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Der Ritter des Andern
NETFEED/NACHRICHTEN:
Gericht entscheidet: »Autoterror« nicht illegal
(Bild: der Avatar »Lächelnder Rächer« des Angeklagten Duncan)
Off-Stimme: Ein UN-Landesgericht hat entschieden, daß ein Gearteil, das Benutzern in virtuelle Simulationen folgt und ihrem Simuloiden Schaden zufügt, nicht per se illegal ist, solange es nicht gegen die Gesetze verstößt, die für den entsprechenden Knoten gelten. Amanda Hoek, ein siebzehnjähriges Schulmädchen aus Südafrika, wird online von dem Codekonstrukt eines Jungen verfolgt, dem sie vor einiger Zeit den Laufpaß gegeben hat, und ihrem Anwalt zufolge »systematisch schikaniert, bis hin zur Vergewaltigung«.
(Bild: Jens Verwoerd, Hoeks Anwalt)
Verwoerd: »Das arme Mädchen kann das Netz nicht mehr benutzen – auf das sie weder schulisch noch sozial verzichten kann –, weil der Avatar des Angeklagten, der keinen andern Zweck hat, als sie zu terrorisieren, ihre Online-Person keinen Moment in Ruhe läßt, einerlei welchen Knoten sie aufsucht. Sie ist zahlreiche Male beschimpft, attackiert und sexuell belästigt worden, sowohl verbal als auch über die Taktoren der VR-Knoten, und dennoch scheint dieses Gericht der Meinung zu sein, das Ganze sei nicht ernster zu nehmen als die derben Späße, die manche Erwachsene im Netz miteinander treiben …«
> Renie trieb sterbend in der von Lichtern durchfunkelten Dunkelheit, und immer noch wurde sie das Gefühl der Furcht nicht los – doch es war eine Furcht, die von jemand anderem kam.
Nicht jemand, dachte sie, etwas. Wie kann ein Ding, ein Konstrukt aus Code, sich dermaßen fürchten…?
Das Betriebssystem hatte sie zu sich geholt und dann weggestoßen, es war wieder in seine innere Emigration geflohen und ließ sie hier in einem Sternenmeer ertrinken. Es war ein langsamer Tod, ein Verebben des Bewußtseins, ein Zerfall des Ich. Schon bei den vorigen Wutanfällen des Systems hatte sie etwas Ähnliches empfunden, und damals hatte sie das mit Grauen erfüllt. Jetzt trieb sie nur noch dahin, pulste wie ein verhallendes Echo durch die menschenfernen Lichter und erkannte dabei, daß das Betriebssystem in einem Zustand der Furcht lebte, der viel schlimmer war als alles, was sie sich vorstellen konnte, in einer so allumfassenden und übermenschlichen Angst, daß selbst ihre fernen Resonanzen tödlich wirken konnten.
Aber macht das einen Unterschied? sinnierte sie. Ob ich so sterbe oder vor Furcht einen Herzschlag kriege? Sie spürte, wie sie losließ, sich auflöste, doch es geschah alles so allmählich, war so … unwichtig. Der Tod durch Erfrieren war angeblich ein gnädiger Tod. Körper und Geist trennten sich, die quälende Kälte fühlte sich auf einmal warm an, und zuletzt kam der Schlaf wie ein Freund. Dies hier mußte ungefähr so sein.
Aber ich will nicht sterben, dachte sie flüchtig und glaubte sogar ein wenig daran. Auch wenn es nicht weh tut. Ich will den Faden nicht zerreißen.
Stephen nie mehr wiedersehen, Martine nicht und die anderen nicht, Fredericks … und !Xabbu … Das war aus seinem Gedicht, nicht wahr? Es ging dabei um den Tod – oder bloß um einen Faden …?
»Leute, bestimmte Leute waren es,
Die mir den Faden zerrissen,
Darum
Ist mir dieser Ort jetzt verödet,
Weil der Faden gerissen ist.«
Sie konnte es ihn beinahe sagen hören, seine sanfte Stimme, seine leicht fremdartige Sprachmelodie, wenn er an unerwarteten Stellen schneller wurde und dann mittendrin auf einer Silbe verharrte, sie geradezu sang. !Xabbu.
»Der Faden riß mir.
Darum
Ist mir dieser Ort nicht mehr,
Wie er einst war,
Weil der Faden gerissen ist.«
Was war der nicht gerissene Faden gewesen? Ein Leben? Ein Traum? Das Band, von dem das Universum zusammengehalten wurde?
Das alles in einem?
Jetzt konnte sie es hören, als ob er neben ihr stünde, wie er in so vielen Notsituationen neben ihr gestanden hatte, eine beständige Flamme in allen Finsternissen.
»Dieser Ort ist mir,
Als ob er offen stünde,
Leer,
Weil der Faden riß,
Darum
Ist dieser Ort jetzt freudlos,
Weil der Faden gerissen ist.«
Dieser Ort ist jetzt freudlos, wiederholte sie sich. Weil der Faden gerissen ist. Weil ich allein bin.
Dieser Ort ist mir, als ob er offen stünde, sagte sie zu der Dunkelheit, während sie dahinschwamm und verging, ein Stück Treibgut, das ein ängstlich weglaufendes Kind-Ding zurückgelassen hatte.
Leer, flüsterte es in der glitzernden Stille. Weil der Faden gerissen ist.
Leicht befremdet sank sie weiter und versuchte sich darüber klarzuwerden, was da eben in ihr zerfaserndes Bewußtsein gedrungen war. Eine Stimme. Eine Stimme?
Das Betriebssystem, dachte sie. Es ist zu mir zurückgekehrt. Was »zurück« auch bedeuten mag. Was »zu mir« auch bedeuten mag … Das Denken fiel ihr immer schwerer.
Weil der Faden gerissen ist.
Der Worthauch wehte sie durch die Leere an, aber ohne jedes Geräusch, mehr als ein Geräusch und zugleich weniger. Es war ein Flimmern wie von einer fernen Explosion im Vakuum, eine winzige Wärmeschwingung am Grunde eines zähen, zufrierenden Ozeans. Es war ein Flüstern aus einem Traum, vernommen auf der Schwelle des Erwachens, eine Idee, ein Duft, ein gedämpfter Herzschlag. Es war …
!Xabbu?
Vom anderen Ende des Universums die ruhige, leise Erwiderung: Renie …?
Unmöglich. Unmöglich! !Xabbu! Um Gottes willen, bist du das?
Und plötzlich war das Dahinschwinden nicht mehr erlösend, sondern entsetzlich. Plötzlich wollte sie alles wiederhaben, was sie verloren hatte, obwohl sie wußte, daß es bestimmt zu spät war. Es waren fast nur noch Spurenelemente von ihr übrig, die sich in dem wolkigen Gewaber des Sternenmeeres zusehends verflüchtigten.
