Kapitel

Die verborgene Brücke

NETFEED/INTERAKTIV:

GCN, Hr. 7.0 (Eu, NAm) – »Escape!«

(Bild: Zelmo auf einem Fenstersims)

Off-Stimme: Nedra (Kamchatka T) und Zelmo (Cold Wells Carlson) sind aus der Eiseninsel-Akademie geflohen, aber Agenten von Lord Lubar (Ignatz Reiner) treffen Zelmo mit einem Suizidstrahl, und jetzt will er sich unbedingt selbst umbringen. Dies ist die letzte Folge der Serie, von nun an wird »Escape!« in der Handlung von »Ich hasse mein Leben« aufgehen. 5 Nebenrollen, 25 Statisten offen, Außendreharbeiten bei kaltem Wetter. Flak an: GCN.IHMLIFE.CAST

 

 

> Zum drittenmal stakten sie das Floß durch die träge Strömung auf das andere Ufer zu. Es schien kaum mehr als einen guten Steinwurf weit weg zu sein, doch auch nach heftigen Anstrengungen von Sam und dem neu zu ihnen gestoßenen Azador auf der einen und !Xabbu und Jongleur auf der anderen Seite schafften sie es nicht, näher heranzukommen.

Schließlich holten sie die Stangen ein und richteten sich auf, um zu verschnaufen. Der Strömung überlassen trieb das Floß langsam flußabwärts. Die Wiesen drüben, die so gewöhnlich aussahen, nicht anders als das Ufer, von dem sie aufgebrochen waren, gewannen allmählich die Aura eines mythischen Kontinents aus ferner Vergangenheit.

»Jemand muß schwimmen«, meinte Jongleur. »Ein einzelner wird vielleicht zugelassen, auch wenn ein Floß zurückgewiesen wird.«

Sam ärgerte sich. Der Alte mochte recht haben mit seiner Vermutung, daß man über den Fluß setzen, nicht ihm folgen mußte, wenn man dieses komische Land durchqueren wollte, aber dennoch paßte ihr sein Befehlston nicht.

»Wir sind nicht deine Untergebenen«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Da bekam sie einen Stups ins Kreuz und wirbelte herum, um Jongleur anzuschreien, doch es war !Xabbu, der sie geknufft hatte. Er warf ihr einen beredten Blick zu, den Sam erst nach einem Moment der Besinnung verstand.

Wir dürfen nicht durchblicken lassen, wer Jongleur ist, erinnerte sie sich und schämte sich. Jahrelang war sie in Mittland als Dieb durch die Häuser der Reichen und Mächtigen geschlichen, jedenfalls der imaginären Reichen und Mächtigen, und hier, wo es drauf ankam, hätte sie beinahe aus schierer Unachtsamkeit ein wichtiges Geheimnis ausposaunt. Sie schlug die Augen nieder.

»Er hat recht«, sagte Azador. »Wir werden keine Sicherheit haben, solange nicht jemand den Versuch macht. Ich würde es ja tun, aber mit meinem Bein …« Er machte eine Geste des Bedauerns, sein Heldentum nicht unter Beweis stellen zu können.

Sam wartete darauf, daß !Xabbu sich erbot, und war überrascht, als er sich nicht rührte. Normalerweise übernahm der kleine Mann immer die riskanten Aufgaben und ließ nicht zu, daß sich jemand anders, schon gar nicht Sam, der Gefahr aussetzte. »Na, dann werd ich’s wohl machen«, sagte sie. Endlich bekamen ihre jahrelangen morgendlichen Schwimmübungen einmal einen praktischen Nutzen. Sie hoffte, eines Tages ihrer Mama davon erzählen zu können. Bei dem Gedanken an etwas so wunderbar Alltägliches, wie mit ihrer Mutter über diese verhaßten Schwimmrunden zu lachen, durchzuckte sie eine geradezu schmerzhafte Sehnsucht.

»Warte, ich weiß nicht, ob ich …«, begann !Xabbu.

»Laß nur, im Schwimmen bin ich echt gut.« Ohne sich noch Zeit für sorgenvolle Gedanken zu geben, streckte sie die Arme aus und stieß sich vom Rand des Floßes ab. Als sie wieder auftauchte, hörte sie Azador und Jongleur über das heftige Schaukeln fluchen, das sie mit ihrem Sprung verursacht hatte.

Das Wasser war ein leichter Schock, denn es war kälter, als sie erwartet hatte, und obwohl die Strömung schwach war, fand sie es viel schwerer, gegen diesen konstanten Zug anzuschwimmen, als zuhause im Becken. Dennoch bekam sie ihren Körper nach kurzem Strampeln in eine gerade Lage und schnitt eine schräge Bahn durch den Fluß, auf die einladende Grasböschung am anderen Ufer zu.

Zwei, drei Minuten, schätzte sie.

Nach etwa fünfzig Schlägen wurde deutlich, daß entweder die Strömung stärker war als vermutet oder daß sie das gleiche Schicksal erlitt wie das Floß. Sie hob den Kopf aus dem Wasser und ging zum Brustschwimmen über, um besser erkennen zu können, was los war. Sie schaufelte das Flußwasser zur Seite, pflügte sich durch die Wellen, kam gut voran … aber das Land rückte nicht näher. Irritiert tauchte sie unter, bis sie mit einer Hand über die am Grund des Flusses wogenden dichten Gräser streifte, und versuchte es dann so. Sie trat aus, so fest sie konnte, schlängelte sich wie ein Fisch. Sie war stolz auf ihre Kraft: Sie dachte nicht daran aufzugeben, sie wollte es dieser Simulation beweisen.

Als sie den Atem nicht mehr anhalten konnte, stieß sie noch zweimal mit den Füßen aus und ließ sich dann nach oben treiben. Das Ufer war immer noch genausoweit entfernt. Mißmutig Wasser tretend hatte sie sich gerade umgedreht, um nach dem Floß zu sehen, als ihr ein jäher Schmerz durchs Bein schoß.

Etwas hat mich gepackt…! konnte sie gerade noch denken, bevor sie unter Wasser glitt. Mit einem bewegungsunfähigen Bein kämpfte sie sich mühsam wieder nach oben und erkannte dabei, daß kein fleischfressender Flußbewohner sie angegriffen hatte, sondern daß es schlicht ein Krampf in der Wade war. Der Unterschied allerdings war gering: Sie konnte sich nicht mehr richtig über Wasser halten, zumal sie nach ihrer vergeblichen Schwimmanstrengung erschöpft war.

