Probe in die schüsselähnliche Vertiefung des Analysators warf, murmelte er: »Du warst eben ein Idiot, Gersson, tatsächlich, ein verdammter Idiot. Und wenn ich dir damals nicht einen kräftigen Tritt verpaßt hätte, der dich bis hier nach Belsazar beförderte, dann säßest du wahrscheinlich jetzt noch in deinem Kellerloch und würdest deine Zuteilungskarten zählen!«
Er schüttelte sich, lachte, hantierte an den Kontrollen des Analysator. »Erinnerst du dich, Gersson? Erinnerst du dich noch, wie es war?
Es war schmutzig und laut und eng und verstänkert, und vor allem, Gersson, vor allem war es öde. Von der Wiege bis zur Bahre alles vorgezeichnet.
Und was ist das im Vergleich zu dem, was uns hier erwartet? Ich will es dir sagen, Gersson, damit du es begreifst, ein für allemal: Es ist nichts! Nichts, verstehst du?«
Das Beben rollte näher, erreichte die Männer, brachte den Boden unter ihren Füßen zum Schwanken und ließ den kleinen Meteorkrater an den Rändern bröckeln, daß er das Aussehen einer von schiefen Zähnen angenagten Suppenschüssel bekam.
Rolff veränderte die Einstellung des Vibrohammers, dessen Kopf nervös hin und her zitterte und vor den Augen verschwamm. »Und ich sage dir, Gersson«, brummte Rolff, »ich sage dir, es war die klügste Entscheidung deines Lebens! Wenn wir Glück haben, dann sind wir vielleicht schon in zwei Monaten soweit, daß wir uns eine Passage nach Glimmer oder Centauri Vier leisten und uns dort für immer niederlassen können, und die Erde, Gersson – die Erde kann uns dann mal!«
Wie durch Butter schnitt die Lasersäge durch das Gestein; ein flammendhelles, armlanges Messer, dessen Schneide nur die Breite weniger Moleküle aufwies.
Gersson ächzte, justierte die Säge neu und starrte den Detektor böse an, wartete darauf, daß das rote Licht auf der Skala aufleuchtete.
Rot, dachte Gersson, ist eine gute Farbe, aber zu selten, viel zu selten.
Resignierend zog der Detektor seine Sonden von der bloßgelegten Gesteinsschicht zurück. Gersson zuckte die Achseln und arbeitete schweigend weiter.
»Taub!« stieß Rolff plötzlich hervor und schleuderte ergrimmt die Kiesel von dem Analysebehälter, so daß sie in der geringen Schwerkraft wie winzige Geschosse davonhuschten, sich schließlich neigten und weit entfernt die glatte Oberfläche des Staubsees zerfurchten.
»Ihr solltet nicht soviel schwätzen«, bemerkte Kiyunati zornig und maß Rolff mit einem abschätzenden Blick. »Wenn wir uns mehr auf unsere Arbeit konzentrieren, dann kommen wir auch schneller voran. Orrloff hinten am Zweifingerberg hat gestern ein halbes Pfund Soltonium geschürft! Stellt euch vor: ein halbes Pfund! Wißt ihr, wieviel das wert ist?«
»Pah!« machte Rolff geringschätzig, bohrte die Spitze seines Stiefels in den lockeren Boden. »Was ist das schon! Und überhaupt, das hat nichts zu bedeuten! Das nächste Jahr wühlt dieser Hanswurst nun im Staub. Ein Glückstreffer, mehr nicht! Der Zweifingerberg ist tot, wertloses Gestein und billiges Eisenerz, hier und da ein paar Spritzer Gold oder Platin, mehr nicht, ihr könnt mir glauben, wenn ich das sage!
Natürlich, natürlich, hier und da liegen wohl ein paar kleinere Brocken Soltonium, die sich vom großen Schwarm beim Eintritt in die Atmosphäre abgesprengt haben, das will ich gar nicht bestreiten, aber sonst?«
Rolff schüttelte den Kopf, lächelte ironisch. »Da könnte Orrloff auch gleich auf der Erde schürfen! Laßt euch nur nicht von einigen Zufallsfunden und den großmäuligen Erzählungen eines Wichtigtuers wie Orrloff beirren! Wir haben uns schon den richtigen Claim ausgesucht, keine Sorge!«
Er wandte sich um. »Da! Der Staubsee! Schaut ihn euch an!«
Rolff deutete auf die graue, scheinbar feste Ebene, die nur hier und da von einer Handvoll wellenartiger Verwerfungen durchbrochen wurde; Milliarden Tonnen Staub, Hunderte Meter tief und Millionen Quadratkilometer groß. Ein Überbleibsel der Katastrophe, die Belsazar vor Äonen heimgesucht hatte – ein Meteoritenschwarm war in den Anziehungsbereich des Planeten geraten und mit unvorstellbarer Gewalt mit ihm zusammengeprallt, so daß die Atmosphäre in den Raum geblasen und ein Großteil der Oberfläche zerstört wurde. Zurück blieben lebensleere Wüste, Krater, die Staubmeere und – das Soltonium.
»Dort, der Staubsee!« nickte Rolff. »Wodurch, meint ihr, ist er entstanden? Ihr braucht nicht zu überlegen und eure verdammten Köpfe zu zerbrechen, ich verrate es euch auch so: Der Schauer hat ihn erschaffen.
Zuerst war der See ein ganz normaler Krater; an den Rändern geschmolzenes Gestein, im Zentrum die Überreste des Meteors, ein Haufen Eisen und Nickel, Weltraumschrott. Aber dann durchquerte Belsazar dieses Kraftfeld, das fast mit Lichtgeschwindigkeit durch unsere Galaxis saust und hoffentlich auch bald die Erde erreichen und sie in die Luft sprengen wird. Das Kraftfeld stellte etwas mit dem Meteor an; fragt mich nicht, was und wie und wodurch, aber es funktionierte, es funktionierte verdammt gut, und mit einemmal war aus der Eisen-Nickel-Verbindung Soltonium geworden.
Magie? Oder ein Wunder? Zufall oder ein superphysikalischer Prozeß? Spielt das eine Rolle?
Ist das wichtig?«
Rolff betrachtete den Staubsee. »Ihr wißt, daß Soltonium so wertvoll ist, weil es eine Menge seltsamer Dinge mit der Gravitation anstellt. Und der in tausend Splitter zerplatzte Brocken in diesem Meteorkrater bildet da keine Ausnahme, zumal es wirklich sehr, sehr viel Zeit hatte, bis wir Belsazar entdeckten.