Nein, dachte sie. Er ist dort irgendwo. Er ist da! Sie wollte sich aufraffen, doch sie fühlte sich kaum noch – es gab keinen Halt, keinen Widerstand. !Xabbu! Ich ertrinke!
Renie. Ganz leise. Nur eine Stimme und selbst das kaum. Komm mir entgegen.
Wo bist du?
Neben dir. Immer neben dir.
Da öffnete sie sich und fühlte ihn, wie er es gesagt hatte, genauso nebelhaft und verweht wie sie, aber direkt neben ihr, als ob sie zwei Galaxien wären, die auf den langen Nachtwellen des Universums aufeinander zurollten und sich gegenseitig durchdrangen.
Ich fühle dich, sagte sie. Verlaß mich nicht.
Nicht zu sagen, ob er ihr Verlaß mich nicht wiederholte oder ihr versicherte: Ich verlaß dich nicht.
Sie glaubte seiner Versicherung. Sie streckte sich ihm entgegen, um mit aller Kraft zu verhindern, daß der Faden riß.
Da, sagte sie. Ich berühre dich.
Ich fühle es.
Und dann trafen sie zusammen und vereinigten sich – Lichtjahre weit auseinandergezogen und doch so nahe wie die zwei Phasen eines einzigen Herzschlages, zwei Matrizen aus nacktem Bewußtsein, in der Dunkelheit voneinander angezogen und zusammengehalten vom unendlichen Druck der Liebe.
Sie hatte wieder einen Körper. Sie merkte es sogar mit geschlossenen Augen, denn sie fühlte ihn inniger und näher als je zuvor einen anderen Menschen.
»Wo sind wir?« fragte sie schließlich. Sie hörte sein Herz schlagen, schnell und kräftig, hörte den Atem in seinen Lungen. Sonst herrschte vollkommene Stille, aber sie brauchte nicht mehr.
»Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Wir sind zusammen.«
»War das … ein Liebesakt?«
»Auch das spielt keine Rolle.« Er seufzte, dann lachte er. »Ich weiß es nicht. Ich denke … es war Liebe, die keines Aktes mehr bedurfte.«
Sie scheute sich, die Augen zu öffnen, merkte sie. Sie preßte ihn noch fester an sich, obwohl das eigentlich gar nicht mehr möglich war. »Du hast recht, es spielt keine Rolle«, pflichtete sie ihm bei. »Ich dachte, ich würde dich nie mehr wiederfinden …«
Seine Finger berührten ihr Gesicht – kühl, leibhaftig. Sie war so überrascht, daß sie ihrem Vorsatz zum Trotz schaute. Es war tatsächlich sein Gesicht, sein liebes Gesicht, das da im milden Abendlicht auf sie niederblickte. Er hatte Tränen in den Augen. »Ich … ich wollte es nicht hinnehmen … konnte es nicht …« Er senkte den Kopf, bis seine Stirn ihre berührte. »Ich schwamm so lange … in diesem Licht. Ich war am Ertrinken. Rief nach dir. Löste mich auf…«
Sie weinte. »Wir haben Körper. Wir können weinen. Sind wir wieder in … der wirklichen Welt?«
»Nein.«
Verwundert von seinem merkwürdigen Ton setzte Renie sich hin, behielt allerdings die Arme um ihn geschlungen, als befürchtete sie, er oder sie könnte sich sonst in Luft auflösen. Die Landschaft, grau im Dämmerlicht, war fremdartig und doch eigentümlich vertraut. Im ersten Augenblick dachte sie, sie wären auf den Gipfel des schwarzen Berges zurückgekehrt, doch der Umriß eines blattlosen Baumes, die struppige Gestalt eines Strauchs verwirrten sie.
»Erst dachte ich, wir wären in dem Abgrund, in den ich sprang, um dich zu finden«, sagte !Xabbu langsam.
»Abgrund? Sprang? Wohin?«
»In den Brunnen. Das war aber ein Irrtum.« Er deutete zum Himmel empor. »Schau.«
Sie hob den Kopf. Die Sterne schienen hell. Der gelbe Mond hing rund und voll über dem Horizont wie eine reife Frucht.
»Das ist ein afrikanischer Mond«, sagte er. »Der Mond der Kalahari.«
»Aber … aber du hast doch gesagt, wir wären nicht wieder … zuhause …« Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn. Er trug einen Lendenschurz aus rohem Leder. Ein Bogen und ein primitiver Köcher mit Pfeilen lagen neben ihm im Sand. Und auch sie war mit einem Stück Tierhaut bekleidet.
»Das ist ja deine Welt«, sagte sie leise. »Die Buschmannsimulation, in die du mich einmal mitgenommen hast – Gott, das kommt mir vor, als wäre es hundert Jahre her! Wo wir getanzt haben.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Er hatte sich die Tränen abgewischt. »Nein, Renie, das ist etwas anderes, etwas … Größeres.«
Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. Die Samenschoten an seinen Fußgelenken rasselten, als er sich bewegte.
»Aber wenn das nicht deine Welt ist…?«
»Dort ist ein Feuer«, sagte er und deutete auf einen rötlichen Schein, der auf dem Wüstensand flackerte. »Gleich hinter dem Hügel.«
Auf dem Gang durch die trockene Mulde wirbelten ihre Füße soviel Staub auf, daß sie über Wolken zu gehen schienen. Der Mond überzog die Dünen, Felsen und Dornensträucher mit einem silbernen Hauch.
Das Lagerfeuer war klein, bestand nur aus wenigen über Kreuz liegenden Stöcken. Außer dem Feuer gab es in der ganzen unermeßlichen Weite der Wüstennacht kein Zeichen menschlichen Lebens.
Bevor Renie noch einmal nachfragen konnte, deutete !Xabbu auf eine Bodenfurche, die sich neben dem Lagerfeuer durch die rissige Erde zog, das leere Bett eines seit langem ausgetrockneten Baches. »Dort unten«, sagte er. »Ich sehe ihn. Nein, ich fühle ihn.«
Renie sah nichts außer den tanzenden Schatten des Feuers, doch auf !Xabbus Tonfall hin schaute sie zu ihm hinüber. Sein Gesicht war ernst, aber da war noch etwas, ein euphorisches Leuchten in den Augen, das sie bei jedem anderen für ein Anzeichen von Hysterie gehalten hätte.
»Wen denn? Was denn?« Mit jäher Angst ergriff sie seine Hand.