Sam schrie nach !Xabbu, doch sie bekam Wasser in Nase und Mund und brachte nur ein Gurgeln zustande. Sie konnte mit dem blockierten Bein einfach nicht austreten und auch sonst nicht mehr viel tun. Sie versuchte sich auf den Rücken zu drehen und sich zu entspannen – der Ausdruck »toter Mann spielen« ging ihr durch den Kopf und trug nicht eben zu ihrer Beruhigung bei –, doch der Schmerz in ihrem Bein war heftig, und Flußwasser spülte ihr übers Gesicht.

Sie war soeben zum zweitenmal untergegangen, als sie einen harten Schlag an die Schulter bekam. Sie grapschte nach der Floßstange und klammerte sich daran fest, als ob sie der Hirtenstab ihres persönlichen Schutzengels wäre. Und in gewisser Hinsicht war sie das auch.

 

»Ich hatte große Angst um dich, Sam.« !Xabbu hatte nicht von ihrer Seite weichen wollen und das Feuermachen Azador überlassen. Dicht an die kleine Flamme gekauert und immer noch zitternd, obwohl schon eine halbe Stunde vergangen war, entwickelte sie regelrecht dankbare Gefühle gegen den Mann mit dem Schnurrbart. »Ich konnte nur inständig hoffen, daß wir mit dem Floß so weit auf den Fluß hinauskommen, wie du geschwommen warst«, fuhr !Xabbu fort. »Oh, ich hatte solche Angst.«

Sam war gerührt. Irgendwie schien ihr Erlebnis für ihn schlimmer gewesen zu sein als für sie. »Mir ist nichts passiert. Du hast mich gerettet.«

!Xabbu konnte nur den Kopf schütteln.

»Das heißt, wir sind geschlagen«, erklärte Jongleur. »Wir kommen nicht über den Fluß, nicht mit dem Floß und nicht mit Schwimmen.«

Sam spannte die Kiefermuskeln an, damit ihre Zähne zu klappern aufhörten. »Aber es muß eine Brücke geben. Diese kleinen Tiere oder was sie sonst waren, die Hoppelpoppel kannten und so, die haben etwas davon gesagt, daß sie eine Brücke suchen. Wir haben nur nicht erfahren können, was es damit auf sich hatte.« Sie warf Jongleur einen giftigen Blick zu, da es sein Wutausbruch gewesen war, der diese einheimischen Wesen vertrieben hatte. Sie meinte, den Schatten eines Schuldgefühls über sein Gesicht huschen zu sehen.

Vielleicht hat er ja doch ein bißchen was Menschliches, dachte sie. Ein ganz klein bißchen was. Natürlich konnte es auch sein, daß er bloß bedauerte, seine eigenen Überlebenschancen verschlechtert zu haben.

»Es gibt keine Brücken«, ließ sich Azador vernehmen. »Ich bin diesen verdammten Fluß dreimal rundherum gegangen. Ihr seid selber einmal herum gegangen. Habt ihr irgendwelche Brücken gesehen?«

»So einfach ist das nicht«, beharrte Sam. »Wir können die andere Seite sehen, und dennoch kommen wir nicht hinüber. Wenn wir also Dinge sehen, sie aber nicht erreichen können, warum sollte es dann nicht auch Dinge geben, die wir nicht sehen, aber die wir erreichen können?« Sie mußte innehalten und sich das im stillen noch einmal vorsagen, um zu schauen, ob das einen Sinn hatte. Es hatte einen, fand sie. Ein bißchen.

»Wir können heute nichts mehr unternehmen.« !Xabbus bekümmerte Miene war nicht verschwunden, aber sie hatte sich leicht verändert, wirkte distanzierter. »Wir denken morgen früh weiter darüber nach.« Er legte Sam die Hand auf den Arm. »Ich bin sehr froh, daß dir nichts passiert ist, Sam.«

»Es war bloß das Bein, und das fühlt sich schon viel besser an.« Sie lächelte, um ihn ein wenig aufzumuntern, aber fragte sich, wie gut das mit klappernden Zähnen gelingen konnte.

 

Trotz seiner Sorge um sie war !Xabbu nicht an ihrer Seite, als Sam irgendwann mitten in der Nacht aufwachte. Sie sah die schattenhaften Formen der beiden andern im Schein der verglimmenden Glut, aber keine Spur von dem kleinen Mann.

Wird ein menschliches Bedürfnis befriedigen, vermutete sie und war schon fast wieder eingeschlafen, als ihr einfiel, daß es so etwas für sie alle nicht mehr gab. Sie fuhr hoch. Die Vorstellung, ihn zu verlieren, mit Jongleur und Azador allein gelassen zu werden, erschreckte sie zutiefst.

Ich will das alles nicht. Ich will nach Hause.

Sie versuchte sich zu beruhigen, zwang sich, darüber nachzudenken, was Renie oder Orlando tun würden. Wenn !Xabbu fort war, mußte sie los und nach ihm suchen, klarer Fall. Sie überlegte, ob sie die anderen wecken sollte, entschied sich aber dagegen. Wenn sie im Umkreis von vielleicht hundert Metern um das Lagerfeuer keinerlei Anzeichen von ihm fand, konnte sie es sich ja noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

Sie wollte gerade einen glimmenden Stock als Fackel aus dem Feuer ziehen, als sie bemerkte, daß jemand anders schon vor ihr auf die Idee gekommen war: Ein gutes Stück vom Lager entfernt stach ein einzelner rötlicher Lichtfleck von den samtig schwarzen Bergen ab. Sam trabte darauf zu.

!Xabbu hatte seine Fackel in den weichen Lehm eines Wiesenhangs gesteckt und sich danebengesetzt. Er schaute bei ihrem Nahen nicht auf, und sie bekam es schon wieder mit der Angst zu tun, da riß er sich mit einem Schütteln aus seiner Träumerei und wandte sich ihr zu.

»Alles in Ordnung, Sam?«

»Yeah, chizz. Ich bin bloß wach geworden, und … ich hab mir Sorgen gemacht, weil du nicht da warst.«

Er nickte. »Das tut mir leid. Ich dachte, du würdest so fest schlafen, daß du es nicht merkst.« Er blickte wieder zum Himmel auf. »Die Sterne sind sehr eigenartig hier. Sie bilden Figuren, aber ich kann sie nicht behalten.«

Sie setzte sich neben ihn. Das Gras war feucht, aber nach dem Vorfall im Fluß merkte sie das kaum.

»Wirst du nicht frieren?« fragte er.

»Mir ist nicht kalt.«

Eine Weile saßen sie schweigend da, und Sam mußte ihren inneren Drang bezähmen, mit freundlichem Geschwätz die Angst zu vertreiben. Als !Xabbu sich schließlich räusperte, sprach aus dem Ton eine für ihn so untypische Unsicherheit, daß Sam eine Gänsehaut bekam.

»Ich … ich habe heute ein großes Unrecht an dir begangen«, sagte er.