Eine oder zwei Millionen Jahre, nicht wahr, Kiyunati?«
»Ja«, antwortete Kiyunati spröde.
»Du hörst es, Gersson«, gestikulierte Rolff. »Das Soltonium zerpulverte Felsen und Erz, den Boden und die Gebirge. Übrig blieb Staub – ein See aus schwarzem Puderzucker.
Und der Teufel soll mich holen, wenn am Grund des Sees nicht ein Vermögen aus reinem Soltonium darauf wartet, von ein paar entschlossenen Männern gehoben zu werden!«
Kiyunati zuckte die Achseln, nahm den schaufelartigen tragbaren Detektor wieder zur Hand und ging langsam in Richtung Kratermittelpunkt. »Du phantasierst, Rolff«, erwiderte er gelassen. »Gut, gut, es ist durchaus möglich, daß ein Großteil des Schauers zwischen den Staubmassen begraben liegt, aber wie willst du das Zeug bergen? Hineinmarschieren? Ja? Frohen Mutes in die Tiefe steigen? Oder denkst du an ein Tauchboot? Eine umgebaute Tiefseekapsel?
Der Staub und die Ausstrahlungen des Soltoniums reflektieren alle elektromagnetischen Wellen; kein Infra- oder Ultrarotlicht, kein Radar, kein Echolot, kein Laser und keine Neutrinos kommen durch die Suppe bis an die Oberfläche.
Rechner? Zufallscomputer? Tiefenmesser? Ionendetektoren? Sämtliche Meßergebnisse werden verzerrt, Denkprozesse und Programme der Elektronengehirne gestört.
Aus welchen Gründen, meinst du, verzichtet der Belsazar-Schürf-Trust auf den Einsatz von Arbeitsrobotern und erlaubt Leuten wie uns, sich als freie Prospektoren zu betätigen, zu Bedingungen, die Tausende aus den irdischen Städten vierhundert Lichtjahre hinaus in den Weltraum gelockt haben?
Aus Fürsorglichkeit? Wohlwollen? Großzügigkeit? Unsinn! Roboter funktionieren auf Belsazar nicht, normale Arbeiter würden in dieser Umgebung – Erdbeben, Luftleere, magnetische Stürme und was weiß ich! – keine großen Ergebnisse erzielen! Was blieb also übrig! Ja, wir Prospektoren, die auf Provisionsbasis schürfen! Für jedes Pfund Soltonium hunderttausend Werteinheiten.
Bei diese Summen lohnt es sich schon, einige Entbehrungen in Kauf zu nehmen, Tag für Tag, Jahr für Jahr durch diese Wüste zu laufen und ab und zu einmal etwas riskieren. Wir sind hier, um viel Geld zu verdienen, auch wenn es gefährlich ist. Belsazar kann mit vielen Dingen töten, dich in eine Erdspalte rutschen lassen, dir den Raumanzug aufschneiden, dich in den Induktionswinden rösten. Aber für hunderttausend pro Pfund?
Besser als auf der Erde ist es auf Belsazar allemal.
Und diese Risiken kann man abwägen, man kann sich teilweise dagegen schützen, Vorbereitungen treffen.
Aber der Staubsee, wo man blind, taub und stumm zugleich ist? Nur Narren verlassen den festen Boden und stürzen sich in diese Brühe – nach zehn Metern hättest du die Orientierung verloren und würdest langsam und genußvoll ersticken. So wie Treshure, Morlasky, die Gruppe Stertz und Dutzende andere.«
Kiyunati hob abwehrend die Hände. »Nein, danke, danke, das ist nichts für mich. Dann begnüge ich mich eben mit zweihundert- oder dreihunderttausend Werteinheiten und lebe noch einige Dutzend Jahre, und wenn’s auch nur auf der Erde ist. Mit dem Soltonium, das wir hier aus dem Boden graben und der Gesellschaft für gutes Geld verkaufen, kommen wir auf der Erde ganz gut zurecht.«
»Die Erde! Die Erde!« Rolff schnaufte empört. »Ich pfeife auf die Erde! Fünfunddreißig Jahre habe ich auf ihr verbracht, auf den Straßen, in der Gosse, im Dreck; stellt euch vor: fünfunddreißig Jahre meines Lebens nur Langeweile, keine Arbeit, kein Geld, immer zu wenig von allem, keiner, den es wirklich interessierte, ob ich noch da oder schon irgendwo verreckt war. Stellt euch das mal vor!
Wißt ihr, wie es in Europa zugeht? Ihr müßt es wissen, denn die anderen Kontinente unterscheiden sich nicht viel davon, aber trotzdem werde ich erzählen, woran ich denke, wenn man von der Erde spricht.
Da gab es früher Städte, kleine, weit voneinander getrennte Metropolen, Lissabon, Rom, Paris, Wien und Berlin, aber, verdammt, die Namen werden euch nichts sagen. Ihr kennt nur noch die Megalopolis, diesen Kraken aus Beton, Stein, Glas und Plastik, dessen Arme vom Atlantik bis zum Ural, von der Nordsee bis zum Mittelmeer reichen. Jeder Ort sieht aus wie der andere, nur hier und da, abgeriegelt, ummauert, bewacht, gibt es ein paar Tupfer Grün, um die herum die Villen der Vermögenden, Wichtigen, Mächtigen stehen, aber sonst siehst du nur einen Wohnturm neben dem anderen, Straßen und Korridore, die ständig belebt sind, Robotfabriken, die vierundzwanzig Stunden lang hämmern und rattern und zischen und dampfen, überfüllte Geschäfte, schmutzige Gehsteige, Menschen, Menschen, Menschen, keine Sekunde Ruhe, niemals für sich allein sein, und weiter unten, in den Kelleretagen der Wohntürme und den vielen Slumgebieten ist all das noch viel schmieriger, lauter, stinkender, überfüllter, entsetzlicher.
Das ist Europa. Und dann willst du zurück zur Erde? Wohin, Kiyunati, wohin?
Eine andere Megalopolis? Briton? Nipponia? Ja? Möchtest du zurück in die Straßenschluchten von Nipponia? Siebzig Millionen Menschen eng zusammengedrängt, so daß du den Schweiß jedes einzelnen riechen kannst? Zurück zu dem Lärm der Stahlwerke? Zurück zu den Schreien der Mordsüchtigen, Kranken, Verrückten? Und zur Angst vor dem Tod in den unterirdischen Fußgängerzonen?
