V
Calhan kam aus dem Osten, und es war Morgen, als er über die Steppen von Ostien ritt, über das borstige, graue Gras, das die baumlose Ebene wie kurzgeschorenes Haar bedeckte. Vor ihm teilten die Krograniten in ihrer verrosteten Mächtigkeit und mit ihren vergletscherten Zackenkämmen die Welt, eine unüberwindliche Barriere, gekrönt von schmutzigen, hochgetürmten Wolken, hinter denen gemächlich die gigantische rote Sonne aufstieg, um später, gegen Mittag, den vierten Teil des violetten Himmels mit ihrem Kirschrund zu bedecken. Regenschleier verwehrten noch den Blick auf die schartigen Muster, die manche der Berghänge zierten und die von den Gehörnten in den Fels geritzt worden waren, nach dem Sieg über die Eisenmänner, nach dem Aufbruch der dolorosen Schiffe und dem Ende der kosmischen Kriege. Es waren furchteinflößende Muster, bizarre Arabesken aus einer anderen Welt, vor denen sich die Nachtmahre verneigt hatten und deren Anblick die Steppenvölker mieden, weil sie wußten, daß sie böse Träume und verschrobene Gedanken brachten.
Calhan schnaubte, während er sich von dem stummen, geschuppten Laufvogel über die Steppe tragen ließ, dem Morgen entgegen, Qu’ail entgegen, in den Regen hinein, der ihm kalt und scharf ins mürrische Gesicht wehte. Es war ein farbloser, dünnstreifiger Regen, armselig im Vergleich zu den faustgroßen Tropfen, die zu Millionen und Abermillionen auf die Wälder und Wiesen, die Hügel und Häuser von Nyanderhen zu trommeln pflegten. Es war die Karikatur eines Regens und allein die Kälte, die ihm innewohnte, vermochte Calhans Abscheu ein wenig zu dämpfen.
»Lauf, Vogel!« zischelte Calhan ungeduldig. »Lauf!«
Und der Vogel lief, und der Regen peitschte Calhan ins Gesicht, und der Wind pfiff ihm um die Ohren, und der Wind war so laut, daß er selbst das Stampfen der hornigen Vogelbeine übertönte. Währenddessen kletterte die Sonne höher, färbte die schmutzigen Wolken, daß sie das Aussehen blutgetränkter Verbände bekamen, und wälzte ihr mächtiges Rund über den violetten Himmel. Die Krograniten wuchsen und schienen nicht mehr mit dem Wachsen aufhören zu wollen, wurden höher und erdrückender, düsterer und zerklüfteter und enthüllten hier und da an den umwölkten Hängen und an den schroffen Steilwänden obszöne Tätowierungen, kosmische Gemälde des Wahnsinns und der Raserei, halb hinter den Vorhängen aus Regenschauern verborgen.
»Ah!« rief Calhan entzückt. »Wie wundervoll widerwärtig! So scheußlich, so schön!«
Der Laufvogel gab keinen Laut von sich. Ihn beeindruckten weder die Berge, noch die Arabesken an den Hängen. Er lief weiter, weil ihm die Gehirne befohlen hatten zu laufen und Calhan nach Qu’ail zu tragen, und schließlich schob sich Qu’ail aus dem regnerischen Dunst hervor, finster und drohend am Fuß der Krograniten, die gleichermaßen finster und drohend die Steppen von Ostien begrenzten.
Endlich, gegen Mittag, als der Regen nachgelassen hatte und die Wolken aufgerissen waren und sich rotes Sonnenlicht wie verwässertes Blut über das Land ergoß, hatte Calhan den wallenden, schwefligen Baldachin aus schwarzem Rauch erreicht. Als hätten sie eine unsichtbare Grenze überquert, hielt der geschuppte Vogel mitten im Laufen an und stemmte die hornigen Krallenfüße in den Boden, daß Calhan kopfüber nach vorn geschleudert wurde und schwer zu Boden stürzte, und dann rannte der Laufvogel davon, zurück in den Osten, zu den schwärenden Sümpfen, aus denen ihn die Gehirne gerufen hatten.