Er erwiderte ihren Druck und führte sie in die Mulde hinunter. Neben dem Feuer blieb er stehen. Es entging ihr nicht, daß ihre Fußspuren die einzigen waren, die den Sand durchquerten. Als sie in das Bachbett blickten, sah Renie, daß es doch nicht völlig trocken war: Ein dünnes Rinnsal kroch über den Boden, so schmal, daß sie es mit einem Fuß hätte stauen können, wenn sie hinuntergestiegen wäre. Neben diesem Wasserfaden bewegte sich etwas, etwas ganz Kleines.
!Xabbu setzte sich am Rand der flachen Furche in den Staub. Seine Rasseln wisperten.
»Großvater«, sagte er.
Der Mantis blickte auf, den dreieckigen Gottesanbeterkopf schief gelegt, die Arme mit den Dornenreihen angehoben.
»Striemenmäuserich. Stachelschweinfrau.« Die ruhige Stimme kam von überall und nirgends. »Ihr habt einen weiten Weg zurückgelegt, um das Ende zu erleben.«
»Dürfen wir uns zu dir ans Feuer setzen?«
»Ihr dürft.«
Renie begriff allmählich. »!Xabbu«, flüsterte sie. »Das ist nicht Großvater Mantis. Das ist der Andere. Er hat das irgendwie aus deinem Unterbewußtsein gesaugt. Mir ist er als Stephen erschienen und hat so getan, als wäre er mein Bruder.«
!Xabbu lächelte nur und drückte ihr die Hand. »An diesem Ort ist er der Mantis«, sagte er. »Wie du ihn auch nennen magst, wir sind zu guter Letzt dem Traum begegnet, der uns träumt.«
Sie setzte sich neben ihn, willenlos und emotional ausgelaugt. Sie wollte nur noch mit !Xabbu zusammensein. Vielleicht hat er ja recht, dachte sie. Warum dagegen kämpfen? Mit Logik hat das alles nichts zu tun. Wir befinden uns ganz zweifellos im Traum von jemand anders. Wenn der Andere auf diese Art kommunizieren mochte, vielleicht gar nicht anders kommunizieren konnte, dann sollten sie sich besser damit abfinden. Sie hatte versucht, ihm als Stephen ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen, und seine Wut und Erbitterung hatten sie beinahe umgebracht.
Der Mantis senkte sein glänzendes Köpfchen, dann hob er es wieder und betrachtete sie mit winzigen, vorstehenden Augen. »Der Allverschlinger wird bald hier sein«, sagte er. »Er wird auch zu meinem Lagerfeuer kommen.«
»Es läßt sich noch etwas tun, Großvater«, meinte !Xabbu.
»Moment mal«, flüsterte Renie. »Ich dachte, wenn jemand der Allverschlinger in der Geschichte wäre, dann er. Es. Das Betriebssystem, meine ich, der Andere.«
Das Insekt schien sie gehört zu haben. »Wir sind jetzt am Ende angekommen. Mein Kampf ist aus. Ein großer Schatten, ein hungriger Schatten wird alles fressen, was ich geschaffen habe.«
»Das muß nicht so sein, Großvater«, widersprach !Xabbu. »Es gibt Menschen, die dir helfen können – unsere Freunde und Verbündeten. Und sieh her! Hier ist dein geliebtes Stachelschwein, die Frau mit dem klaren Verstand und dem tapferen Herzen.«
Tapferes Herz vielleicht, dachte Renie. Aber klarer Verstand? Pustekuchen. Nicht mitten in diesem komplett durchgeknallten Märchen. Doch sie sagte: »Wir wollen helfen. Wir wollen nicht bloß unser eigenes Leben retten, sondern auch das der Kinder. Aller Kinder.«
Ein winziges Zucken deutete das Kopfschütteln des Mantis an. »Es ist zu spät für die ersten Kinder. Der Allverschlinger ist schon dabei, sie zu vertilgen.«
»Aber du kannst … wir können nicht einfach aufgeben!« Renies Stimme wurde all ihren guten Vorsätzen zum Trotz laut. »Auch wenn es noch so schlecht aussieht, wir dürfen nicht aufhören zu kämpfen! Alles zu versuchen!«
Der Mantis schien noch kleiner zu werden. Er duckte sich zusammen, bis er kaum mehr als ein dunkles Pünktchen war. »Nein«, flüsterte er, und einen Augenblick lang klang seine Stimme so schutzlos und kläglich wie die eines kleinen Kindes. »Nein. Zu spät.«
!Xabbu drückte ihre Hand. Renie lehnte sich zurück. So frustrierend es war, sie mußte einsehen, daß es keinen Zweck hatte, dieses … dieses Ding, wie es auch entstanden sein mochte, was auch immer seine Gedanken und Träume formte, zum entschlossenen Handeln überreden zu wollen.
Schließlich brach !Xabbu das lange Schweigen. »Denkst du nicht an eine Welt jenseits von dieser? Eine Welt, wo das Gute bewahrt bleibt und wieder wachsen kann?«
»Sein Maul ist voll Feuer«, flüsterte der Mantis. »Er rennt wie der Wind. Er verschlingt alles, was ich geschaffen habe. Jenseits davon gibt es nichts.« In sich zusammengesunken schwieg er eine Weile und rieb sacht seine Fangarme aneinander. »Aber es ist gut, nicht allein zu sein, glauben wir. Es ist gut, dort zu sein, wo noch ein Lagerfeuer brennt, wenigstens für ein Weilchen. Gut, Stimmen zu hören.«
Renie schloß die Augen. Das also war bei all ihren Kämpfen herausgekommen: Gefangen von den Phantasien eines verrückten Systems warteten sie in einer Welt, gebaut aus !Xabbus Gedanken und Erinnerungen, auf das Ende. Eine interessante Art zu sterben. Nur schade, daß sie nie die Gelegenheit haben würde, jemandem davon zu erzählen.
»Kommt, es ist zu leise«, sagte der Mantis. Seine Stimme war jetzt ganz schwach, so schwach wie der zarteste Windhauch durch die Dornensträucher. »Stachelschwein, meine liebste Tochter, du bist traurig. Striemenmäuserich, erzähle noch einmal die Geschichte von der Feder, die zum Mond wurde.«
Leicht verdutzt blickte !Xabbu auf. »Du kennst die Geschichte?«
»Ich kenne inzwischen alle deine Geschichten. Erzähle sie bitte.«
Und in einer kurzen Ruhepause unter den feurigen Sternen eines afrikanischen Nachthimmels – einer Pause, die einen Geschmack von Ewigkeit hatte, auch wenn Renie wußte, daß der Schein trog – hob !Xabbu mit der Geschichte davon an, wie der Mantis aus einem weggeworfenen Stück Schuhleder Leben erschuf. Der sterbende Mantis kauerte neben dem dünnen Rinnsal, lauschte andächtig der Schilderung seiner eigenen Klugheit und schien völlig gefesselt zu sein.
