II

 

Calhan war alt und schlau und schlecht. Alt, aber nicht weise. Schlau, aber nicht klug. Schlecht und niemals gerecht. Er war so alt, daß seine runzlige Haut wie Pergament raschelte, wenn er sich bewegte. Es war ein schrecklicher Laut, weit schrecklicher als das düstere Gejammer der lebenden Kuppel, das weder am Tag, noch des Nachts verstummte. Calhans Schädel war zerfurcht wie die Schale einer Walnuß. Seine Augen waren tiefe Brunnen in der Wüste seines Gesichts, und statt Wasser schwappte Säure an ihrem Grund. Und sein Blick brannte in den Herzen der Menschen, die ein blindes Schicksal dazu auserwählt hatte, ihm zu begegnen und zu sterben, ohne den Tod zu finden. Calhans Mund war eine Schlucht, in die nie ein Sonnenstrahl fiel. Sein Herz, seine Lunge, seine Leber und seine Nieren, all seine Organe und Glieder waren verbraucht und vom Verfall heimgesucht, doch mit der Kraft seines Willens zwang Calhan seinen Leib zum Weiterleben.

So hockte Calhan schon seit acht Generationen im Dom aus Stahl und Stein und ersann rastlos neue Bosheiten, mit denen er die Menschen von Nyanderhen plagen konnte. Calhan war der Herr dieses Landes, und er regierte nur, um das Land zu verderben, wie es oft geschah in abgelegenen, unbedeutenden Winkeln der Ede, wo Kriege noch im Zeichen der Gehörnten und unter dem Banner der Eisernen ausgetragen wurden. Beständig stöberte Calhan in den abgrundtiefen Kellern und den kühlen Katakomben unter dem Blumenteppich von Nurmus Mu, stöberte wie ein emsiges Insekt im Schmutz der Vergangenheit und suchte nach neuem Gift und neuer Qual für Mann und Frau und Greis und Kind. Er blätterte in den vergilbten Folianten und den fleckigen Schriftrollen seiner unseligen Ahnen, in den kristallenen Annalen der Eisenmänner, und wühlte in den Truhen voller flüsterndem Staub, die mit den Gehörnten zur Erde gekommen waren und von denen niemand mehr wußte, welchen Zwecken sie einst gedient hatten.

»Was ich brauche«, zischelte er oft vor sich hin, wenn er müde von tagelanger Suche die Knochentreppe hinaufwankte, und sich unter der lebenden, wispernden Kuppel zum kurzen Schlaf bettete, »was ich wirklich brauche, das ist ein doloroses Schiff. Bei jedem neuen Atemzug ein neuer Stich, ein frischer Schnitt, dorthin, wo’s beliebt, ganz wie’s beliebt. In den Darm, in den Arm, belebender Schmerz für’s träge Herz, in den Kopf und in den Kropf, in Magen, Milz und Mittelohr, in Nerven, Nieren, Nasenbein. Wenn schon Stahl schreit, dann Menschen allemal. Das brauche ich, mehr brauch’ ich nicht.« Dann nickte er, nickte so heftig, daß sein runzliger Schädel wie eine überreife Ähre im Sturmwind hin und her schwankte, und sein welker, wächserner Mund verzog sich zu einem schlauen Lächeln. Aber in ganz Nyanderhen gab es kein doloroses Schiff. Die Schmerzarchen waren mit den Eisenmännern verschwunden, und sollten sie jemals zur Erde heimkehren, sollte das Undenkbare jemals Wirklichkeit werden, dann würden sich selbst Männer wie Calhan wünschen, sie nie gesehen zu haben. »Man stelle sich vor«, brabbelte Calhan in jenen heiteren Momenten, wenn Regen vom grauen Himmel fiel, in Tropfen groß wie Fäuste, »man stelle sich all die vielen Schiffe vor! So viele Schiffe zwischen der Zeit, und so viele eiserne Geschöpfe und so viel delikater Schmerz. Die Eisernen schweigen, doch die Schiffe schreien. Planken und Wände, Stiegen und Kojen, der Schatz in der Gruft und selbst die Luft … Alles in den dolorosen Schiffen schreit, sobald sie die Zeit durchstoßen und in die Leere hinter der Zeit eintauchen. Die Zeit hört die Schreie nicht; der Leere ist es gleich; die Eisenmänner sind stumm und taub; und niemand ist da, niemand ist nah genug, aber man kann daran denken. Immerhin. Das ist es wert.«