Möchtest du das alles noch einmal erleben, so lange, bis du verfault und zu Dünger verarbeitet bist?
Aber vielleicht hast du vor, nach Amerika zu gehen, an die Westküste, wo die Sperrgebiete sind? Da rate ich ab, Kiyunati, ich rate dir ernsthaft ab, denn es ist nicht angenehm, ununterbrochen einen Strahlenschutzanzug zu tragen. Die Unfälle damals, weißt du … Vierhundert Jahre sind eine kurze Zeitspanne, vom Standpunkt der Radioaktivität gesehen …«
Kiyunati blieb stehen, tastete mit dem Detektor das Kratermaterial ab. »Du redest wie ein Abweichler, Rolff«, stellte er spöttisch fest. »Dabei ist doch allgemein bekannt, daß es in Australien und Zentralafrika noch genug Platz für Leute mit Geld gibt.
Reine Luft, so klar, daß du deine Lunge bis zum Bersten mit frischem Sauerstoff füllen kannst und keine Rußflocke dein Hemd zerfrißt. Und man sagt, die Grundstücke dort seien so groß, daß die Häuser Hunderte Meter voneinander entfernt liegen? Und Flüsse, noch nicht überbaut, mit Wasser, das nicht stinkt! Ist das nichts, Rolff?«
Gersson räusperte sich. »Warum streitet ihr euch?« fragte er. »Es ist doch gleichgültig, ob wir später nach Glimmer oder zur Erde gehen. Finden wir genügend Soltonium, dann stehen uns alle Wege offen. Wir können sogar fort von allem! Man baut schon Schiffe, die bis zum Mittelpunkt der Milchstraße fliegen sollen! Suchen wir uns einen Planeten, zweitausend Lichtjahre weiter, einen, der uns gefällt und der nur uns gehört!
Man sagt, daß in den Plejaden …«
Rolff begann schallend zu lachen. Er saß auf dem Kraterrand, den Vibrohammer und einen Haufen zerbröselter Felsbrocken neben sich, in dem ungefügen Raumanzug wie ein plumpes Stück Metall wirkend, und er lachte, daß die Helmempfänger klirrten.
Gersson blickte ihn schweigend an.
»Hat man Töne!« kicherte Rolff, hieb mit der behandschuhten Faust in den mürben Boden, trat gegen den Schutthaufen. »Ist das zu glauben? Kann das wahr sein?« Er schüttelte sich vor Belustigung, stemmte die Arme in die Hüften, bog und wand sich.
»Was erheitert dich denn so?« fragte Gersson finster. »Ich verstehe nicht, was es da zu lachen gibt? Ein Schiff ist gar nicht einmal so teuer, wie man immer denkt. Wir brauchen ja keines zu kaufen, sondern uns nur eines von den großen Raumfluggesellschaften mieten, mit einer Flugbesatzung und genügend Ausrüstungsgegenständen und …«
»Und?« äffte Rolff nach. »Ab nach den Plejaden, eh? Auf irgendeiner lächerlichen Welt landen und den Rest des Lebens in der freien Natur verbringen? Und mit deinen Werteinheiten wischst du dir den Hintern ab! Ist es das, was du dir erträumst?«
»Was hast du daran auszusetzen?« brummte Gersson beleidigt. »So übel stelle ich mir das gar nicht vor. Man ist sein eigener Herr, und was man anpackt, schafft man, wenn man seinen Kopf anstrengt und sich auf die Kräfte seiner Arme verläßt, und man bekommt wieder das Gefühl, daß man lebt, menschlich lebt, so, wie es sein sollte …«
»Ach, halt dein Maul! Halt dein verfluchtes Maul!« schrie Rolff unbeherrscht. »Ich wünschte, du wärst auf der Erde verreckt! Man male sich das aus! Man stelle sich das bildlich vor: Robinson Gersson, mit Lendenschurz und Steinaxt in den gottverlassenen Sümpfen irgendeines Hinterwäldlerplaneten auf der Jagd nach wilden Kaninchen!
Ein Witz! Eine Zote!«
Kiyunati stand unten im Krater, wedelte mit dem Detektor und sah hinauf zu Rolff. »Du solltest ein wenig rücksichtsvoller sein«, riet er sanft. »Niemand zwingt dich, so wie Gersson zu denken. Du kannst machen, was du willst, aber verlange nicht von uns, so zu handeln wie du.«
Rolff befingerte den Vibrohammer und blieb stumm.
»Was macht es schon«, fragte Kiyunati, »wenn Gersson die zivilisierten Planeten satt hat? Selbst Glimmer ist nicht das Paradies. Und soviel Soltonium können wir gar nicht schürfen, daß wir in die Kreise hineinkommen, die dir wahrscheinlich gefallen.
Selbst wenn jeder von uns fünf Millionen Werteinheiten herausbekommt und alle anderen Unkosten davon bereits abgezogen sind – was sind schon fünf Millionen für jene, die von Geburt an mit goldenen Löffeln gefüttert werden?«
»Nicht viel«, gestand Rolff. »Aber du verstehst mich nicht, Kiyunati. Mag sein, daß diese fünf Millionen für andere nicht mehr wert sind als ein Haufen Dreck, aber es geht darum, was sie für mich bedeuten. Für mich!
Und mit diesem Geld, Kiyunati, mit diesem Geld, Gersson, kann ich ein Haus mieten, ein kleines, in dem nur ich wohne, ob nun auf Glimmer oder Centauri oder Ross, und ich kann mir all das kaufen, was ich schon immer wollte: Frauen, wie man sie sonst nur auf Glanzpapier sieht; Mahlzeiten, die die Tischplatten verbiegen und an denen man stundenlang schlemmen kann; Urlaubsreisen, jeden Monat, nach Aldebaran oder Eridani; Fluggleiter und teure Kleidung, Traummaschinen und Jagdausflüge und was weiß ich; und noch etwas, Kiyunati, etwas, das noch viel wichtiger ist: Freiheit, das zu tun, was ich will.«
»Und was willst du?« warf Gersson ein.