> Sie hatten nicht nur einen Haufen, sondern einen ganzen Wall aus Papieren, Kisten, leeren Getreidesäcken und anderem brennbaren Material im Bogen um eine der Ecken aufgeschichtet. Hinter der Barriere hatten sie sämtliche noch verbliebenen Möbel aufgetürmt, die nicht im Boden verankert waren – Schreibtische und Stühle, sogar die Abdeckungen der V-Tanks, die nicht gebraucht wurden. In die Lücken dazwischen hatten sie dünne Armeematratzen gestopft.
Aber der ganze Kram hält keine Kugeln nich auf, dachte Joseph traurig. Und auch keine Hunde nich.
Eine Bewegung auf dem Bildschirm riß ihn aus seinen Gedanken. »Es geht los. Zünd das Feuer an.«
»Das ist zwar v-verlockend«, sagte Del Ray, dem es nur schlecht gelang, seine Panik zu verbergen, »aber ich warte doch lieber, bis du wieder bei uns bist. Sag uns einfach, was da oben vor sich geht.«
Joseph wurde zunehmend mulmig zumute, während er die vier Gangster dabei beobachtete, wie sie sich gestikulierend über das Loch beugten. Sie hatten bereits ihre Kampfgarnituren angezogen, dicke Westen und Hauben mit Schutzbrillen. Es ärgerte ihn, daß er zum Dienst am Monitor eingeteilt worden war, bloß weil er angeblich vorher etwas verpatzt hatte. Quatsch! Wie hätten wir denn den Laster aufhalten und verhindern sollen, daß sie diese Monsterköter ankarren? Doch sein Groll war nichts gegen die würgende Gewißheit, daß ihnen Furchtbares bevorstand. »Die sind soweit«, sagte er. »Das bringt nix, wenn ich hier noch weiter rumsteh.«
»Sag uns, was sie machen«, forderte Jeremiah ihn auf.
»Takeln die Hunde auf«, erklärte Joseph.
»Was?«
Er spähte auf den Monitor. »Nein. Dachte erst, sie würden die Köter in Decken einwickeln, aber sie machen irgendwas andres.« Schon allein beim Anblick der Viecher zerflossen ihm schier die Innereien vor Angst. Die großen Tiere zitterten vor Erregung und wackelten mit ihren steifen Schwanzstummeln. »Sie … sie haben irgendwas mit den Decken vor. Vielleicht wollen sie sie tragen.« Mit Schaudern beobachtete er, wie die Männer auf die Öffnung zuschritten, die sie in den Boden gebrochen hatten, und dabei die mit Seilen verknotete Decke schleppten, in deren Mitte der erste der mutierten Ridgebacks aufrecht thronte wie eine königliche Durchlaucht. »Oh. O je. Sie benutzen die Decken, um die Hunde damit durch das Loch runterzulassen.«
»Scheiße«, fluchte Del Ray. »Zeit, das Feuer anzuzünden. Komm.«
Das mußte man Joseph nicht zweimal sagen. Er sprintete durch das abgedunkelte Labor, sprang über die Hürde aus Akten und kraxelte so hastig über die Möbelbarrikade, daß er beinahe Del Ray umgerissen hätte, als er drüben herunterpurzelte. »Mach schon! Zünd an!«
»Ich versuch’s ja«, ächzte Jeremiah. »Wir hatten nicht genug Benzin übrig, um es gründlich zu tränken.« Mit zitternden Fingern warf er die nächste von Renies Zigaretten. Die Papiere entzündeten sich mit einem lauten Wusch! Als die blauen Flammen über die notdürftige Absperrung züngelten, wurde in Joseph ein klein wenig Hoffnung wach.
»Wieso sind die Lichter aus?« flüsterte er. »Da sehen wir doch nix und können sie nich abknallen.«
»Weil wir zwei Kugeln haben und sie wahrscheinlich Tausende«, erwiderte Del Ray. »Hör auf zu meckern, Joseph. Bitte!«
»Macht keinem Hund was aus, wenn’s dunkel is«, grummelte Joseph, aber leiser.
Del Ray stieß scharf die Luft aus. »So leid es mir tut, Joseph, eigentlich will ich nicht als letztes Wort zu dir ›sei still‹ sagen. Aber sei still!«
Long Joseph fühlte, wie ihm das Herz in der Brust anschwoll, wie es groß, aber schwach wurde und sich anstrengte, ganz schnell zu schlagen, obwohl eine mächtige Faust es zusammenquetschte. »Mir tut’s leid, daß wir alle hier sind.«
»Mir auch«, sagte Del Ray. »Weiß Gott, mir auch.«
»Da kommt was«, krächzte Jeremiah mit versagender Stimme. Alle starrten sie durch die Flammen, versuchten, in den Schatten am anderen Ende des Labors Bewegungen zu erkennen.
Josephs Brustkasten wurde immer enger. Er stellte sich seine Zulu-Vorväter, mit denen er so gerne angab, dabei vor, wie sie an ihrem Lagerfeuer in die afrikanische Nacht hinausgespäht hatten, und versuchte sich ein Beispiel daran zu nehmen, mit welcher Unerschrockenheit sie selbst das Grollen eines Löwen vernommen hatten, doch es ging nicht. Seine einzige Waffe, ein Stahlrohr von der Unterseite eines Konferenztisches, hing schlaff in seiner schwitzenden Hand.
Bitte. Gott, dachte er. Mach, daß Renie nix passiert! Mach, daß es schnell geht!
Joseph sah, wie sich am hinteren Ende des Labors etwas bewegte – ein niedriger, lautloser Schatten. Dann noch einer. Der erste blickte auf und drehte den Kopf hin und her. Zwei gelbe Punkte funkelten böse, als sich der Feuerschein in den Augen spiegelte.
Ein lautes Krachen ließ Joseph auffahren. Etwas durchbrach funkensprühend ihre kleinere brennende Barriere. Eine Rauchwolke wallte über ihn hinweg, biß ihm in die Augen, kratzte in seinen Lungen. Er fuchtelte wie wild, hörte Jeremiah würgen und schreien, doch bevor er etwas machen konnte, sprang eine große, dunkle Gestalt über die zweite, höhere Flammenwand und landete knurrend auf ihm.
Er wurde zu Boden gestoßen und bekam einen Biß in den Arm – er fühlte einen sengenden Schmerz, heißer als jedes Feuer. Er wehrte sich, doch etwas, das schwerer war als er, preßte ihn nieder, etwas, das ihm seine Zähne in den Bauch schlagen wollte. Ein Salve von Schüssen schlug krachend über seinem Kopf ein, doch sie schienen weit weg zu sein, ohne Bedeutung. Das Vieh hatte ihn, die Bestie hatte ihn. Er hörte einen seiner Gefährten entsetzt aufkreischen, dann knallte und flammte Del Rays Revolver direkt neben seinem Kopf, und die schwere Last rutschte von ihm herunter.