»Du hast mich gerettet.«

»Ich habe dich in den Fluß springen lassen. Ich hätte es tun sollen, aber ich fürchtete mich.«

»Wieso hättest du es tun sollen? Du bist genauso schlimm wie Renie – du meinst immer, du müßtest alle gefährlichen Sachen machen, ja niemand anders.«

»Es war deswegen, weil ich Angst vor dem Wasser hatte. Als Kind wurde ich einmal im Fluß bei mir zuhause fast getötet. Von einem Krokodil.«

»Wie schrecklich!«

Er zuckte mit den Achseln. »Das gibt mir nicht das Recht, dich tun zu lassen, was ich mich nicht traue.«

Sam stieß zornig die Luft aus. »Du mußt nicht alles machen«, sagte sie. »Das ist Fen-fen voll pur.«

»Aber…«

»Hör mal zu.« Sie beugte sich vor, zwang ihn, sie anzuschauen. »Du hast mir schon x-mal das Leben gerettet. Erinnerst du dich noch an den Berg? Wie du uns über diesen verschwindenden Pfad gelotst hast? Du hast mehr als genug getan, aber das bedeutet nicht, daß wir andern nicht auch mal was tun können, irgendwie.« Sie hob die Hand, um seinen Einwand abzuschneiden. »Orlando hat sich für uns geopfert, auch für mich. Wie könnte ich es ertragen, noch am Leben zu sein, wenn ich nicht auch mal was wage? Wenn ich mich einfach zurücklehne wie … wie so ’ne Märchenprinzessin und zugucke, wie die andern sich für mich krummlegen? Ich weiß nicht, wie das bei euch im Okidongodelta ist, oder wie das heißt, aber da wo ich herkomme, ist sowas scänniger als scännig.«

!Xabbu lächelte, wenn auch leicht gequält. »Renie nennt es ›altmodischen Quark‹.«

»Und das wird sie wieder sagen, wenn wir sie finden und du dich bis dahin nicht gebessert hast.« Jetzt mußte Sam lächeln. Sie betete, daß es so kommen möge, so unwahrscheinlich es war. Renie und !Xabbu hatten sich gegenseitig verdient, in jeder Hinsicht. Soviel Liebe, soviel Sturheit. Sie wünschte ihnen, daß sie sich den Rest ihres Lebens darüber streiten konnten, wer von ihnen den schwereren Teil übernehmen sollte. »Hast du dich deswegen hierhin verzogen? Weil du dir Vorwürfe gemacht hast, daß nicht du geschwommen bist, sondern ich, und daß ich einen Krampf gekriegt hab?«

Er hob abwehrend die Hand. »Nicht nur deswegen. Irgend etwas läßt mir keine Ruhe, aber ich weiß nicht, was es ist. Manchmal muß ich allein sein, um nachzudenken. Manchmal reicht das nicht aus. Ich hatte daran gedacht zu tanzen.«

»Tanzen?« Wenn er erklärt hätte, er habe sich vorgenommen, eine Rakete zu bauen, wäre ihre Verwunderung nicht größer gewesen.

»Für mich ist das … wie beten. Manchmal.« Er schnippte mit den Fingern, verdrossen über seine unzureichenden Ausdrucksmöglichkeiten. »Aber ich bin nicht soweit. Ich fühle es nicht.«

Sam wußte nicht, was sie sagen sollte. Nach kurzem Zögern stand sie auf. »Willst du, daß ich dich allein lasse? Oder sollen wir zurückgehen?«

!Xabbu zog seine Fackel aus dem Boden und schwang sich behende auf. »Es ist etwas anderes, was mich plagt«, sagte er. »Es reicht nicht aus, Jongleurs wahre Identität vor Azador zu verschweigen.«

Sam merkte, wie sie vor Scham rot wurde. »Tut mir leid. Das war dumm von mir heute.«

»Es ist schwer, ja unnatürlich, ständig auf solche Sachen zu achten. Aber ich glaube, wir müssen Jongleur begreiflich machen, daß Azador einen Haß auf die Gralsbruderschaft hat. Dann wird er wohl seine Zunge hüten müssen, und sei es bloß, um sich selbst zu schützen.«

»Das ist so abartig«, sagte Sam, während sie zu ihrem fast niedergebrannten Lagerfeuer zurückgingen. »Nichts hier ist wirklich, man kann nichts und niemandem trauen. Na ja, fast niemandem.« Sie versetzte !Xabbu einen kameradschaftlichen Stups. »Es ist wie … ich weiß nicht. Wie Karneval. Wie eine Maskerade.«

»Aber eine schreckliche Maskerade«, entgegnete er. »Gefährlich und schrecklich.«

Auf dem restlichen Weg zurück zum Lagerfeuer und den schlafenden Gestalten ihrer beiden Begleiter sagten sie nichts mehr.

 

Den nächsten Tag verbrachten sie mit der für Sams Gefühl völlig aussichtslosen Suche nach einer Möglichkeit, den Fluß zu überqueren. Sie streiften durch die Röhrichte am Flußrand, um irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wie andere hinübergekommen waren – Fußspuren, die Überreste einer Brücke oder einer Anlegestelle –, aber ohne Erfolg. Sam war deprimiert, !Xabbu in sich zurückgezogen und grüblerisch. Jongleur war wie üblich mit sich selbst beschäftigt und sprach wenig. Nur Azador wirkte ungebeugt. Er redete fast den ganzen Tag, schwadronierte zwanghaft darüber, was für Abenteuer er im Netzwerk erlebt und was er alles herausgefunden hatte, alle möglichen Tricks und Finten, heimliche Abkürzungen innerhalb der Simwelten und gut versteckte Gateways zwischen ihnen. Einiges war zweifellos Angabe, aber dennoch war Sam vom Umfang seiner Kenntnisse beeindruckt. Wie lange irrte dieser Mann schon durch das Otherlandnetzwerk?

»Wo kommst du eigentlich her?« fragte sie ihn, als sie gerade durch einen seichten Altwasserarm wateten. Etliche verheißungsvoll aufgehäuften Steine erwiesen sich bloß als die Trümmer einer geborstenen größeren Felsplatte. »Ich meine, wo hast du vor dem hier gelebt?«

»Ich … ich möchte nicht darüber sprechen«, erwiderte er. Mit finsterer Miene stocherte er mit einem Schilfrohr in dem Schlick zwischen seinen Füßen. »Aber ich habe meine Zeit hier so sinnvoll genutzt wie überhaupt nur möglich. Ich habe Dinge in Erfahrung gebracht, die nach dem Willen der Erbauer dieses Netzwerks für alle Zeit hätten verborgen bleiben sollen…«

Sam hatte keine Lust, sich die nächste Litanei seiner Großtaten anzuhören. »Na ja, aber einen Weg über den Fluß weißt du auch nicht, da ist alles andere im Moment auch nicht viel wert.«

Azador blickte beleidigt. Das tat Sam leid – anders als Jongleur hatte er weder ihr noch ihren Freunden etwas getan –, und so versuchte sie, ein anderes Thema anzuschneiden.