Rolff erhob sich ächzend. »Du wirst schon sehen«, antwortete er. »Du wirst es noch rechtzeitig erfahren!«
Nicht weit entfernt, im Süden, wo die sanft geneigte, kratergepunktete Geröllebene in einen Wald spitzer Felsnadeln überging, quollen aus unzähligen Spalten fette Fontänen grünlichen Gases und zerstäubten in der dünnen Tiefdruckatmosphäre Belsazars. Für einen kurzen, erschreckenden Moment wurde Rolff an Nebel erinnert, der über den Boden kroch und sich feuchtkalt auf die Haut legte.
Er fröstelte.
Belsazars Sonne – ein fader Klecks aus kaltem Feuer – arbeitete sich mühsam am Himmel hinauf und überschüttete die Kraterlandschaft und den unruhiger werdenden Staubsee mit einem ungewissen, diffusen Licht. Die Sonne war ein kraftloser weißer Zwerg, der seinen Brennstoffvorrat fast völlig verbraucht hatte und nun dem Schwerkraftkollaps entgegendämmerte; gleichgültig und abgeklärt, aber hin und wieder auch mit seiner mächtigen Gravitation nach Belsazar tastend, als wolle er den Planeten warnen und zur Flucht ermuntern.
Rolff lauschte auf das emsige Summen des Kühlaggregats, vernahm die keuchenden Atemzüge Gerssons und Kiyunatis, die am gegenüberliegenden Kraterrand ein tiefes Loch gegraben hatten und eine Gesteinsprobe nach der anderen in den gefräßigen Analysator warfen.
»Wieder nichts! Zur Hölle damit!« schimpfte Kiyunati. Seine Stimme klang rauh und kratzig, so, als habe er den Staub geschluckt, den Rolff mit jedem Schlag seines Vibrohammers von dem Erz absprengte. »Es ist zum Verzweifeln! Seit einer Woche nur taubes Gestein! Wie sollen wir jemals der Gesellschaft unsere Ausrüstung zurückzahlen? Wenn das so weitergeht, dann bekommen wir noch diesen Claim entzogen!«
Rolff fühlte dumpfen Zorn in sich aufsteigen. »Und wenn schon!« schrie er. »Was bedeutet eine Woche, ein Monat, ein Jahr für die Möglichkeit, reich und frei zu werden? Was macht es schon, wenn wir schwitzen und schuften und uns krank und krumm arbeiten, aber dafür den Rest unseres Lebens genießen können?«
Die Macht seiner Gefühle zwang ihn, sich zu erheben und erregt hin und her zu gehen. »Befiehlt dir jemand, hierzubleiben, Kiyunati? Hält dich jemand fest? Hast du keine andere Wahl?
Verschwinde! Hau ab! Hau bloß ab! Steig doch ins nächste Schiff und fliege zurück zur Erde, wo du dich von mir aus im Beton von Nipponia festbeißen kannst! Aber sprich nicht weiter! Rede nicht mehr über Dinge, die du nicht verstehst!
Geh mir aus den Augen! Du widerst mich an!«
Rolff zitterte, und sekundenlang beschlug die Rundung seines Plastikhelms unter der Hitze seiner schwitzenden Haut, ehe die Klimaanlage wieder für freie Sicht sorgte.
»Schon gut! Schon gut!« murmelte Kiyunati. »Tut mir leid, Rolff, tut mir ehrlich leid! Ich wollte nicht, daß du …«
»Es tut dir leid?« fragte Rolff fassungslos. »Es tut dir also leid? Weißt du überhaupt, was du da sagst?
Seit Tagen schon läufst du ziellos mit dem Detektor in der Gegend herum, ohne System, ohne Plan, ohne Überzeugung, gelangweilt, angewidert, bequem, schwingst kluge Reden und versuchst uns weiszumachen, was wir tun müssen, um das Soltonium zu finden! Und wir? Und wir?
Gerssons Arme schmerzen von der Anstrengung, die es bedeutet, die Lasersäge zu halten und so zu benutzen, daß sie nicht ausgerechnet das zerschneidet, was wir so dringend suchen! Seine Augen brennen von der Helligkeit der Strahlenschneide, sind fast blindgeglüht.
Meine Hand – da, diese! – meine Hand ist lahm vom Hämmern, vom Wühlen im Staub, meine Ohren sind taub vom Schweiß, und mein Kopf schmerzt von deinem Gemurmel!
Aber es tut dir leid! Immerhin! Immerhin!«
»Hör auf damit, deine Wut an mir auszulassen!« verlangte Kiyunati schroff. »Denkst du, wir merken nicht, wie du Tag für Tag immer unzufriedener, bösartiger, streitlustiger wirst? Nun gut, ich verstehe es, bin dir dafür nicht gram. Mir gehen die ewigen Fehlschläge auch auf die Nerven! Du hast es ja gehört! Aber das ist noch lange kein Grund, hier herumzuschreien und mich oder Gersson zu beleidigen, als wären wir deine Sklaven oder würden dich hindern, endlich zu Geld zu kommen!«
»Seid doch endlich still!« bat Gersson. »Es hat keinen Zweck, uns zu streiten. So kommen wir nie zu einem Ergebnis. Außerdem, die Zeit läuft uns davon …«
»Er hat recht«, bekräftigte Kiyunati. »Sparen wir unsere Kräfte für lohnendere Dinge!«
Rolff schwieg und zerschmetterte mit dem Vibrohammer einen faustgroßen Erzbrocken.
»Ein schönes Grab«, sagte Kiyunati ironisch. »Und so gewaltig! So groß! So schwarz!« Der Glanz der Sonne spiegelte sich auf der Oberfläche seines Raumanzugs.
Gersson hielt sich etwas abseits und überprüfte die Winde des Allzweckfahrzeugs; eines plumpen, schweren Panzerwagens mit sechs Ballonreifen und einer geschlossenen Kabine, hinter der die leere, blankpolierte Ladefläche lag.
Rolff klinkte das Seil in die Gürtelhalterung seiner Montur ein und zog heftig an dem Kunststoffstrang. Befriedigt nickte er. Das Seil hielt.
Gersson blickte auf die Kontrolldioden an seinem aufgeblähten Ärmel. »Wir sollten uns beeilen«, drängte er ungeduldig. »Der Sauerstoffvorrat schmilzt rapide, und wenn die Geräte nicht durch das Soltonium dort unten im See gestört werden und man ihnen trauen kann, dann zieht ein heftiger Induktionssturm herauf.
Rolff, willst du nicht besser warten, bis …«
»Nein«, unterbrach Rolff knapp.
»Aber ich meine doch nur …«
»Ich habe Nein gesagt!« erinnerte Rolff heftig.