Nach Luft ringend rappelte er sich auf. Ein wildes Stakkato von Schüssen knatterte los wie eine Kiste voller Knallkörper. Abermals brachen Tiergestalten durch das bereits versprengte Feuer; er hörte Männer schreien, dann weitere Schüsse. Mehrere menschliche Umrisse drängten sich durch die Tür in den rauchvernebelten Raum. Mit seinen triefenden Augen schien es Joseph so, als wären es zu viele, viel mehr als vier.
Das gibt’s nich! wollte er rufen, doch sein Mund brannte, seine Kehle war wie zugeschnürt. Del Ray kauerte schlotternd neben ihm, den Revolver mit der letzten Kugel in der ausgestreckten Hand. Über das Donnern der anderen Schüsse hinweg konnte Joseph nicht hören, wie er ihn abfeuerte, sah nicht einmal das Mündungsfeuer, doch zwei der Hunde fielen um.
Zwei mit einem Schuß, staunte Joseph, halb betäubt von dem Rauch in seinen Lungen und in seinem Kopf. Genau wie du gesagt hast. Wie bringst du das fertig, Del Ray?
Aber bevor er ausgestaunt hatte, sprang noch einer der Mutantenhunde aus dem Rauch hervor und über die Sperre aus Tischen und Matratzen hinweg. Er traf Joseph wie ein Blitz und schmetterte ihn auf den Rücken. Ein fauchender Schädel stieß nach seinem Gesicht, grub eine heiße, feuchte Schnauze in seine Kehle und nahm ihm die Luft.
> Paul Jonas lag zu Sams Füßen, zuckend und stöhnend wie einer, der einen elektrischen Schlag bekommen hatte. Sam selbst hatte sich erst kurz zuvor von ihrem jähen Rauswurf aus dem Brunnen erholt und verstand zunächst die Szenen nicht, die sich ringsherum abspielten. Die weinende Engelfrau war mit einem letzten Flackern über dem Brunnen erloschen. Die Zwillinge in Gestalt der Kinderliedfiguren des spannenlangen Hansels und der nudeldicken Dirn waren über ihr Verschwinden in ein unartikuliertes Wutgeheul ausgebrochen, schnappten sich wahllos schreiende Opfer und warfen sie in den leuchtenden Abgrund, als könnten sie die Entflohene dadurch zur Rückkehr zwingen. Keines der unglücklichen Geschöpfe, die in das Lichtermeer fielen, tauchte wieder auf, und auch der Engel erschien nicht mehr.
»Sam Fredericks!« Es war Martines Stimme. Sam konnte sie in dem Aufruhr nirgends erblicken. Sie packte Paul am Arm, um ihn an einen sicheren Fleck zu zerren, doch er war glitschig von Schweiß und wand sich wie in einem Albtraum. Jemand drängte sich neben sie und half ihr ziehen, und gemeinsam schafften sie es, Jonas aus dem ärgsten Gewühl an einen Ort ein Stück außerhalb zu schleifen. Nach den irrsinnigen Vorgängen der letzten Minuten überraschte es Sam nur ein wenig, als sie entdeckte, daß ihr Helfer Felix Jongleur war.
»Wir müssen hier weg«, fauchte er. »Ich habe über diese Version von Finney und Mudd keine Gewalt. Wo sind deine Freunde?«
Sam schüttelte den Kopf. Es erschien ihr unmöglich, irgend jemanden in dem Chaos ausfindig zu machen, wo sie nur mit Mühe und Not imstande war, sich auf den Beinen zu halten und zu verhindern, daß Paul von kopflos fliehenden Feen und Zwergen zertrampelt wurde.
»Fredericks!« Martine schrie abermals nach ihr, aber diesmal erspähte Sam sie, mit mehreren anderen zusammengedrängt, etwa fünfzehn Meter weiter in einer Senke direkt am Ufer, die nur eine Handbreit über der Oberfläche des Brunnens zu liegen schien. Sam bückte sich, faßte Paul unter den Achseln und hob unter Aufbietung aller Kraft seinen Oberkörper hoch. Sein Kopf wackelte schlaff hin und her, doch seine Augen waren offen und himmelwärts gerichtet. Jongleur nahm die Füße, und halb trugen, halb zogen sie ihn zu der Stelle, wo Martine und die anderen sich kurzfristig vor dem Schlimmsten in Sicherheit gebracht hatten.
Paul Jonas’ Gesicht drehte sich ihr zu. Einen Moment lang schienen seine Augen sie wahrzunehmen.
»Sag ihm, er soll das Fenster ausschalten …«, beschwor er sie, als wäre das eine naheliegende und vernünftige Bitte, dann rutschten seine Augen nach oben, und über seine Lippen kam nur noch sinnloses Gemurmel.
Sie waren schon ein gutes Stück weit mit ihrer Last gewankt, als plötzlich eine Hand Sam am Fußgelenk faßte und sie zu Boden riß.
»Hol die Prinzessin wieder!« zischte eine Stimme hinter ihr. Sie versuchte wegzukriechen, doch der schmerzhafte Griff an ihrem Bein war zu stark: Sie wurde auf den Rücken geschleudert, als ob sie ein Scheuerlappen wäre. »Wir wollen die Prinzessin!« herrschte der spannenlange Hansel sie an und schüttelte etwas mit drohender Gebärde. Es war ein anderes Opfer – ein kleiner, grün gekleideter Mann mit vorquellenden Augen, den der Unhold mit der zweiten Hand am Hals gepackt hatte. Mit seinem blinden Gesicht, das gemasert war wie altes weißes Holz, beugte sich das Hanselmonster nahe heran. Obwohl sie vor Schreck keinen Ton herausbrachte, trat Sam heftig aus, doch sie konnte die knorrigen Finger nicht lockern. Der baumhohe Kerl riß sie empor und ließ sie kopfunter baumeln, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das zappelnde Männlein in Grün. Er drückte diesem sacht, wie versuchsweise den Hals zu und beobachtete interessiert, wie das Zappeln seines Opfers erst schneller und dann langsamer wurde.
»Das Schwert!« schrie Felix Jongleur. »Gib mir das Schwert!«
Mit leiser Verwunderung darüber, daß der alte Mann sich an das abgebrochene Schwert erinnerte, sie aber nicht, zerrte sie es aus dem Gürtel und ließ es zu Boden fallen. Jongleur griff es sich mit einem derart triumphierenden Blick, daß Sam sich sofort für ihre Dummheit verfluchte.