»Aber ich denke, das Floß hast du ziemlich gut hingekriegt.« Obwohl es erst durch !Xabbus geschickte Reparatur flußtauglich geworden war, wie sie wohl wußte, aber lieber nicht erwähnte. »Es ist ja nicht deine Schuld, daß das System uns damit nicht rüberläßt.«

Er wirkte ein wenig versöhnt.

»Bist du wirklich ein Zigeuner?« fragte sie.

Seine Reaktion war heftig und unerwartet. »Wer hat dir so eine gemeine Verleumdung gesagt?«

Sam konnte sich gerade noch beherrschen, nicht !Xabbu anzuschauen, der sich dreißig Schritte weiter im schlammigen Flachwasser leise mit Jongleur unterhielt. »Niemand … Ich … ich dachte, du hättest sowas erzählt.« Sie hätte sich am liebsten in den Hintern getreten. »Vielleicht bin ich bloß drauf gekommen, weil … weil du so einen Schnurrbart hast.«

Er strich über die erwähnte Manneszierde, als wäre sie ein gekränktes Tier, das er tröstete. »Zigeuner, das sind Gauner und Diebe. Azador ist ein Entdecker. Du darfst es nicht falsch verstehen, wenn ich dir von meinen Abenteuern berichte. Ich bin ein Gefangener. Ich habe das Recht, meinen Kerkermeistern jedes Geheimnis und auch sonst alles abzuluchsen, was ich kann.«

»Entschuldige. Da habe ich wohl was mißverstanden.«

»Du solltest besser aufpassen.« Er fixierte sie streng. »Hier mehr als anderswo muß man vorsichtig sein mit dem, was man zu Fremden sagt.«

In diesem Punkt mußte Sam ihm recht geben.

Eine weitere Stunde fruchtlosen Forschens verstrich, ehe sich für Sam eine Gelegenheit ergab, außer Hörweite der anderen mit !Xabbu zu reden. Er war zu ihr gestoßen, um mit ihr ein letztes Rohrdickicht zu durchstöbern. Azador und Jongleur hatten aufgegeben und sich auf einen der Wiesenbuckel gesetzt, von wo aus sie ihnen zusahen.

»Ich bin so eine Scäntüte«, sagte sie, nachdem sie ihm den Vorfall erzählt hatte. »Ich hätte den Mund halten sollen.«

!Xabbu blickte besorgt. »Vielleicht machst du dir zu viele Vorwürfe, so wie ich gestern nacht. Vielleicht haben wir damit sogar etwas erfahren, auch wenn ich nicht sagen kann, was. Zum Beispiel ist es sehr merkwürdig, daß er das jetzt abstreitet. Das war fast das einzige, was er uns beim letztenmal von sich erzählte – er sei ein Zigeuner, ein Rom, wie er sich ausdrückte. Er schien sehr stolz darauf zu sein.« Der kleine Mann schob einen Vorhang schwankender Rohrkolben zur Seite, doch was aus der Ferne wie die Überreste eines Holzbauwerks ausgesehen hatte, war tatsächlich nur ein Haufen von einem Sturm entwurzelter und übereinandergeschobener Baumstämme. »Wer weiß, was er für Gründe hat, seine Vergangenheit geheimzuhalten.«

»Ich weiß nicht. Er wirkte nicht ängstlich oder nervös, wie ich es wäre, wenn jemand was über mich wüßte, was ich verheimlichen wollte. Er war einfach … wütend.« Sie sah zum Hügel hinüber. Jongleur und Azador unterhielten sich, hatte es den Anschein. Sie hatte ein ungutes Gefühl dabei. »Sieh nur, wie seelenruhig dieses alte Scheusal da oben thront! Es ist seine Schuld, daß wir niemand fragen können, wie man über den Fluß kommt.« Ob es nun wirklich Jongleurs Schuld war oder nicht, jedenfalls hatten sie keine weiteren Bewohner der Simwelt mehr erblickt, seit der alte Mann Hans Kuckeldiluff und seine Schar von ihrem Lagerfeuer verscheucht hatte.

»Schon möglich. Aber es kann auch sein, daß sie alle schon auf das andere Ufer übergesetzt sind.«

»Ja, vielleicht.« Sam runzelte die Stirn. »Was können die beiden da miteinander zu reden haben?«

!Xabbu schaute auf. »Ich weiß es nicht. Ich habe Jongleur gesagt, daß Azador gewalttätig werden könnte, wenn er entdeckt, mit wem er es in Wahrheit zu tun hat. Ich glaube daher nicht, daß er ihm irgend etwas darüber erzählt.«

Schließlich waren sie aus dem Röhricht heraus und stiegen den Hügel hinauf, doch da hatte Azador sich schon erhoben und sich ein Stück von Jongleur entfernt. Er stand mit dem Rücken zu ihnen. Als sie beinahe oben waren, drehte er sich unvermittelt um und rief: »Kommt, kommt her! Seht euch das an!«

Sam und !Xabbu liefen die letzten paar Meter.

»Da!« sagte Azador. »Seht ihr?«

»O nein!« Ein eiskalter Schauder überlief Sam. »Sie verblassen.«

Die fernen Berge waren nur noch milchige Umrisse, schwach im Sonnenschein spiegelnde Schemen, die vage die festen Formen von vorher andeuteten. Selbst Teile der ebenen Wiesenlandschaft waren schon durchsichtig wie Glas. Sam sah sich erschrocken um, doch der Fluß und seine Ufer hinter ihnen waren noch klar und deutlich, und auch der Hügel unter ihren Füßen hatte nichts von seiner beruhigenden Lebensechtheit verloren.

»Sie verschwinden«, sagte Azador. Zum erstenmal klang in seiner Stimme etwas wie echte Furcht durch. »Was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet, daß uns die Zeit davonläuft«, antwortete Jongleur, der hinter ihnen herangetreten war. Seine Miene war betont ausdruckslos, aber seine Stimme war nicht ganz fest. »Die Simulation zerfällt.«

 

!Xabbu weckte sie mit einer leichten Berührung. »Ich werde mich eine Zeitlang entfernen«, flüsterte er. »Ich denke, ich sollte dich lieber nicht mit den beiden allein lassen.«

Sam rappelte sich schläfrig auf und stolperte hinter ihm her. Die Sterne strahlten heller denn je, als leuchteten sie in vorzeitiger Trauer um die vergehende Welt.

