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Der Junge im Brunnen
NETFEED/MUSIK:
Christ nicht glücklich als »Superstar«
(Bild: Christ mit Blond Bitch auf der Bühne)
Off-Stimme: Lose angelehnt an die Geschichte des Sängers Johann Sebastian Christ, den sowohl die schweren körperlichen Schädigungen einer Adrenochromsucht als auch den Verlust seiner Band bei einem grausigen Bühnenunfall überstand, soll ein Netzdrama gedreht werden – aber dazu müßte eine entscheidende Hürde genommen werden.
(Bild: Entertainmentjournalistin Patsy Lou Corry)
Corry: »Anscheinend wird das Netzwerk stark von fundamentalistischen Werbekunden unter Druck gesetzt, weil diese keine Figur namens Christ haben wollen, die eine Hundemaske trägt und von der Taille abwärts nackt auftritt, von etwas weniger krassen Ticks ganz zu schweigen. Das Netzwerk hat den Vorschlag gemacht, die Figur in ’Johann Sebastian Superstar’ umzubenennen. Christ will das Projekt abblasen, aber die bereits vom Netzwerk empfangenen Zahlungen zurückgeben möchte er nicht. Es läuft wohl auf einen Prozeß hinaus.«
(Bild: Christ in einer Pressekonferenz)
Christ: »Ein Verfahren? Wißt ihr, was die von International Entertainment mich mal können? Die können mich mal kreuzweise, können die mich …«
> »Wie Schule, äi«, jammerte T4b.
Pauls Schulzeit lag lange zurück, aber er wußte, was der Goggleboy damit meinte.
Sie mußten schon Stunden in der Blase eingeschlossen sein, hatte Paul das Gefühl, vielleicht einen halben Tag. Unter anderen Umständen wäre die abenteuerliche Fahrt auf dem reißenden Fluß faszinierend gewesen, denn sie hatten dabei einen großen Teil von Kunoharas Dschungel bewundern dürfen, riesige Mangrovenbäume mit tief ins Wasser greifenden Wurzeln, phantastisch verflochtene Strukturen aus Rinde, die im Vergleich zu ihnen so groß waren wie ganze Städte. Ungeheure Fische hatten sie angestupst, aus dem Flußschlamm heraufgekommene neugierige Leviathane, aber zum Glück hatte keiner die eigenartige Blase für wert befunden, geschluckt zu werden. Vögel mit Flügelspannweiten wie Jumbojets und bunt wie eine Explosion in der Feuerwerksfabrik des Herrgotts persönlich, eine Ratte von der Größe eines Lagerhauses, Wasserkäfer so groß wie Motorboote – sie waren an Wundern aller Art vorbeigetragen worden. Aber sie waren zu viert in einer Kugel gefangen, in der sie kaum Platz hatten, die Beine zu strecken, und sie waren steif und elend und langweilten sich.
Zu allem Überfluß hing auch noch Renies unbeendeter Hilferuf in der abgeschotteten Luft der Blase wie eine Giftgaswolke. Sie war irgendwo in Gefahr, und ihre Freunde konnten nichts unternehmen.
Da sie nichts anderes tun konnten als dösen und sich unterhalten, hatten sie stundenlang gerätselt und debattiert, und dennoch, fand Paul, waren sie jetzt im nachhinein kein bißchen näher dran, eine der Fragen zu lösen, die sie bedrängten. Er hatte alles berichtet, woran er sich bis dahin von seinem Leben in Jongleurs Turm erinnerte, doch obwohl die anderen interessiert gelauscht hatten, waren sie auch auf keine Idee gekommen, was die Fragmente bedeuten mochten.
»Und was nu?« unterbrach T4b schließlich das lange Schweigen. »Einfach so schwuppdiwupp immer weiter?«
Paul lächelte traurig. Er persönlich hatte an Zwinkel, Blinkel und Nuß und ihre Fahrt im Holzschuh gedacht, aber die Assoziation war im wesentlichen die gleiche.
»Wir fahren in die nächste Simulation hinüber«, erklärte Florimel matt. »Wenn wir an das Gateway kommen, wird Martine versuchen, es so zu betätigen, daß wir zurück nach Troja kommen und von dort vielleicht an den Ort, wo Renie und die andern sich befinden. Das haben wir doch schon alles beredet.«
Paul sah Martine an, die im Augenblick nicht den Eindruck machte, etwas Komplizierteres als ein Handtuch oder einen Löffel betätigen zu können. Die Blinde schien ihr früheres Selbstvertrauen verloren zu haben, wenigstens für den Augenblick, und war völlig in sich zusammengesunken. Ihre Lippen bewegten sich, als führte sie Selbstgespräche. Oder betete.
Ich hoffe, sie macht uns nicht schlapp, dachte er mit jäher Furcht. Jetzt, wo Renie weg ist, ist sie unsere treibende Kraft. Florimel ist klug und tapfer, aber sie denkt nicht voraus wie diese beiden, sie wird wütend und mutlos. T4b – na ja, er ist ein Teenager, und zudem einer mit ziemlich wenig Geduld.
Und was ist mit mir? Allein bei dem Gedanken, für das Leben dieser Menschen Verantwortung zu übernehmen, wurde ihm mulmig. Ja, aber das ist lachhaft, Mann, und das weißt du auch genau. Du hast in den letzten Wochen Sachen mitgemacht, die niemand – niemand! – in der wirklichen Welt je erlebt, geschweige denn überlebt hat. Von Ungeheuern gejagt, in dem scheiß Trojanischen Krieg gekämpft. Warum solltest du nicht die Führung übernehmen, wenn es nötig ist?