Na, den sehen wir nicht wieder …, ging es ihr durch den dröhnenden, schmerzenden Schädel, während sie zwei Meter über dem Boden wie ein Pendel in der Luft schwang. Doch zu ihrer Überraschung machte Jongleur einen Satz und hackte mit aller Kraft nach der astharten Hand an ihrem Fuß. Der spannenlange Hansel, der immer noch fasziniert den Todeskampf seines anderen Opfers verfolgte, schien Jongleurs Angriff kaum zu registrieren, doch seine Finger öffneten sich abrupt. Sam stürzte so hart auf den Boden, daß sie einen Moment lang nicht mehr wußte, wo oben und unten war.
»Schnell!« rief Jongleur. »Hilf mir mit Jonas!«
Ganz schwindlig im Kopf rappelte Sam sich auf. Abermals hoben sie Paul hoch und drängten sich zwischen jammernden und schluchzenden Flüchtlingen hindurch zum Rand des Brunnens. Hände streckten sich aus der kleinen Vertiefung am Ufer empor und nahmen Paul entgegen, dann kletterte Sam mit Hilfe von unten über die Kante auf ein zwei Meter tiefer liegendes schmales Gesims, das höchstens drei Schritte breit und zwölf Schritte lang war und von dem aus die flimmernde Oberfläche des Brunnens zum Greifen nahe war. Jongleur kam hinter ihr her und hockte sich schwer atmend neben sie auf das kleine Plateau, ohne die verblüfften oder gar feindseligen Blicke der anderen zu beachten.
Martine, Florimel, T4b, sogar Bonnie Mae und Nandi waren bereits auf dem Gesims versammelt, und auf einigen hockten die schnatternden Äffchen der Bösen Bande. Der fremde Junge namens Cho-Cho hatte sich an Martine gekuschelt, den Rücken an die graue Erde gelehnt, die Augen schreckensweit aufgerissen.
»Sollen wir einfach hier warten, bis sie uns finden?« flüsterte Bonnie Mae Simpkins atemlos.
»Was sind das für Bestien?« fragte Florimel. »Woher sind sie auf einmal gekommen?«
Nandi Paradivasch richtete seinen Blick auf Paul, der neben Sams Füßen lag, nach wie vor von Traumgesichten gequält. »Es sind Kopien der echten Zwillinge, der Männer, die Jonas durch das Netzwerk verfolgt haben. Anscheinend gibt es viele von diesen Duplikaten, alle beherrscht vom Verlangen nach Jongleurs Tochter, aber in der Regel harmlos. Dread hat das System in der Gewalt, auch wenn der Andere ihn im Augenblick noch in Schach hält. Er wird einen Weg gefunden haben, diese Kopien umzufunktionieren.«
»Aber warum?« rief Florimel aus. Sie zuckte zusammen, als ein langgezogener Schrei durch die ohnehin schon furchtbare Geräuschkulisse über ihnen schnitt, zupfte sich ein nervös hampelndes Äffchen von der Stirn und setzte es sich auf die Schulter. »Auf die Art kann er doch das Betriebssystem nicht zerstören, er bringt bloß die Kinder um! Ist er schlicht wahnsinnig?«
»Er will, daß wir aufgeben«, sagte Martine mit schleppender, hohler Stimme. »Er will uns zwingen, um der Kinder willen zu kapitulieren.«
»Aber selbst wenn wir das machen, wird er sie nicht am Leben lassen.« Sam fuchtelte mit den Händen, damit die anderen ihr zuhörten. »Er wird das Betriebssystem vernichten! Dann sterben sie alle mit!«
»Vielleicht … vielleicht ist Dread intelligenter, als wir es ihm zutrauen.« Martine klang erschreckend ausgebrannt, als ob ihr schon alles gleichgültig wäre. Es machte Sam Angst. »Er war sichtlich verdutzt und sehr verärgert, als er feststellen mußte, daß der Andere sich ihm weiterhin widersetzt, aber wenn er ihn völlig zerstört, verliert er die Kontrolle über das Netzwerk. Vielleicht rechnet er gar nicht damit, uns aus der Reserve zu locken. Vielleicht tut er den Kindern, die der Andere beschützt, diese ganzen Greuel an, weil er das Betriebssystem zum Wahnsinn treiben will.«
»Habt ihr denn alle gar kein Herz?« rief Florimel verzweifelt über den Lärm hinweg. »Das sind unsere Kinder da oben! Unsere Kinder! Und diese Bestien morden sie in einem fort! Meine Tochter Eirene – ich kann sie jetzt in diesem Moment neben mir fühlen, kann ihren wirklichen Körper neben meinem fühlen, ich schwöre es! Sie muß Todesängste ausstehen, ihr Herz rast wie verrückt! Der Teil von ihr, den der Andere entführt hat, muß auch dort oben sein – und diese Ungeheuer werden sie ermorden!«
Und wer mag sonst noch da oben bei ihr sein? überlegte Sam unglücklich. Wer sonst wird gerade unmittelbar neben uns zermalmt und gefressen? Renies Bruder? T4bs Freund? Der arme Junge, der sich in Mittland Senbar-Flay nannte? Eine große, kalte Hoffnungslosigkeit legte sich über sie. Es hatte alles keinen Zweck mehr. Wenn sie ein gemeinsames Ziel gehabt hatten, dann dies, die Kinder zu retten und lebendig wieder aus dem Netzwerk herauszukommen. Mit beidem standen sie kurz vor dem Scheitern.
»Was sollen wir tun?« rief Bonnie Mae mit gepreßter, drängender Stimme. »Wir können nicht zulassen, daß sie weiter die unschuldigen Kindlein abschlachten!«
»Prinzessin!« Die wabbelnde Masse der nudeldicken Dirn tauchte nur wenige Meter entfernt am Ufer auf. Sam und ihre Freunde duckten sich in den Schatten, doch das unförmige Gesicht glotzte auf die weite, pulsende Fläche hinaus und sah sie gar nicht. Die geifernde Stimme klang überhaupt nicht mehr menschlich. »Komm zu uns zurück, Prinzessin, wir wollen dich auffressen!«
Ihr spindeldürrer Genosse trat hinter ihr an den Rand des Kraters und bewegte sich dann daran entlang, wobei er alles packte und erdrosselte, was er erwischen konnte. Er kam direkt auf ihr Versteck zu. Auch wenn er nicht wußte, daß sie dort waren, mußte er in wenigen Sekunden zwangsläufig auf sie stoßen. »Wir morden, bis du uns fütterst«, knarrte er. »Bis du uns fütterst.«
Bonnie Mae hatte wieder angefangen zu beten. Fast gelähmt vor Furcht starrte Sam die riesigen Zwillinge an und wandte dann den Kopf ab. Auch sie hätte am liebsten die Augen geschlossen – nicht um zu beten, sondern damit sie die Ungeheuer nicht sehen mußte, die sie alle gleich umbringen würden. Doch statt dessen blickte sie auf einen sich ausbreitenden dunklen Fleck im Brunnen, eine Düsternis, die in Wellen von einem ufernahen Punkt ausging und die pulsierenden Lichter nach und nach überdeckte.