Kiyunati lachte ärgerlich. »Laß ihn in Ruhe, Gersson, verschwende nicht deine Kraft! Er ist verrückt, völlig verrückt, und wenn er unbedingt in sein Verderben rennen will, bitte, das ist seine Sache. Ich werde ihn nicht daran hindern.«
»Sehr weise von dir!« spottete Rolff. »Und im übrigen; wenn ihr genau das tut, was ich gesagt habe, dann braucht ihr euch auch keine Sorgen zu machen.
Ist bei dir alles bereit, Gersson?«
»Ja.« Gerssons Stimme klang dünn und verzerrt; eine Folge des nahen Staubsees mit seinem Soltoniumgehalt. Selbst hier am Ufer konnte Gersson die ruckartigen Stöße und das seltsame Zerren fühlen, mit dem die Schwerkraft an seiner Schutzpanzerung nagte, und dann und wann schien der Boden unter ihm wegzuspringen, zu rollen und zu beben – ein gespenstisches Ballett hochgewirbelter Erdkrumen.
Das Allzweckfahrzeug hatte massive Klammern ausgefahren, die sich tief in den Boden wühlten und verhinderten, daß der gepanzerte Wagen von den unvermittelt auftretenden Schwerkraftschocks umgeworfen oder davongetrieben wurde.
Ein neuer, diesmal stärkerer Stoß. Rolff stolperte, hielt sich mühsam am Seil fest.
Kiyunati musterte ihn besorgt. »Ich hoffe, du bist dir darüber im klaren, daß dort unten« – er deutete auf die mattschwarze Oberfläche des Staubsees – »noch ganz andere Verhältnisse herrschen.«
»Die Beschichtung des Raumanzugs wird das Ärgste von mir fernhalten«, versicherte Rolff überzeugt. »Hauptsache, ihr hievt mich nach spätestens einer halben Stunde wieder hoch.« Er straffte sich. »Fangen wir an!«
Kiyunati gesellte sich zu Gersson, der die automatische Winde bediente. »Viel Glück!« wünschte er leise.
Rolff hob dankend die Hand und näherte sich dem Ufer, ein wenig unsicher, ein wenig taumelnd, wie wenn eine unsichtbare Faust gegen seine Brust hämmerte, ein substanzloses Etwas ihn zu zerreißen drohte oder der Boden sich aufwölbte; fühlbare Emissionen des Soltoniums dort unten im See, das blindwütig mit der Gravitation spielte und in gewissen Phasen, sobald Belsazars Sonne sich krümmte und zuckte, Gebirge zermahlen konnte.
Der feine Staub schlängelte sich wie ein lebendes Wesen an Rolffs Beinen empor, erreichte die Oberschenkel, dann den Bauch, die Brust, den Hals dann
SCHWÄRZE
Nacht. Dunkelheit. Eine finstere Wand, undurchdringlich für Rolffs Augen, massiv und erdrückend wirkend, beängstigend.
»Rolff?« Knarrte es aus dem Helmempfänger. »Rolff?«
»Ja?« krächzte Rolff, räusperte sich, um seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Alles in Ordnung, alles in Ordnung!«
»Rolff? Melde dich! Warum sagst du nichts?«
»Ich sagte, es ist alles in Ordnung!« wiederholte Rolff laut.
Kiyunatis Stimme wurde leiser. Aus weiter Ferne drang sie an Rolffs Ohr. »Verdammt, Rolff, du sollst dich melden!«
»Kiyunati!« brüllte Rolff, bewegte angestrengt seine Arme durch den sirupdicken Staubbrei, tastete sich zu den Kontrollen des Funkgeräts am Helmansatz empor, stellte den Sender auf höchste Abstrahlleistung. »Kiyunati, verstehst du mich?«
Keine Antwort.
»Kiyunati! Gersson!« Seine Schreie dröhnten in der Enge des Raumanzughelms.
Stille.
»Versteht ihr mich? Könnt ihr mich hören? Antwortet!«
Nein, sie konnten ihn nicht empfangen – der Staub, das Soltonium … Er war abgeschnitten, auf sich angewiesen. Allein. Nur das dünne, aber dafür feste, dafür unzerreißbare Seil verband ihn noch mit der Oberfläche, mit dem Leben; eine künstliche Nabelschnur, die ihm inneren und äußeren Halt verlieh.
Eine Welt aus Staub, aus Finsternis und Stille.
Rolff erinnerte sich an einen Begriff, den er irgendwann, irgendwo einmal gehört hatte: Sensorische Deprivation – abgeschnitten von allen äußeren Eindrücken, reduziert auf die eigene Person …
Wie tief? dachte Rolff. Wie lange?
Viele Meter konnten es nicht sein, dafür war die Zeit zu kurz, die er in der Brühe schwamm, oder – woher konnte er wissen, daß sein Zeitgefühl ihn nicht trog?
Ärgerlich vertrieb er die Gedanken. Es war gefährlich, sich selbst zu verunsichern. Und im übrigen – nach einer halben Stunde würden Gersson und Kiyunati ihn wieder hinaufziehen. Nein, kein Grund, sich Sorgen zu machen! Kein Anlaß, zu zweifeln.
Und wenn er Glück hatte …
Ein Ruck! Brutal, tödlich.
Rolff wurde durcheinandergeschüttelt, fühlte, wie das Seil sich spannte, straffte, etwas an seinem Unterleib zog, und er betete und flehte, daß die Abschirmung seiner Raummontur ihn vor den tödlichen Gewalten der manipulierten Schwerkraft schützen würde. Undeutlich spürte er, wie der Staub in seiner Umgebung in Bewegung kam, wie der Druck der feinkörnigen Masse sich verringerte.
Rolffs Herz klopfte hart und heftig.
Hatte das etwas zu bedeuten? Waren die Schwerkraftschocks ein Zeichen dafür, daß sich ganz in der Nähe ein größerer Brocken Soltonium befand?
ABER ER KONNTE NICHT SEHEN, NICHT HÖREN, ER KONNTE NUR WARTEN UND AUF EINEN ZUFALL HOFFEN.
Überall der schwarze, rußige Staub. Überall Nacht.
Und Rolff sank tiefer, langsam, ruckartig, aber er sank.
Seine Atemzüge, so stellte er mit einem Anflug von Nervosität fest, gingen schnell, zu schnell. Er mußte sich beruhigen, seine Beherrschung wahren!