Als sie die nächste Erhebung erreichten, setzte !Xabbu sich hin und schnürte sich etwas um die Fesseln, Bänder aus Schilfhalmen und Samenkapseln, die rasselten, wenn sie bewegt wurden.

»Wozu sind die?« erkundigte sich Sam.

»Zum Tanzen«, antwortete er. »Bitte, Sam, ich brauche jetzt Stille.«

Zurechtgewiesen setzte sie sich neben ihn, zog die Knie an und legte das Kinn darauf ab. Der Umhang aus geflochtenen Halmen, den !Xabbu ihr gemacht hatte, bot wenig Schutz gegen Kälte, aber die Nacht war mild. Sie sah ihm zu, wie er seine Vorbereitungen beendete, dann ein paar Schritte von ihr wegging und aufgerichtet zum Himmel und seinen leuchtenden Sternen emporblickte.

Lange blieb er so stehen. Sam nickte wieder ein, und als sie mit einem jähen Zucken wach wurde, stand er immer noch am selben Fleck, unbewegt wie eine Statue. Ihre schweifenden Gedanken hefteten sich traurig an ein Bild der Sterne über ihrem Garten zuhause, wo sie und ihr Vater einmal in Schlafsäcken draußen kampiert hatten. Trotz der nächtlichen Geräusche im Freien hatte Sam sich in der Gesellschaft ihres schweigenden Vaters und beim Anblick der Silhouette ihrer Mutter im Küchenfenster sicher gefühlt.

Was sie wohl gerade machen? Sie können nicht die ganze Zeit bei … bei mir sein. In irgendeinem Krankenhaus. Ob sie noch andere Sachen machen? Netz gucken? Mit Freunden zu Abend essen? Selbst wenn ich hier sterbe, müssen sie irgendwann wieder ein normales Leben führen, nicht wahr? Es kam ihr ungerecht vor, unfair. Aber wäre es besser, wenn sie nie drüber hinwegkämen?

O Gott, Mama, Papa, es tut mir so leid…!

Langsam begann !Xabbu sich zu regen, hob einen Fuß in die Luft und schwenkte ihn hin und her wie ein Pferd, das ungeduldig den Boden scharrt. Er tat einen Schritt, hob den anderen Fuß und bewegte ihn, dann setzte er auch ihn ab. Die Rasseln ließen ein leises, trockenes Zischen hören. Nach und nach kam er in einen ausgeprägten, komplexen Rhythmus, dem die fast vollkommene Stille etwas noch Unwirklicheres verlieh.

Anfangs beobachtete Sam ihn genau, versuchte, aus der konzentrierten Miene des kleinen Mannes darauf zu schließen, was in seinem Innern vorging, aber der Tanz zog sich zu lange hin und war zu monoton, um ihre Aufmerksamkeit auf die Dauer fesseln zu können. Als er die erste langsame Runde in einem Kreis beendete, den er allein sehen konnte, zerstreuten sich ihre Gedanken wieder. Seine exakten Bewegungen erinnerten sie an ein Spiel im Netz, das sie früher einmal, als sie noch klein gewesen war, sehr gern gemocht hatte, ungefähr zwei Wochen lang: Unregelmäßig geformte Bausteine schwebten dabei langsam durch den Raum und konnten zu immer größeren geometrischen Gebilden zusammengeschoben werden. Wie !Xabbus Tanz hatten die trudelnden Blöcke den Eindruck gemacht, schwer und leicht zugleich zu sein. Ihre verwinkelten, facettenartigen Seiten hatten sich mit der gleichen Mischung von Behutsamkeit und Bestimmtheit geküßt und aneinandergeheftet, mit der der kleine Mann seine Füße hob und absetzte, als wäre es nicht blinde, rohe Schwerkraft, was ihn an die Erde band, sondern eine überlegt getroffene Wahl.

Ich frag mich, ob Orlando das je gespielt hat, überlegte sie schläfrig. Was er wohl daraus gemacht hätte? Bestimmt etwas anderes, soviel ist sicher. Etwas Lustiges und Trauriges.

Ich frag mich, was !Xabbu daraus machen würde …

Und dann trudelte sie ihrerseits davon und träumte von dunklen, hohen Bergen und einsamen Vogelschreien.

 

»Wach auf, Sam!« Seine Stimme klang ungewohnt; im ersten Moment, noch benommen von den Träumen, dachte sie, Orlando hätte gesprochen.

»Laß mich schlafen, du Oberscänner!«

»Es wird hell. Wir haben heute keine Zeit, lange zu schlafen, glaube ich.«

Sie schlug die Augen auf und sah !Xabbu über sich gebeugt, das Gesicht schweißglänzend, der Brustkasten pumpend, als wäre er soeben einen Marathon gelaufen. Und dennoch schien er vor Energie fast zu bersten. »Mann, tut mir leid. Ich dachte, du wärst …« Sie rieb sich die Augen. »Ist was mit dir?«

»Mir geht es gut, Sam. Ich habe viel nachdenken können. Es war gut, zu tanzen, wieder … ich selbst zu sein.«

Sie ließ sich von ihm aufhelfen. Ihre Füße waren kalt und prickelten; sie stampfte eine Weile auf den Boden, um sie wieder zu durchbluten. »Bist du auf irgendwas gekommen?«

Er lächelte. »Auch in der Hinsicht bist du wie Renie. Mein Tanz ist nicht etwas, das einfach auf Knopfdruck funktioniert … wie ein Automat. Karte hineinstecken, und schon kommt die Antwort heraus. Aber ich merkte, daß mich etwas beunruhigte, und darauf, was das sein könnte, bin ich in der Tat gekommen.« Er lachte. Er wirkte gelöster als die ganzen Tage zuvor, beinahe heiter. »Wir werden sehen, ob uns das weiterhilft, Sam. Komm jetzt.«

»Was hast du damit gemeint?« fragte sie, als sie durch das nasse Gras zurückgingen. Sie konnte kaum glauben, daß es schon bald in ein silbernes Nichts zergehen sollte, so naturgetreu fühlte es sich an ihren Füßen an, aber die fernen Berge waren erschreckend blaß, eine in Kristall gehauene Landschaft. Ohne zu überlegen beschleunigte sie ihre Schritte. »Als du gesagt hast, es wäre gut, wieder du selbst zu sein?«

»Ständig versuche ich, dies alles hier zu verstehen, so zu denken wie die Leute, die es geschaffen haben, so wie Renie und ihr anderen auch. Aber auf die Weise denke ich nicht gut. Und es ist mir fremd, so als hätte ich Sachen an, die mir nicht richtig passen. Ich kann nicht in einigen Wochen ein ganzes Leben über Bord werfen. Manchmal muß ich … zurückgehen. Zurück zu meiner althergebrachten Art.«