Es stirbt wirklich, dachte sie. Wir werden alle im Dunkeln sterben …! Da erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Ein Strom kleinerer Lichter sprudelte durch die Dunkelheit nach oben, winzige strahlende Bläschen, die mit jeder Sekunde mehr wurden.
»Seht«, sagte sie leise. Dann ging ihr auf, daß niemand sie hören konnte. »Seht doch!«
Etwas stieg in dem aufgewühlten Meer empor. Nochmal der Engel? fragte sich Sam. Der Andere? Kommt jetzt zum Schluß der Andere selbst hoch? Aber es fühlte sich nicht so an, hatte überhaupt nichts von der Kälte jener ungeheuren Erscheinung, die sie seinerzeit im Gefrierfach heimgesucht hatte. Es war viel kleiner und sah mehr nach einem Menschen aus – sie nahm schon einen ungefähren Umriß wahr, eine trübe Silhouette, die inmitten der perlenden Lichter nach oben schwamm.
Der Schwimmer, der die Oberfläche des Brunnens durchstieß und an Land kletterte, war ein Mann mit einem schlanken, muskulösen Körper, der an manchen Stellen noch phosphoreszierte. Die Lichter des Brunnens schimmerten nur mehr ganz schwach, selbst die riesenhaften Zwillinge waren schattenhafte, undeutliche Gestalten geworden. Mit den Lichtspuren, die ihm am Leib klebten, war der den Wellen entstiegene Mann das Hellste weit und breit, und aller Augen richteten sich auf ihn. Einen ernüchternden Augenblick lang meinte Sam, es wäre Ricardo Klement, doch dann drehte er sich um, zückte sein Schwert und hob den Kopf, so daß sie sein Profil sehen konnte, seine lange schwarze Mähne. Ihr Herz explodierte schier vor Überraschung und Glück.
Die Kinder der Bösen Bande flogen laut kreischend auf. »Landogarner! Landogarner!«
»Orlando!« schrie Sam. »O mein Gott, es ist Orlando!«
Das Brüllen der Mörder und ihrer Opfer war verstummt, doch falls der neu Erschienene Sams Ruf gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er wandte sich den Zwillingen zu und richtete halb grüßend, halb drohend sein Schwert auf sie. Die Bestie, die einmal der spannenlange Hansel gewesen war, stieß einen keuchenden Laut aus – Sam brauchte einen Moment, bis sie darin ein erregtes Lachen erkannte – und stürzte auf ihn zu. Schlagartig leuchteten die Lichter des Brunnens wieder auf und tauchten die Welt erneut in ein dämmeriges Zwielicht.
Sam war schon dabei, über den Rand ihres Uferasyls zu klettern, als jemand sie am Bein packte und zurückzerrte. Sie schrie zornig auf und schlug ungestüm auf die haltende Hand ein, weil sie meinte, es wäre Jongleur, doch es war Nandi Paradivasch, dessen Gesicht im Licht des Brunnens wie grauer Marmor aussah.
»Laß ihn«, redete er ihr zu. »Das ist sein Kampf, denke ich.«
»Ach, Fen-fen! Ich muß ihm helfen …!« Sie trat aus, doch da faßte Florimel ihr anderes Bein und hielt eisern fest.
»Nein, Sam«, widersprach sie. »Wir anderen wären ihm nur hinderlich. Sieh doch!«
»Ja, sieh«, sagte Martine. »Der Andere führt seinen Ritter ins Feld.«
Sam hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, und es war ihr auch egal; sie wollte nichts weiter, als sich den Händen ihrer Freunde zu entwinden. Mit einer Geschwindigkeit, die sie seit den Tagen in Mittland nicht mehr gesehen hatte, war Orlandos Thargorkörper auf seinen um vieles größeren Gegner zugesprungen. Blitzschnell, so daß es in dem Halbdunkel kaum zu sehen war, hatte er mit dem Schwert drei harte Streiche gegen die Beine des spannenlangen Hansels geführt, ehe dieser ihn richtig attackieren konnte, und ihn mitten im Schlag ins Wanken gebracht. Dennoch zischten die zweigartigen Finger nur knapp an Orlando vorbei und hätten ihm den Kopf von den Schultern gerissen, wenn er sich nicht zu Boden geworfen hätte.
Die anderen drängten hinter ihr aufgeregt heran, aber Sam konnte nicht die Augen von der Szene abwenden. Es war ein Traum, ein Albtraum – Orlando! In einem Kampf auf Leben und Tod!
Doch etwas an ihm war anders, erkannte sie jetzt, nicht nur seine Schnelligkeit, auch seine Gestalt. Sein Körper war nicht der Thargor aus den letzten Spieltagen in Mittland, der vernarbte, kampferprobte Veteran von hundert Schlachten, und auch nicht die jüngere Version, zu der er beim Eintritt in das Otherlandnetzwerk geworden war. Dieser neue Thargor war muskelbepackt wie gewohnt, aber dabei geschmeidiger und behender, als er in Mittland jemals gewesen war, so daß Sam den Eindruck hatte, eine ihr bisher unbekannte Version zu sehen, einen jünglingshaften Thargor, der nur in Orlandos Phantasie existiert hatte.
Das größere Gewicht der älteren Versionen hatte allerdings auch seine Vorteile gehabt, denn gerade verpaßte ihm sein Gegner einen überraschenden Schlag mit dem Handrücken, der ihn durch die Luft segeln ließ und wenige Meter vor der aufgedunsenen Gestalt der nudeldicken Dirn auf die Erde schmetterte. Das zweite Monster kam mit erstaunlicher Geschwindigkeit angewabbelt, reckte sich auf und klappte dann über ihm ab wie ein Berg aus lebendiger Gallertmasse. Sam blieb fast das Herz stehen, denn sie dachte, Orlando wäre in dem ungeheuren Maul verschwunden, statt dessen jedoch stach plötzlich seine Schwertklinge an der Seite durch den Kopf der Bestie, und sie prallte mit einem blubbernden Gebrüll zurück. Orlando hatte sich vor dem tödlichen Zuschnappen zur Seite geworfen und hechtete jetzt unter einem zweiten Schlag des spannenlangen Hansels hindurch, der herangeeilt war, um ihn zu fassen, solange er mit der anderen Gegnerin beschäftigt war.