Dann ein Stoß, ein heftiger, schmerzhafter Schlag gegen die Schulterblätter, und er bemerkte trotz der Dunkelheit, wie er abtrieb, sich zu drehen begann, kreiste, schneller und schneller rotierte, schneller, schneller, und ihm wurde übel, sein Magen revoltierte, pumpte saure Flüssigkeit in seine Mundhöhle.
ES TAT WEH!
ES VERWIRRTE IHN!
Erneut ein Stoß, erneut ein Schlag.
Ich hatte recht! hüpften seine Gedanken trotz der Schmerzen, trotz der Angst, des Grauens. Der Staubsee war voll Soltonium! Hier, irgendwo, ganz nah, so nah, daß die Schwerkraftschocks, die das Soltonium aussandte, sogar die dicke, fette Schutzschicht seiner Montur durchbrachen.
Eine tiefe Furcht erfaßte Rolff, während er sich drehte, immerzu, immer rascher, immer schmerzhafter: Was geschah, wenn es zuviel Soltonium war? Wenn es ihn zerfetzte, wie ein Stück Papier …
Das Seil straffte sich, rüttelte heftig an der Verankerung.
Hoffentlich hielt es! Hoffentlich riß es nicht! Hoffentlich! Hoffentlich!
Rolff wirbelte durch die Nacht, wirbelte und würgte, und vielleicht schrie er auch, aber er war sich dessen nicht so sicher, denn aus seinen Ohrempfängern drang grelles Pfeifen, betäubte seinen Gehörsinn, verwirrte die Gedanken.
Und
PLÖTZLICH RISS DAS SEIL.
Rolff spürte es ganz deutlich: Wie es knirschte, protestierend ächzte, sich dehnte, dehnte, dehnte und ZERRISS.
Haltlos kreiste Rolff durch die aufgewühlten Staubmassen, an tausend Stellen mit Blutergüssen überzogen, die ihm die pulsierende Schwerkraft zugefügt hatte.
Rolff begriff: Ich bin verloren. Verloren im Staub. Eine lebende Leiche, so lange denkend, bis die Sauerstoffzufuhr erstirbt.
»Gersson!« kreischte Rolff. »Kiyunati!«
Hysterisch! dachte er betroffen. Ich werde hysterisch!
Um ihn herum die Finsternis.
Und er traf mit seinem Rücken auf irgend etwas Hartes, Festes, auf einen Fremdkörper im Staub, und es zerschmetterte ihm fast die Wirbelsäule, so daß er hell aufschrie und die Tränen aus seinen Augenhöhlen spritzten und sein Gesicht sich verzerrte. Aus einem unbewußten Antrieb heraus klammerte er sich mit aller Kraft an das unsichtbare Etwas, das ihm ein Gefühl der Sicherheit verlieh, und während seine Arme sich verzweifelt um die feste Substanz schlossen, entstand ein greller, verzehrender Blitz in seinem Bewußtsein, löschte alles aus: Gefühle, Ängste, Hoffnungen, Wünsche …
»Das Seil, Gersson!« brüllte Kiyunati mit schreckenverzerrtem Gesicht. »Es ist gerissen! Gerissen! Begreifst du, Gersson? Weißt du, was das bedeutet?«
Gersson betätigte in verzweifelter Eile die Winde, drückte den Daumen fest auf die Taste für den Schnelldurchlauf, und das Seil glitt schlangengleich aus dem Staubsee, wickelte sich über die massive Achse, und dann peitschte das faserige, zerfetzte Ende gegen die Aufbauten, wurde mit jeder Umdrehung der Winde schneller und ließ das Allzweckfahrzeug erzittern.
»Er ist tot«, flüsterte Kiyunati. »Rolff ist tot, Gersson! Tot! Und … wir haben ihn sterben lassen! Wir haben ihn nicht von seinem verrückten Plan abgebracht. Wir sind schuld an Rolffs Tod! Wir, Gersson, und niemand anders!«
»Still!« herrschte ihn Gersson an. »Sei still! Hörst du nicht?«
Kiyunati zitterte, starrte Gersson benommen an, verstand nicht, was er von ihm wollte. »Was ist?« fragte er. »Sprich! Was ist?«
Aber das leise, zarte Zwitschern in seinem Funkempfänger gab ihm die Antwort; fast wie alte elektronische Musik klang es, auf- und abschwellende melodiöse Töne, allmählich lauter werdend, näher kommend, lauter und greller und heftiger, bis das Zirpen und Schrillen und Zwitschern in den Köpfen der Männer pulsierte, ein metallischer, gefühlloser Gesang, der die Gedanken zerstäubte, taub und furchtsam machte …
»Der Induktionssturm!« sagte Kiyunati entsetzt, und, seltsam, nicht einmal seine eigene Stimme konnte er mehr deutlich vernehmen.
Der Staubsee fing an zu brodeln; an zwanzig, hundert, tausend Stellen wölbte sich die eben noch flunderplatte Oberfläche, rülpste dicke Nebelschwaden in die Höhe, und für einen kurzen Augenblick fühlte sich Kiyunati an kochenden Kaffee erinnert, der unter der Hitze einer Herdplatte sein Aroma widerwillig freigab.
»Zurück!« schrie Gersson, ergriff Kiyunati am Arm und zerrte den vor Überraschung und Schrecken gelähmten Mann in den Schutz des Allzweckfahrzeugs.
Riesige Staubwolken schwebten über den Boden, hüllten die Landschaft vollständig ein.
Zitternd drängten sich Gersson und Kiyunati in der gepanzerten Wagenkabine, blickten aus furchtsam geweiteten Augen auf die chaotische Umgebung.
Oben am Himmel, dort, wo die schwache Ozonschicht der Atmosphäre die kosmischen Strahlen filterte, glühten gezackte, wie Blitze wirkende Lichtbahnen, ein Netz wetterleuchtender Spinnfäden, die jedesmal, wenn die kleine weiße Sonne unter einer lautlosen Eruption scheinbar an Größe gewann, anschwollen, hin und her huschten, sich teilten, verbanden, knotige Verdickungen bildeten.
Hier und da trat der Staubsee über die Ufer, und turmhohe Wellen fauchten über die Ebene, ergossen sich in die Meteorkrater, über die Geröllhalden und flachen Hügel.