Zornig schrie ihm Calhan Flüche nach, schüttelte drohend die faltige Faust und wünschte der Kreatur immerwährendes Sterben ohne die Erlösung des Todes, und er verfluchte im gleichen Atemzug die Gehirne, daß sie ihm kein gehorsames Reittier für die lange Reise zur Verfügung gestellt hatten. Doch sein Zorn legte sich rasch, schwand von einem Moment zum anderen, als er sich umdrehte und Qu’ail vor sich sah, als der Schwefelgestank in seinen Nüstern ätzte und das lichtlose Schwarz der Rauchglocke ihn mit der Ahnung einer Blindheit erfüllte, wie er sie sich in seinen kühnsten Alpträumen nicht ausgemalt hatte. Wo die schwarzen Schwaden den Boden berührten, war das Gras verdorrt, war die Erde vertrocknet und gespalten, waren sogar die Kiesel zerbröselt, die überall am Fuß der Berge verstreut zwischen den borstigen Büscheln des Steppengrases lagen und der Legende nach einst zu den Krograniten gehört haben sollten, von denen die Eisernen riesige Felsbrocken auf die heranstürmenden Heere der Nachtmahre geschleudert hatten. Eine kreisförmige Zone der Ödnis umgab die Rauchglocke, ein Ring der völligen Unfruchtbarkeit, und in diesem Wüstenstreifen, neben dem sich andere, gewöhnliche Wüsten wie üppige Gärten ausnahmen, lagen weiße Gebeine. Calhan schnalzte entzückt.
Dort lagen Totenschädel und Knochen ohne eine Spur von Fleischbesatz. Totenschädel mit Augenhöhlen blind wie zu Lebzeiten. Bleiche Knochen, grätige Gerippe, feine Knöchel, glatte Wirbel, geschliffene Gelenke in tollem Durcheinander, wie aus einem Massengrab, das ein Nachtmahr in nekrophiler Gier aufgewühlt hatte, um an den letzen Resten menschlichen Daseins seine fremdartigen Gelüste zu stillen. Und über den Gebeinen wallten und wirbelten Schwaden aus Rauch und tanzten wild zur Melodie des Steppenwindes.
Vielleicht war es dieser Rauch, der das Fleisch der Toten fortgeätzt hatte.
Oder vielleicht hatte der Wind in seiner elementaren Neugier das vergängliche weiche Gewebe fortgetragen und das Weiß der Knochen bloßgelegt.
Es war einerlei. Für Calhan machte es keinen Unterschied. Der Anblick der Knochenstätte schmeichelte seinem morbiden Sinn für Schönheit, seinem verderbten Geschmack für das Abartige, seiner Lust an allen mißratenen Dingen.
Calhan kicherte bei diesem Anblick.
Er rieb sich die Hände, daß seine Pergamenthaut trotz der regnerischen Nässe trocken raschelte; er verzog den welken Mund zu der lüsternen Travestie eines Lächelns; er riß die Augen weit auf und betrachtete alles mit schamloser Verzückung; und immer wieder gab er schmalzige Laute des Wohlbehagens von sich. Nie hätte er erwartet, etwas derart ausgesucht Häßliches, etwas derart exquisit Krankes in der widerwärtig pittoresken Idylle Ostiens vorzufinden. Doch dann, noch während sich seine Augen an den klebrig wallenden, wurmig kriechenden Schwaden festsaugten, verdüsterte sich sein runzliges Gesicht und wurde fast so dunkel wie die Glocke aus Rauch.
Calhan dachte an Lyzis.
An das, was der Bote von ihm verlangt hatte.
An das, was er tun mußte, damit die Tat der Gehirne gelang.
Mit einer üblen Verwünschung erhob sich Calhan vom staubigen Boden, dem rußverfärbten Boden, der so ebenholzschwarz war wie alles in und um Qu’ail, und er betrat den verödeten, vergifteten Streifen Niemandsland.