Diese griff nun abermals an, obwohl ihr Kopf überströmt war von einer ekligen Flüssigkeit, die aus ihrer Wunde rann, so daß er zwischen den beiden in der Zange saß. Die Scheusale hatten ihre Lektion gelernt und rückten jetzt mit größerer Vorsicht gegen ihn vor. Er wich zurück, um mehr Manövrierraum zu gewinnen, doch er hatte den Brunnen im Rücken, und es wurde eng für ihn.
Sams Freude war in ohnmächtige Verzweiflung umgeschlagen. Es war ausgeschlossen, daß er sie beide besiegte. Sie mußte ihn zum zweitenmal sterben sehen. Sie schlug auf die Hände ein, die sie festhielten, doch ihre Freunde ließen nicht los. »Lauf!« schrie sie. »Lauf, Orlando!«
Er trat einen letzten Schritt zurück. Als er den Rand des Brunnens unter der Ferse spürte, warf er einen raschen Blick hinter sich auf das flackernde Wandelmeer. Sein beklommener Ausdruck verriet Sam eine schreckliche Wahrheit: Er war zwar daraus hervorgegangen, aber wenn er wieder darin eintauchte, war es endgültig aus mit ihm.
Er wird sich wieder auflösen, wenn er reinfällt, dachte sie zu Tode erschrocken, er wird verschwinden. Sie wußte nicht, woher sie ihre Gewißheit nahm, aber sie war sich ganz sicher: Es war nicht mehr genug Energie im Brunnen übrig, um ihn noch einmal hervorzubringen.
Hervorbringen? Aber das ist doch Orlando, mein Orlando, wie er leibt und lebt…!
Das Hanselmonster humpelte auf seinen verwundeten Beinen gegen ihn an und schwenkte seine Arme wie riesenhafte Besen, um ihn schlicht und einfach über den Rand zu fegen. Aller Rückzugsmöglichkeiten beraubt tat er das einzige, was ihm noch übrigblieb: Er sprang nach vorn zwischen den hauenden Händen hindurch und rollte wie eine Bowlingkugel mit voller Wucht gegen die dürren Beine. Ein Bein brach mit einem trockenen Knacken, und der Unhold taumelte und stieß ein schrilles Wutgeheul aus. Er hinkte einen Schritt, fing sich und wollte schon zulangen, doch Orlando war inzwischen hinter ihm und durchtrennte ihm das gebrochene Bein mit einem beidhändig geführten Schlag. Dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den auf einem Bein kippelnden Riesen und stieß ihn über die Kante.
Noch im Fallen jedoch gelang es dem spannenlangen Hansel, sich in der weichen Erde am Rand festzukrallen, und sein unverletztes Bein strampelte heftig über den aufgewühlten Wellen. Er war sogar schon dabei, sich wieder hochzuziehen, da duckte sich Orlando unter einem wuchtigen Schwinger der anderen Bestie weg und zerhackte die grapschenden Finger. Zischend und pfeifend wie ein kochender Hummer glitt das Ungetüm in die pulsierenden Tiefen, kämpfte sich noch einmal mit wild fuchtelnden Armen nach oben und verging zuletzt in der flirrenden Masse, die den Brunnen füllte.
Doch schon baute sich die monströse, gallertartige Gestalt der nudeldicken Dirn wutschnaubend hinter Orlando auf. Nur um Haaresbreite konnte er ausweichen, als ihre Faust wie ein gigantischer Hammer aus Weichgummi niederdonnerte. Mit einem blitzschnellen Herumglitschen schnitt sie ihm den Fluchtweg ab, reckte sich abermals in die Höhe und riß ihr Maul sperrangelweit auf, so daß sie wie eine ungeheure, fettwuchernde Handpuppe aussah. Doch ehe sie abklappen und Orlando zermalmen konnte, rammte dieser ihr seine Klinge tief in den Wanst und sprang augenblicklich zur Seite, ohne das Schwert loszulassen. Prall traten seine Muskeln hervor, als er es durch das gummiartige Fleisch zog, und in dem Moment ließ sich das Scheusal auf ihn fallen.
Sams Herz stockte vor Schreck und schlug erst wieder, als sie Orlando schleimbedeckt unter der schwabbeligen Masse hervorrobben sah. Die Wut der schrill heulenden Bestie kippte um in Schmerz und Angst. Sie wuchtete sich abermals hoch, doch eine zähe Flüssigkeit quoll aus dem langen Riß quer über ihrem Bauch. Die nudeldicke Dirn wankte und wurde schlaff wie ein angestochener Luftballon, dann fiel sie zu einem glibberigen Klumpen zusammen und rutschte über den Rand in den Brunnen.
Sam war bereits hochgeklettert und drängte sich durch die Masse der wie vom Donner gerührten Flüchtlinge, ohne auf die Toten und Sterbenden zu achten, über die sie hinwegspringen mußte. Orlando wandte sich vom Brunnen ab, taumelte und sank auf die Knie.
»Orlando!« schrie sie. »Oh, dsang, Gardiner, bist du’s wirklich?« Sie kniete sich neben ihn und schlang die Arme um ihn. »Stirb nicht, hörst du, trau dich ja nicht zu sterben! O Gott, ich wußte, daß du nicht tot sein konntest. Du bist zurückgekehrt! Wie Gandalf! Du bist voll zurückgekehrt!«
Er wandte sich ihr zu und blickte sie an. Einen Moment lang schien er sie nicht zu erkennen, und ihr krampfte sich der Magen zusammen. Dann lächelte er. Es war ein klägliches, müdes Lächeln, doch ihr kam es vor, als hätte sie im ganzen Leben noch nie so etwas Wunderbares gesehen. »Aber ich bin tot, Fredericks«, sagte er. »Echt.«
»Nein, bist du nicht!« Sie umarmte ihn, so fest sie konnte. Sie weinte und plapperte wirres Zeug, doch es war ihr ganz egal. Er lebte, er lebte! Die anderen kamen nun gleichfalls angelaufen, doch sie wollte ihn nicht loslassen, nie mehr. »Nein, bist du nicht. Du bist hier.«
Eine ganze Weile blieben sie so, dann lehnte er sich ein wenig zurück.
»Gandalf?« Er musterte sie kritisch, seinerseits gegen die Tränen anzwinkernd, und schließlich mußte er lachen. »Verdammt, du hast es doch gelesen. Du hast es gelesen, ohne mir was davon zu sagen. Du bist so ein Oberscänner, Fredericks.« Und dann wurde er in ihren Armen ohnmächtig.