Sam nickte langsam. »Ich glaub, ich versteh dich. Ich weiß manchmal auch nicht mehr, wer ich bin – was mein wirkliches Ich ist.« Etwas verunsichert von seinem fragenden Blick fuhr sie fort: »Ich mein damit, seit ich wieder ein Mädchen bin – na ja, seit ich diesen Körper hab –, da rede ich anders als vorher, ich denke sogar anders, irgendwie. Ich fange an, mich zu benehmen wie … wie ein Mädchen!«

Sein Lächeln war freundlich. »Ist das schlimm?«

»Nicht immer, nein. Aber als ich einfach Fredericks war, Orlandos Schatten, auch ein Junge… ich weiß nicht. Es war irgendwie leichter. Ich hab mehr Sachen gewagt, anders geredet.« Sie lachte. »Mehr geflucht.«

»Ah, da legst du den Finger auf etwas, Sam. Das war eine der Sachen, die mich beunruhigten.«

Vor lauter Überraschung stolperte sie über eine Bodenwelle und hatte Mühe, sich zu fangen. »Es beunruhigt dich, daß ich nicht fluche?«

»Nein. Aber laß jetzt, wir sind fast da. Du wirst bald sehen, worüber ich nachdachte.«

Jongleur und Azador saßen sich stumm und verschlafen am Feuer gegenüber. Der ältere Mann warf ihnen einen kalten Blick zu, als sie herantraten. »Nach euerm ganzen Gerede über Dringlichkeit und Gefahr findet ihr also noch Zeit für einen romantischen Nachtspaziergang? Sehr niedlich.«

Sam fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und wollte schon eine patzige Antwort geben, doch !Xabbu berührte sie am Arm.

»Es gibt viele Wege, Probleme zu lösen«, sagte der kleine Mann ruhig. »Aber wir brauchen einen neuen, oder wir werden immer noch hier sein, wenn diese Welt sich um uns herum auflöst.«

Jongleur schnaubte verächtlich. »Dann war das also ein Erkundungsgang?«

»Gewissermaßen.« !Xabbu wandte sich Azador zu, der sie mit trüben Augen beobachtete und aussah, als bedauerte er es, daß es auf dieser Wiesejenseits der Welt keinen Kaffee gab. »Ich möchte ein Wort mit dir reden, Herr Azador. Ich habe ein paar dringende Fragen.«

Etwas flackerte in seinen Augen, doch er machte nur eine lässige Handbewegung. »Frage.«

»Erzähle mir noch einmal, wie du hierherkamst – wie du zum schwarzen Berg gelangtest und dich dann auf einmal in dieser Umgebung hier befandest.«

Verwirrt, aber bestrebt, es sich nicht anmerken zu lassen, sah Sam !Xabbu an, während Azador ein wenig widerstrebend seine Geschichte wiederholte – wie er ihnen in den Irrgang im Demetertempel gefolgt war und wie er irgendwann im diesigen Nichts aufgewacht und der Berg nicht mehr dagewesen war.

»Ich habe nachgedacht«, unterbrach !Xabbu ihn plötzlich, als er sich dem Ende näherte. »Es war nämlich so, daß wir uns nach unserem Übergang aus Troja lange an der Flanke des schwarzen Berges aufhielten, weil es heftige Auseinandersetzungen gab. Als wir uns endlich auf den Weg zum Gipfel machten, war der Durchgang schon lange wieder geschlossen. Wie kamst du dann durch, ohne daß wir dich sahen?«

»Willst du behaupten, daß ich lüge?« Azador machte Anstalten aufzustehen, doch als !Xabbu beschwichtigend die Hand hob, setzte er sich gleich wieder, als ob die heftige Reaktion nicht wirklich ernstgemeint gewesen wäre.

»Vielleicht – aber vielleicht auch nicht.« !Xabbu trat ein paar Schritte näher und setzte sich neben die rauchenden Überreste des Lagerfeuers. Azador rutschte ein kleines Stück zurück. Sam starrte wie gebannt auf die Szene. Was wußte !Xabbu, oder was vermutete er? Azador sah tatsächlich eingeschüchtert aus. »Ich glaube dir, daß du hinter uns herkamst«, sagte !Xabbu, »und es könnte sein, daß du uns ehrlich sagst, woran du dich erinnerst – aber ich glaube nicht, daß es sich wirklich so zutrug.«

»Wieso verschwenden wir unsere Zeit mit solchen Spielereien?« knurrte Jongleur.

»Falls du den Fluß überqueren möchtest, bevor diese Welt verschwindet«, gab !Xabbu kühl zurück, »schlage ich vor, daß du den Mund hältst.«

Als ob diese Bemerkung an ihn gerichtet gewesen wäre, klappte Azador abrupt seine herunterhängende Kinnlade hoch. »Was willst du damit sagen?« ereiferte er sich nach kurzem Zögern. »Daß ich verrückt bin? Daß ich nicht weiß, was wirklich geschehen ist? Oder bist du jetzt doch der Meinung, daß ich schlicht und einfach ein Lügner bin?«

»Wie konntest du einen Durchgang passieren, der sich schon geschlossen hatte, es sei denn, er hätte sich für dich wieder geöffnet? Wie konntest du durch dieses graue Nichts den Weg vom Berg hinunter finden, wenn ich dazu die ganze Pfadfinderkunst benötigte, die sich mein Jägervolk in Tausenden von Generationen erwarb? Wie konntest du dein Floß gegen den Strom fortbewegen, um uns einzuholen? Und was das merkwürdigste ist, wieso bist du bekleidet, während wir anderen alle nackt hier ankamen? Wie lassen sich diese Fragen anders beantworten als damit, daß du nicht zum erstenmal hier bist?« !Xabbu machte eine Pause. »Ob du dich daran erinnerst oder nicht, ist eine andere Frage.«

»Genau!« sagte Sam, der es allmählich dämmerte. »Scänblaff! Daran hab ich überhaupt nicht gedacht. Er hat was an!«

»Das ist lachhaft!« blubberte Azador, doch er hatte wieder den gehetzten Blick in den Augen. »Da wäre es vernünftiger, du nennst mich gleich einen Lügner.«

»Wenn du willst«, erwiderte !Xabbu schlicht. »Doch es gibt noch andere Fragen. Erzähle mir von den Roma, Herr Azador. Erkläre mir, warum ihr den Gadschos nicht eure Geheimnisse verratet, wie du einst sagtest. Wie du mit deinen Zigeunerfreunden auf dem Romamarkt zusammenkommst, um Geschichten und Informationen auszutauschen.«

Jetzt wirkte Azador wie vom Donner gerührt und starrte !Xabbu an, als ob dieser auf einmal in Zungen redete. »Was soll das heißen? Ich habe nie etwas dergleichen zu dir gesagt. Es war das Mädchen, das mit diesem Zigeunerquatsch angefangen hat.«

Sam merkte plötzlich, daß ihr Herz wie rasend hämmerte. Selbst Jongleur schien über die Szene die Sprache verloren zu haben.