»Wir müssen fort!« sagte Gersson atemlos. »Wir müssen augenblicklich verschwinden!«
An vielen Stellen schien der Boden zu leuchten; dort, wo sich dicke Erzadern befanden, die von den Gewalten des Induktionssturms aufgeheizt wurden und die Erde rösteten.
Das gepanzerte Fahrzeug schüttelte sich, sprang plötzlich in die Höhe, bockte und bebte, ließ die beiden Männer hilflos stürzen. Der Lärm aus den Funkempfängern dröhnte in den Ohrmuscheln.
Mühsam zog sich Kiyunati an einer Verstrebung hoch, setzte sich in den Sessel vor dem Steuerpult, betete, daß die Isolierungen des Wagens stark genug waren, dem Sturm zu widerstehen, betätigte den Anlasser, und polternd erwachte der schwere Motor zum Leben, beruhigte mit seinen gleichmäßigen Geräuschen die angespannten Nerven.
Durch die breite Panoramasichtscheibe aus Panzerglas starrte Kiyunati auf den Staubsee, der jetzt mehr denn je einem orkandurchwühlten Ozean glich, einem Ozean aus pechschwarzem Wasser oder heißem, verflüssigtem Teer, eine kochende Brühe.
»Nein!« ächzte Kiyunati. »Nein, nein, unmöglich!«
Und doch entstand in diesem Augenblick nicht weit vom Ufer entfernt in den wirbelnden Staubmassen eine absurd ruhige Zone, kreisrund, mehrere Dutzend Meter durchmessend, die die häusergroßen Wellen niederrang, sie glatt und bewegungslos drückte, bis sich schließlich ein rotierender Trichter gebildet hatte, ein gespenstischer Strudel, tief hinein in das Innere des Sees reichend, und aus diesem eingedrückten Auge schoß ein Metallbrocken hervor, groß wie ein Koffer, unregelmäßig geformt, und
NEIN FLÜSTERTE KIYUNATI NEIN NEIN NEIN
daran klebte verkrümmt und geschrumpft eine Gestalt in einem plumpen, faltigen Raumanzug.
Für einen endlosen, entsetzlichen Moment hingen das Metall und der Mensch über dem Staubsee, von krachend niederzuckenden Blitzen umspielt, dann schnellte das bizarre Geschoß vorwärts, durchstieß eine massiv anzusehende Staubwand und prallte nicht weit von dem Allzweckfahrzeug entfernt auf den Boden auf, der zu explodieren schien und sich wand und schüttelte, so daß er sich nach und nach in einen schüsselförmigen Krater verformte.
»Rolff!« sagte Gersson. Sein Gesicht war grau wie der Staub dort draußen.
Langsam beruhigte sich die tobende See, fiel wieder in sich zusammen, und auch oben am Himmel verblaßten die Strahlbahnen, zerfiel das leuchtende Netz.
Matt und erschöpft äugte Belsazars Sonne durch die Panzerglasscheibe.
»Ich habe ihn gewarnt!« stieß Kiyunati hervor. »Ich habe es ihm gesagt! Er wußte, daß ein Induktionssturm heraufzog! Aber er wollte nicht hören! Er wollte einfach nicht hören!«
Gersson betastete unschlüssig die Lasersäge und starrte immer wieder auf das verkrümmte Bündel, das vor ihm im sorgfältig zerpulverten Sand lag.
»Hätte ich doch nur geglaubt, daß er tatsächlich auf Soltonium stoßen würde!« fuhr Kiyunati fort. »Ich hätte ihm sagen können, was solch ein Sturm anrichtet! Das Soltonium spielt dann verrückt, Gersson, es zerquetscht, zerstört, vernichtet alles, was sich ihm nähert. Doch wer konnte ahnen …«
»Es ist nicht unsere Schuld«, unterbrach ihn Gersson leise. »Rolff konnte selber denken. Es war einzig und allein seine Idee, und er hatte auch die Folgen zu tragen.
Nein, wir brauchen uns keine Vorwürfe zu machen. Sie bringen ihn nicht wieder zurück. Rolff ist tot. Aber wir leben, Kiyunati! Wir leben!«
Vorsichtig stieß er den farblosen, ungefügen Metallbrocken mit dem Fuß an, verspürte selbst durch das isolierende Material des Raumanzugs einen festen, bösartigen Druck.
»Wir leben!« wiederholte er. »Und wir hatten Glück. Mehr Glück als Rolff, aber es war jene Chance, auf die er seit langem gewartet hatte. Und er griff zu. Sein Pech, daß es ihn erwischte, wo er so knapp vor dem Ziel stand.«
»Wieviel ist es?« fragte Kiyunati. »Wieviel, Gersson? Wieviel?«
Gersson blickte zur Seite, studierte die Anzeigen des Detektors. »Achthundert Kilogramm«, entgegnete er, atmete tief durch, und er fühlte, wie sein Herz heftiger zu schlagen begann und wie eine entspannte, allumfassende Leichtigkeit seinen Körper, seine Gedanken erfaßte, eine tiefe, fast schmerzhafte Freude, ein völliger Triumph. »Achthundert Kilogramm Soltonium! Kiyunati, achthundert Kilogramm! Achthundert!«
Kiyunati und Gersson starrten sich an, fast ungläubig, noch zweifelnd, daß ausgerechnet ihnen dieses unverschämte, ungeheuerliche Glück vergönnt war, und schließlich grinsten und lachten sie, klopften sich schreiend vor Freude auf die Schultern, umarmten sich, drehten sich im Kreis, tanzten und sprangen und hüpften wie Verrückte am Ufer des Staubsees entlang, um das Soltonium herum, vorbei an Rolff, mit Tränen in den Augen, schmerzenden Kiefermuskeln und zum Zerreißen gespannten Lippen, die unter den unentwegten Kicher- und Lacheruptionen zuckten und vibrierten.
»Achthundert!« lachten Gersson und Kiyunati. »Achthundert Kilogramm Soltonium!«
UND DANN RECHNETEN IHRE GEHIRNE UND ERKANNTEN, DASS DIE GESELLSCHAFT JEDEM VON IHNEN ACHTZIG MILLIONEN WERTEINHEITEN PROVISION ZAHLEN MUSSTE, SO DASS SIE VON JETZT AN REICH UND FREI UND GLÜCKLICH SEIN WÜRDEN.