Er atmete die ätzende Luft, aber der Brodem erstickte ihn nicht, wie es einem normalen Menschen ergangen wäre. Er watete durch rußige Pestilenz, doch das Fleisch seiner nackten Füße verdorrte nicht, wie es das Fleisch gewöhnlicher Menschen getan hätte. Er schritt in die Lichtlosigkeit des schwefligen Rauches, doch er erblindete nicht, wie jeder andere Mensch erblindet wäre. Was er sah, waren nur Schatten, aber die Schatten genügten, um ihm den Weg zu weisen, denn obwohl er es nicht ahnte, waren die Gehirne noch immer bei ihm; unsichtbar nisteten sie in seinem Kopf, in der Kloake seiner boshaften Seele, dort, wo sich Calhan selbst in seinen Alpträumen nicht hinunterwagte, weil er fürchtete, im Brackwasser seiner entmenschlichten Gefühle zu ertrinken. Für die graupelig quellenden und knatzenden Ungeheuer der Kronberge stellte der Rauch kein Hindernis dar und sie führten Calhan ohne Zögern durch die Finsternis des schweifigen Nebels bis hin zum einzigen Tor in der Stadtmauer von Qu’ail, zum Tor, das immer offen stand, weil Lyzis sich über jeden neuen Gast in der Stadt freute und weil sie nicht fürchtete, daß ihre geliebten Untertanen so närrisch waren und allesamt hinaus in das Kirschlicht und damit in den Feuertod flohen.
Calhan trat durch das Tor und da war kein Wächter, nur ein blinder Bettler, der keine Almosen wollte, sondern jeden Vorbeikommenden anflehte, ihm das Brot zu nehmen, das ihm zu jeder Stunde von gnadenloser Hand in den Schoß gelegt wurde, und er verweigerte die Bissen, da er hoffte, durch Fasten das Wachstum seines Fleisches zügeln und so dem Mittagstisch der Lady Lyzis entgehen zu können.
Calhan erschlug ihn, weil der Bettler ein Narr war, und Calhan Narren verabscheute; er erschlug ihn, weil der einfältige Bettler nicht wußte, daß Lyzis zuweilen Diät hielt und dann so magere Tröpfe wie ihn verspeiste.
Und während er weiterging, durch die Dunkelheit der Straßen, drehten sich augenlose Köpfe nach ihm um.
Und während er die Treppenstraßen erklomm, zuckten bleiche Ohren und lauschten dem Klang seiner unbeirrten Schritte.
Und während er die Korkenzieherstiegen hinaufkletterte, huschten mißgestaltete Kreaturen davon und verkrochen sich knurrend in schwarzen Löchern, die in schwarzen Mauern gähnten und in Bereiche führten, die nicht einmal Lyzis zu erforschen wagte.
Schon von weitem vernahm Calhan die Musik.
Lyzis’ Speisekammermusik.
Die Musik erfüllte die düstere Stadt mit erlesenen Melodien der Pein, mit Harmonien des Schmerzes, mit Crescenden des Wahnsinns. Calhan mochte die Musik. Natürlich mochte er die Musik. Sein Mund wurde wässrig. Seine gelben Spinnenfinger zuckten. Ächzen gab den Takt an. Stöhnen bestimmte das Tempo. Und Gelächter applaudierte; zwitscherndes, trillerndes Gelächter wie aus der Kehle einer Nachtigall.
Bezauberndes Gelächter – gräßliches Gelächter.
Calhan haßte es, und er haßte Lyzis dafür, und er schritt schneller aus, ging immer schneller und schneller und dann rannte er durch die ewige Nacht, ohne zu stolpern, ohne zu fehlen, lief keuchend und geifernd zum Platz der Blindheit und zum herzförmigen, pustelbedeckten Palast, und die Musik wurde lauter und das Gelächter wurde heller und lieblicher und Calhans Haß wurde heißer und heißer. Das Gurren und Kichern, das Zwitschern und Jubilieren verdarb ihm den Genuß an den grausigen Weisen, die Freude an den schmerzerfüllten Chorälen, und er war entschlossen, Lyzis für diesen Frevel zu strafen, wie sie noch nie bestraft worden war, sie zu züchtigen, und sie zu peinigen, weil sie die klamme Herrlichkeit des Entsetzens durch die sphärische Abscheulichkeit ihres Gelächters zu verhöhnen wagte.
»Licht!« schrie Calhan außer sich vor Zorn, geifernd vor Raserei. »Helligkeit! Feuer! Flammen! Licht! Licht!«
Die Musik verstummte.
Das Gelächter brach ab.
Die Finsternis wallte.
Und die Nacht zerriß.