!Xabbu schüttelte den Kopf. »Nein, Azador. Du hast damit angefangen. In der Gefängniszelle, in der wir uns das erste Mal begegneten. Dann auf dem Schiff auf einem Fluß in Kansas. Erinnerst du dich wieder? Du nanntest mich Affenmann, weil ich den Körper eines Pavians hatte …«

»Du!« Azador fuhr so ungestüm auf, daß die letzte Glut des Feuers in alle Richtungen stob. »Du und deine elende Freundin – ihr habt mein Gold gestohlen!« Er sprang auf !Xabbu zu, doch dieser trat nur einen Schritt zurück.

»Stop!« kreischte Sam. Der schrille, panische Ton war ihr unangenehm, aber nicht sehr. Sie zerrte den Stumpf von Orlandos Schwert aus dem Bund. »Wenn du ihn anrührst, schlitz ich dir den Bauch auf!«

»Ich brech dir den Hals, Mädchen«, fauchte Azador, ließ es aber lieber nicht darauf ankommen. Jongleur war ebenfalls aufgestanden, und einen Moment lang standen sich alle angespannt in einem Viereck allseitigen Mißtrauens gegenüber.

»Bevor du etwas unternimmst«, meinte !Xabbu, »sage mir erst, was wir dir stahlen.«

»Mein Gold!« schrie Azador, doch sein Gesicht wirkte verstört, beinahe ängstlich. »Mein … Gold.«

»Du kannst dich nicht mehr erinnern, was es war, stimmt’s?«

»Ich weiß, daß ihr es mir gestohlen habt!«

!Xabbu schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Wir wurden durch ein Versagen des Systems getrennt«, erklärte er so ruhig, als ob Azador ihn nicht drohend anfunkelte und Sam nicht das abgebrochene Schwert auf den Bauch des Mannes gerichtet hielt. »Woran erinnerst du dich wirklich? Ich denke, du warst schon früher hier, in dem sogenannten Weißen Ozean. Kannst du nicht versuchen, daran zurückzudenken? Wir sind alle in großer Gefahr.«

Azador taumelte zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. Mit wildem Blick schwenkte er die Arme und deutete dann auf !Xabbu. »Du, nicht ich – du bist verrückt! Azador ist nicht verrückt.« Feindselig starrte er auf Sam und ihre Waffe, dann auf Jongleur. »Ihr seid alle verrückt!« Ein Schluchzen erstickte seine Worte. »Nicht Azador!« Er wirbelte herum und lief humpelnd und stolpernd über die Wiese und einen flachen Hang hinauf, wo er im Gras zusammenbrach und liegenblieb wie erschossen.

»Was hast du getan?« fragte Jongleur, aber nicht in seinem üblichen herrischen Befehlston.

»Uns vielleicht gerettet. Geh zu ihm. Ich denke, er wird jetzt weder Sam noch mich bei sich haben wollen, aber wir brauchen ihn.«

Jongleur gaffte ihn an, als ob auch !Xabbu sich plötzlich wie ein Wilder aufführte. »Zu ihm gehen …?«

»Verdammt nochmal, geh einfach!« schrie Sam und fuchtelte mit dem Schwertstumpf herum. »Vor zwei Tagen hätten wir dich beinahe sitzenlassen. Mach zur Abwechslung auch mal was Nützliches!«

Jongleur schien mehrere Erwiderungen abzuwägen, dann aber kehrte er ihnen nur den Rücken zu und schritt zu dem am Boden liegenden Azador hinüber.

»Das hat gutgetan!« sagte Sam. Ihr Herz raste immer noch.

»Aber Jongleur ist ein Feind, bei dem Vorsicht angebracht ist«, meinte !Xabbu. »Es ist, als hielte man eine hochgiftige Schlange in der Hand – wir sollten unser Glück nicht herausfordern.«

»Woher hast du das gewußt? Das mit Azador? Und wer ist er? Was ist er?«

Jetzt, wo die Konfrontation vorbei war, schien !Xabbu ein wenig in sich zusammenzusinken. »Was Azador ist, kann ich nicht sicher sagen – nicht an einem Ort, der so verwirrend ist wie dieses Netzwerk. Aber vielleicht gleicht er dieser Ava, die wir alle gesehen haben, oder dem kleinen Jungen, mit dem Jonas zusammen war – jemandem, der in diesem Netzwerk von einer Welt in die andere gerät und nicht weiß, wer er ist. Auf jeden Fall verhält er sich nicht wie der Azador, den ich seinerzeit kennenlernte. Der war zwar auch sehr von sich eingenommen, aber tat die meiste Zeit kalt und überheblich. Und Jonas beschrieb Azador als einen, der kaum etwas sagte.«

»Du meinst, es sind alles verschiedene Personen?«

»Ich glaube nicht. Aber wie gesagt, wer kann das an diesem Ort schon mit Bestimmtheit sagen.« !Xabbu ließ sich neben dem Feuer nieder. »Aber nicht, wer er ist, interessiert uns im Augenblick, sondern wo er gewesen ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

!Xabbu zog ein müdes Grinsen. »Warte ab. Vielleicht habe ich mit meinen Vermutungen abermals recht, und dann wirst du mich für einen sehr klugen Mann halten. Aber wenn ich mich irre, muß ich mich weniger schämen, wenn ich nicht vorher mit meinen Plänen prahlte. Was als nächstes kommt, wird schwierig werden.«

»Du kommst mir auch verändert vor«, sagte Sam plötzlich. »Nicht wie ein anderer Mensch oder so, aber … aber zuversichtlicher.«

»Ich hatte Zeit, dem Klingen der Sonne zu lauschen«, antwortete er. »Obwohl es hier gar keine Sonne gibt. Zu den Sternen zu sprechen, unseren Großeltern.«

Sam zuckte mit den Achseln. »Ich hab keinen Dunst, was das heißen soll.«

!Xabbu tätschelte ihr freundlich den Arm. »Das macht nichts, Sam Fredericks. Laß uns jetzt sehen, ob wir bei Herrn Azador ein kleines Wunder wirken können.«

 

»Und was wollt ihr tun, wenn ich nicht mitspiele?« fragte Azador scharf. »Mich mit diesem Schwert erstechen?« Sein empörter Ton war derart übertrieben, daß Sam sich fragte, ob er womöglich auch eines der entführten Kinder war, getarnt als erwachsener Mann.