Calhan sprach oft so vor sich hin; er sprach nicht zu sich, nicht zu der lebenden Kuppel, nicht zu den toten Faktoten des Doms und ganz gewiß nicht zu dem Volk von Nyanderhen. Er sprach, ohne es zu wollen, ohne es zu ahnen, ohne sich darum zu kümmern. Denn unmerklich, im Lauf der Jahre, während Generationen unter dem Licht der roten Sonne geboren worden und wieder gestorben waren, nach und nach, mit wachsender Bosheit, war Calhan der Verstand abhanden gekommen. Er war krank bis ins Mark. Er war schlecht, abgrundtief schlecht, und verdorben wie faules Fleisch. Er war bösartig und niederträchtig, grausam und verschlagen, und vor allem war er verrückt.

Calhan war verrückt.

Das war es.

Das ließ den Plan gelingen, den mitleidslosen Plan der Gehirne, die Verbrechen bestraften, die keine Verbrechen waren, und die zu ihren Henkern Männer wie Calhan ernannten. Denn nur ein ganz und gar wahnsinniges Ungeheuer wie Calhan konnte einen Mann wie Than Mayen überlisten, zum Glaspol locken und in den Kerker am Ende des Quarzfjord sperren, in den Kerker ohne Türen, in das unirdische Verlies, das noch aus der finstersten aller Epochen der Erdgeschichte stammte, aus der Zeit, als die Eisenmänner statt Städte Schlachthäuser errichtet und jedes zweite Menschenkind an Fleischerhaken gehängt und die Jungen und die Mädchen gleichermaßen tranchiert hatten.

Nicht einmal Calhan hätte ein derartiges Gefängnis ersinnen können, obwohl er zuweilen der Wahrheit sehr nahekam, wie er da in all seiner Verderbtheit im Dom aus Stahl und Stein residierte, unter der Kuppel aus lebendem Gebein, unter der jammernden Decke, die sich über seinem Bett wölbte. Die Decke bestand aus Bäuchen und Gesichtern, aus Schenkeln und Brüsten und Knöcheln, aus Zehen, Knien und Armgelenken, aus Augen groß und klein, all das versiegelt hinter einer hauchdünnen Schicht aus konservierendem Leim. Kein Mensch konnte unter einer solchen Decke bei klarem Verstand bleiben.

Eine derartige Decke verlangte nach Wahnsinn und verdrehten Gedanken, nach Grausamkeit und verschrobenen Phantasien, nach all den Dingen, über die Calhan im Überfluß verfügte.

Und dennoch – die hier fleischige, dort knöcherne, da haarige Kuppeldecke war nicht das Schlimmste unter dem Rund der kirschroten Sonne. Sie krönte nur den Dom aus Stahl und Stein, und der Dom barg in seinem hohlen Innern weit scheußlichere Schätze. Denn unter der Erde, in chthonischer Stille, tiefer als die tiefsten Keller, entlegener als die entlegensten Katakomben, dort unten, wohin selbst die Knochentreppe nur widerwillig hinabstieg, dort lag aufgebahrt in toter Nacht der rostige Kadaver eines Eisenmannes.

Eines Eisenmannes.

Calhan fürchtete sich vor nichts und niemand in Nyanderhen. Er sagte nicht nein, als der Befehl an ihn erging. Er ließ sich mit Lyzis ein und stahl ihr ein Bein. Er begleitete Than Mayen zum Glaspol, in den Quarzfjord, bis hin zum Kerker. Nur eines wagte er nicht: Zum Eisenmann hinabzuklettern. Er hatte Mauern errichtet und Fallen aufgestellt und Irrwege angelegt. Er hatte Gruben gegraben und Gift gestreut und Säure verspritzt, aus Furcht, der Eisenmann könnte eines Tages, unbemerkt, ungebeten, aus seinem rostigen Schlaf erwachen und hinauf zur Kuppel aus Gebein steigen und ihm den Garaus machen.

Nicht die Lebenden fürchtete Calhan, sondern die Toten.

Erst die Gehirne bewiesen ihm, daß er sich irrte.