Das Allzweckfahrzeug rumpelte mit knirschenden Stoßdämpfern über den Boden, umrundete Krater und Erdspalten, ächzte an Gesteinsverwerfungen vorbei, und Kiyunati und Gersson saßen hinter der Panzerglasscheibe, durch die sie weit vorn das gewaltige Rund der Station erkennen konnten, eine golden glitzernde Halbkugel, auf der in riesigen Lettern
BELSAZAR SCHÜRF TRUST
zu lesen war.
Gelassen fuhr der Wagen darauf zu.
Ein Schiff, zwischen den Sternen, weit draußen in der Milchstraße; devote Diener, anschmiegsame Mädchen, die ihn streichelten und ihm alle Wünsche erfüllten, bis der Planet, dieser eine, bestimmte, im Fadenkreuz auftauchte, ein blühender Garten, ein Paradies, mit frischduftenden Wäldern, kristallklaren Gewässern -
Kiyunati dachte:
Ein Haus auf Glimmer, direkt neben dem Mondsee, zwanzig, vierzig weite Zimmer, Licht und Farben, Musik, Berge von Kostbarkeiten, Gemälde an den Wänden, Frauen, schön und großbrüstig, und ER auf einem breiten Bett, verwöhnt, geliebt, reich, frei, rundgeschlemmt, zufrieden und glücklich, mit Macht und Einfluß -
am Ziel seines Lebens.
Ruhig summend näherte sich das Fahrzeug der Station, die bald riesig und erdrückend vor ihnen aufragte. Dort schlängelte sich die glattbetonierte Rampe, an deren Ende das massive Tor der Schleuse wartete.
Ein merkwürdiges Gefühl bemächtigte sich Gerssons. Verwirrt warf er einen Blick zu Kiyunati, der leise pfeifend hinter dem Steuer saß, mit leuchtenden Augen und gestrafften Schultern, denn nun war er nicht mehr der arme Bittsteller, dem die Gesellschaft Ausrüstung und Lebensunterhalt vorfinanzierte und deshalb Forderungen stellen, Befehle geben konnte, sondern er war nun Kiyunati, der Prospektor mit dem Achthundert-Kilo-Fund, für den man ihm und Gersson einhundertsechzig Millionen Werteinheiten zahlen mußte.
Kiyunati, der Berühmte, Wichtige.
Die Unruhe in Gersson wuchs. »Mir ist merkwürdig zumute«, flüsterte er. »Je näher wir der Schleuse kommen …«
»Lampenfieber«, winkte Kiyunati spöttisch ab. »Das geht vorbei, wenn du erst mal in Geld schwimmst!
Warte, was die feinen Herren vom Trust für Augen machen, wenn wir ihnen das Soltonium vor die Füße werfen und unsere Hände nach den Schecks ausstrecken!« Er lachte. »Jetzt ist Schluß mit den arroganten Bemerkungen, die sie jedesmal fallen ließen, wenn wir erfolglos zurückkehrten! Schluß mit dem Pochen auf die Schulden, die wir für die Ausrüstung bei ihnen aufnehmen mußten!«
»Anhalten!« preßte Gersson plötzlich hervor. Panische Angst schnürte ihm die Kehle zu.
»Wie? Was?« Kiyunati musterte ihn besorgt. »Bist du verrückt geworden? Und ich dachte, das passiert immer erst, wenn man das Geld in den Fingern hat!«
Gersson registrierte verwundert, daß seine Finger zitterten. »Es … ist die Schleuse, Kiyunati. Ich … ich … Wir dürfen da nicht hinein, Kiyunati! Auf keinen Fall! Wir müssen …«
»Der Schock!« sagte Kiyunati wegwerfend. »Natürlich, das ist es! Du denkst noch zuviel an Rolff, das ist alles! Schuldgefühle, weißt du!
Rolff hat geahnt, daß er auf einen Schlag im Staubsee steinreich werden konnte und deshalb alles auf eine Karte gesetzt. Sein Pech, daß es für ihn schiefgelaufen ist, doch achtzig Millionen … dafür lohnt es sich schon, zu sterben!
Und nun sind wir beide die Glücklichen, während Rolff tot in einem Meteorkrater liegt. Kein Wunder, daß du Schuldgefühle kriegst. Aber die gehen vorbei! Glaub mir! Wenn erst das Geld …«
Der Wagen stoppte. Kiyunati wartete.
Was ist nur mit mir? fragte sich Gersson. Da vorn warten achtzig Millionen auf mich! Achtzig Millionen! Achtzig Millionen!
Langsam, gemächlich öffneten sich die Schleusentore.
Gersson schluckte und biß sich fest auf die Lippen. Ich bin ein Narr! schalt er sich. Achtzig Millionen!
Das Allzweckfahrzeug rollte in die große, leere Schleusenkammer, und das äußere Tor schloß sich wieder. Zischend wurde Luft in den Raum gepumpt, so daß nach kurzer Zeit der Druckausgleich erreicht war und eine atembare Atmosphäre herrschte.
»Gleich ist es soweit!« sagte Kiyunati und rieb sich die Hände. »Gleich.«
Ein heller, unerträglich greller Blitz blendete ihn, schwärzte sein Gesichtsfeld, aber die Helligkeit kam von innen, leuchtete hinter seiner Stirn. Er schrie und stöhnte, wimmerte vor Furcht, fühlte, wie seine Gedanken zerbarsten, seine Vorstellungen verfaulten, seine Wünsche verbrannten. Es war, als würde er von innen nach außen gestülpt, wie ein nasser Handschuh, und es war ein widerwärtiger, übelkeitserregender Vorgang, eine angsttreibende Metamorphose. Kiyunati spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und irgend etwas Entsetzliches sich ihm näherte.
UND DANN VERSTAND ER.
»Mein Gott!« sagte Gersson.
DURCH DAS INNERE, AUSEINANDERKLAFFENDE SCHLEUSENTOR DRANGEN DIE AUFSEHER, DIE DAFÜR ZU SORGEN HATTEN, DASS DIE ZURÜCKKEHRENDEN ARBEITER NACH ERLÖSCHEN DES HYPNOTISCHEN BLOCKS UNVERZÜGLICH WIEDER IN IHRE SEPARATEN AUFENTHALTSRÄUME ZURÜCKGEFÜHRT WURDEN, DENN MANCHE WAREN SEHR ENTTÄUSCHT, WENN DIE ILLUSION VERSCHWAND, UND NICHT SELTEN WURDEN DADURCH WERTVOLLE ARBEITSKRÄFTE VORÜBERGEHEND UNVERWERTBAR.