Es wurde hell. Von einer Sekunde zur anderen wurde es blendend hell, sengend hell, verzehrend grell, so lichterloh gleißend wie im Herzen einer Sonne. Die Stadt stöhnte angesichts des Lichts, dieses verbannt geglaubten Feindes. Die schwarzen Fassaden der Häuser, das schwarze Mosaik des Bodens, die schwarzen Mauern des Palastes erbleichten unter dem Ansturm der feurigen Fluten, wurden zuerst leichenblaß und dann farblos und durchscheinend, knisterten und wisperten, zersprangen wie Glas unter den Schlägen eines Schmiedehammers. Der Palast, der versteinerte Schädel des Nachtmahrs zerbröckelte und zerfiel zu Staub. Risse und Sprünge zerschnitten den Boden, krochen weiter und weiter, nach rechts und nach links, quer und im Kreis, in die Gassen und in die Straßen, die Korkenzieherstiegen hinauf und die Tunnel hinab, an den Gebäuden empor und in die Keller hinunter, zwackten hier einen Erker ab, sägten dort eine Wand entzwei, zerrissen da ein Fundament.
»Licht!« schrie Calhan in maßloser Wut.
Er stampfte durch den Staub, stampfte durch das Sonnenfeuer, das die Gehirne entfacht hatten, um Qu’ail zu verderben, und dort war Lyzis und Lyzis war bleich wie der Tod und starr wie Gestein. Ihre Fischaugen blickten ins Leere. Ihr hübscher, lieblicher Mund war verzerrt. In der einen Hand hielt sie einen rohen Männerfuß, in der anderen einen Becher voll mit warmem Blut. Aber sie aß nicht mehr. Sie trank nicht mehr. Das Licht lähmte sie.
Vielleicht ahnte sie auch, was geschehen war.
Vielleicht hatten ihr die Gehirne die Wahrheit zugeflüstert, weil selbst die Gehirne die Wahrheit zu schätzen wußten, wenn sie einen Schrecken barg, wie Calhan ihn verkörperte.
»Flammen«, brabbelte Calhan verzückt, während er durch den Staub watete, der alles war, was das sengende Licht von Lyzis’ Palast übriggelassen hatte. »Feuer«, seufzte Calhan, während unter seinen nackten Füßen Knochen knirschten und er mit beiden Händen die menschlichen Reste von Lyzis’ Mittagsmahl forträumte. »Licht«, ächzte er. »Glut! Grelle! Helle!« Und zwischen seinen beschwörenden Flüchen, die von den Gehirnen erhört und mit dem blendenden, fokussierten Licht der nahen Sterne belohnt wurden, zwischen diesen wilden Verwünschungen lachte er, um Lyzis zu zeigen, was ein richtiges Gelächter war, um sie daran zu erinnern, daß wahre Fröhlichkeit dem Grauen entsprang und ehrliche Heiterkeit nach dem lüsternen Schauder des Todes verlangte. Dann hatte Calhan Lyzis erreicht und er schlug ihr den angenagten Männerfuß aus der rechten Hand und den Becher voll mit warmem Blut aus der linken Hand, packte ihr kohlrabenschwarzes Haar und schleuderte sie zu Boden, warf sie lang auf die befleckten Fliesen ihrer zu Staub zerfallenen Speisekammer. Mit dem Zeigefinger wies er auf ihr rechtes Bein. Wortlos, befehlend deutete er mit dem Finger auf jene Stelle, wo die samtene Haut des Oberschenkels in die schlaffe Ranzigkeit der Leiste überging. Er tat genau das, was ihm die Gehirne aufgetragen hatten, und durch die Macht der Gehirne löste sich das Bein vom Rumpf, und das Bein blutete nicht.
Es blutete nicht.
Die Venen und Adern, die durchtrennten Blutgefäße schlossen sich und sogleich wuchs frische Haut über die Wunden. Calhan hob das Bein auf, schulterte es und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Zurück blieb Lyzis.
Sie schwieg noch immer.
Vielleicht für immer.
Denn der Rauch lichtete sich, als der Zustrom aus dem wasserlosen Brunnen versiegte, der Rauch verflog mit den Winden, die über die Dächer und durch die Treppenstraßen und die schwarzen Gassen von Qu’ail fauchten, und das Kirschlicht des Tages kroch in die Ritzen der Gemäuer, durch die Risse in den Wänden, die Spalten in den Firsten, äugte glutvoll in jede Nische und in die erloschenen Augenhöhlen der blinden Menschen, die nicht sehen konnten, wie sich in diesem Augenblick die letzten Regenwolken auflösten und den dünnen, glitzernden Streif des Eisenrings entblößten, der sich wie ein Gürtel über den Himmel spannte.