»Ich hätte nicht übel Lust«, sagte sie leise, doch ein strenger Blick von !Xabbu zügelte sie.

»Wir werden dir auch in dem Fall nichts tun«, erklärte der kleine Mann. »Wir werden dann einfach weiter darauf warten, daß diese Welt um uns herum verschwindet.«

Jongleur stand ein Stück abseits und sah zu. Er hatte seine übliche eidechsenartige Unbewegtheit zurückgewonnen. Sam wußte nicht, womit er den Mann mit dem Schnurrbart bewegt hatte zurückzukommen, aber sie mußte ihm wohl oder übel dafür dankbar sein.

»Ich bin in der Hand von Verrückten«, sagte Azador.

»Mag sein«, entgegnete !Xabbu. »Aber ich verspreche dir, daß dir nichts geschehen wird.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir dein Hemd.«

Azador murrte, aber zog das Hemd aus. !Xabbu nahm es, rollte es zusammen, stellte sich hinter ihn und verband ihm damit die Augen. »Siehst du etwas?«

»Nein, verdammt, natürlich nicht!«

»Es ist wichtig. Lüge mich nicht an.«

Azador drehte den Kopf hin und her. »Ich sehe nichts. Wenn ich mir das Bein breche, sorge ich dafür, daß dir dasselbe passiert, egal ob ihr mir den Bauch aufschlitzt.«

!Xabbu machte ein ungehaltenes Geräusch. »Dir wird nichts geschehen. Schau, ich werde neben dir gehen, Sam auf der anderen Seite. Komm schon, Herr Azador, du hast uns oft erzählt, wie tapfer und geschickt du bist. Warum hast du jetzt Angst, mit verbundenen Augen zu gehen?«

»Ich habe keine Angst. Aber die ganze Sache ist idiotisch.«

»Vielleicht. Wir anderen werden jetzt still sein. Wir werden am Fluß entlanggehen. Du gehst bitte so lange weiter, bis du das Gefühl hast, daß es eine gute Stelle zum Hinüberkommen ist.«

Sam war verblüfft, aber hielt sich still. Selbst Jongleur schien ein gewisses widerwilliges Interesse an dem Experiment gefaßt zu haben. Sie führten Azador an den äußersten Rand des festen Ufers und lenkten ihn dann stromaufwärts.

Sie marschierten lange, ohne ein Wort zu sagen. Nur Azadors grimmige Flüche, wenn er über ein Hindernis stolperte, brachen das Schweigen. Stellenweise war das Röhricht so dicht, daß sie beinahe in den Fluß tappten, dann wieder erstreckten sich die Wiesen vor ihnen schier endlos ins Weite, und Sams Vertrauen auf !Xabbus Klugheit ließ spürbar nach. Nur Fluß und Gras, so weit sie schauen konnte. Was sollte ein Mann mit verbundenen Augen daran ändern?

Nach einer Weile ebbte Azadors Gegrummel langsam ab. Wie ein Schlafwandler schritt er jetzt unbeirrt voran, machte Pause, wenn die anderen Pause machten, beschwerte sich nicht einmal mehr, wenn sie in Schlammlöcher gerieten. Sie hörte ihn murmeln, aber die Worte verstand sie nicht.

Auch seine Aufmerksamkeit veränderte sich nach der ersten Stunde. Eine Ruhe kam über ihn, und von Zeit zu Zeit hielt er an und neigte den Kopf, als lauschte er auf etwas, das die anderen nicht hören konnten.

Doch als am späten Nachmittag das Licht sich zu verändern begann und einen kaum merklich dunkleren Ton annahm, waren sie immer noch nicht fündig geworden.

So ein Theater! dachte Sam. Die Füße taten ihr weh. Ihr war heiß, und die Sachen klebten ihr am Leib. Sie verspürte den starken Drang, sich hinzulegen und sich und alles andere einfach dem Schicksal zu überlassen; die letzte Stunde war sie überhaupt nur noch aus Loyalität gegen !Xabbu weitergegangen. Azador hat recht – das ist idiotisch. Vier Leute torkeln am Fluß entlang und suchen etwas, obwohl sie längst wissen, daß es nicht da ist.

Sie kamen gerade aus dem nächsten raschelnden Schilfdickicht, als sie die Brücke erblickten.

Sam stockte der Atem. »Aber wie …? Hier waren wir doch schon mal! Und da war keine … da war nichts zu sehen von … Dsang!«

Sie war schmal, kaum mehr als eine Mauer aus aufgehäuften Steinen mit bogenförmigen Durchlässen für den Fluß, aber sie war immerhin so breit, daß sie zu viert nebeneinander gehen konnten. Vor allen Dingen aber führte sie zu den Wiesen am anderen Flußufer hinüber – jedenfalls hatte es den Anschein, denn das dortige Ende der Brücke war von tiefhängenden Nebelschwaden verschleiert.

»Du kannst die Binde abnehmen«, sagte !Xabbu zu Azador.

Als einziger von ihnen zeigte Azador sich nicht überrascht, so als ob er die Brücke bereits in irgendeiner Weise wahrgenommen hätte. Dennoch hatte er ein banges Flackern im Auge, und nach einer Weile wandte er sich ab. »Ich … ich will da nicht rüber.«

»Wir haben keine Wahl«, erklärte !Xabbu nachdrücklich. »Komm. Führe uns hinüber.«

Azador schüttelte den Kopf, begab sich aber dennoch widerwillig an den Kopf des Steindamms. Er zögerte noch einmal kurz, doch schließlich stieg er hinauf. !Xabbu folgte ihm, dann kamen Sam und Jongleur. Sam staunte über die Massivität des Bauwerks – sie wußte, daß sie erst einen Tag zuvor an genau dieser Stelle vorbeigekommen waren, aber zu dem Zeitpunkt war da keine Brücke gewesen.

Azador tat ein paar Schritte, dann blieb er stehen. »Nein«, sagte er mit einem seltsam entrückten Ton in der Stimme. »Erst… erst müssen wir etwas sagen.«

Sie warteten gespannt.

 

»Ele mele mink mank«,

 

murmelte Azador, und ein Gefühl, das Sam sich nicht zu deuten wußte, machte ihm hörbar die Kehle eng,

 

»Pink pank

Use buse ackadeia

Rille ralle rüber.«

 

Nach kurzem Zaudern schaute er sich zu ihnen um und schritt dann hinaus auf den steinernen Pfad über dem glitzernden, träge fließenden Wasser. Betroffen erkannte Sam, daß die Augen des Mannes jetzt, von der Binde befreit, tränennaß waren.

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
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