Weil es schon schwer genug ist, einfach Paul Jonas zu sein, antwortete er sich selbst. Weil mir ein großes Stück meines Lebens fehlt und ich schon damit kaum zurechtkomme. Weil ich hundemüde bin, darum.
Irgendwie hörten sich diese Ausreden nicht sehr überzeugend an.
Martine richtete sich mühsam aus ihrer kraftlosen Haltung auf. »Es quält mich«, sagte sie. »So vieles quält mich.«
»Wen nicht?« schnaubte Florimel.
»Weil du denkst, daß Kunohara einen Informanten unter uns hat?« fragte Paul sie.
»Nein. Wenn es so ist, können wir nichts daran ändern, und wenn ihr alle sagt, daß dem nicht so ist, will ich euch glauben.« Doch ihre blinden Augen blieben eine Zeitlang auf T4b gerichtet, was diesem sichtlich unbehaglich war. »Was mich quält, ist dieses Lied, das … tja, ich muß wohl sagen, das das Betriebssystem gesungen hat. Ein Lied, das ich ihm wahrscheinlich beigebracht habe.«
»Wie wär’s, wenn du es den Andern nennst«, meinte Florimel. »Der Name scheint gebräuchlich zu sein, und eingängiger ist er auch.«
Martine winkte ungeduldig ab. »Von mir aus. Nein, mich quält der Gedanke, daß darin möglicherweise Antworten auf einige unserer Fragen liegen, aber ich kann mich an diese Zeit, die Ereignisse damals, nur sehr schlecht erinnern.«
Paul zuckte mit den Achseln. »Wir wissen gar nichts außer dem bißchen, was du uns erzählt hast.«
»Und mehr möchte ich darüber auch nicht erzählen. Ich war … ein Versuchsobjekt. Ich unterhielt mich bildlos mit einem anderen Kind – jedenfalls glaubte ich, es wäre eines, ein seltsames, geradezu beängstigendes, aber auch mitleiderregendes Kind. Ich spielte mit ihm, wie vermutlich andere Kinder in dem Institut auch. Ich erzählte ihm Geschichten, sang ihm Lieder vor. Ich denke, ich habe ihm das Lied beigebracht, das es gesungen hat…« Sie brach ab und starrte ins Leere.
»Und jetzt denkst du, daß dieser Spielgefährte damals eine KI war?« beendete Paul den Satz für sie. »Daß sie dieses Betriebssystem aus irgendeinem Grund … zum Menschen ausbilden wollten?«
T4b schüttelte den Kopf. »Blockastisch. Diese alten Gralssäcke sind echt auf’m Gigascän, was?«
»Geschichten«, sagte Martine leise. »Ja, es gab eine Geschichte zu dem Lied. Ein Märchen. Wie ging es nochmal? Gott, es ist so lange her!«
»Ich erinnere mich nicht mehr an das Lied«, sagte Florimel. »Es war verwirrend, wie sich die Ereignisse auf dem Berg überstürzten. Erschreckend.«
Martine hob die Hände, wie um das Gleichgewicht zu halten. Die anderen verstummten. Paul rechnete mit einer großen Eröffnung, doch die blinde Frau sagte nur: »Wir sind fast da.«
»Was? Wo?«
»Am Ende der Simulation. Ich fühle … den Absturz. Das Aufhören.« Sie drehte langsam den Kopf hin und her. »Ich muß Ruhe haben. Ich wünschte, wir könnten anlegen und langsam zu Fuß durchgehen, aber da wir unsere Fahrt nicht steuern können, muß ich es nehmen, wie es kommt. Wenn ich uns nach Troja bringen kann, werde ich es tun. Wenn nicht, werden wir weiß Gott wo landen.«
Alle schwiegen eine Weile, und währenddessen tanzte die Blase weiter mit dem Fluß auf und ab.
»Werden wir auf der andern Seite ein Boot haben?« fragte Florimel mit rauher Stimme.
Martine schüttelte unwillig den Kopf und reagierte nicht auf die Frage. Ihre Aufmerksamkeit war auf etwas anderes gerichtet, das keiner der übrigen wahrnahm.
»Warum fragst du?« wollte Paul wissen.
»Dies ist kein richtiges Wasserfahrzeug«, antwortete Florimel. »Bei unserem ersten Besuch hier haben wir die Simulation zu Fuß verlassen. Renie und !Xabbu hatten einen der Flieger des entomologischen Instituts, der sich hinter dem Gateway in etwas anderes verwandelte. Aber was ist das hier?« Sie breitete die Arme aus. »Es ist eine Blase, ein Ding, das es gar nicht gab, bevor Kunohara es hervorbrachte. Wird es drüben in veränderter Form erhalten bleiben? Oder wird es einfach … verschwinden?«
»Schreck laß nach.« Paul faßte Martines Hand. »Jeder hält sich am Nebenmann fest. Auf die Weise bleiben wir wenigstens im Wasser zusammen.« Die Blinde schien es gar nicht zu registrieren. Florimel nahm ihre andere Hand, dann hakten sie beide T4b unter, der ganz blaß und genauso schweigsam geworden war wie Martine. Die Fahrt schien jetzt schneller zu werden, und die Blase hüpfte durch weiße Schaumstreifen. »Ich glaube, gleich kommt der nächste Wasserfall.« Paul bemühte sich um eine ruhige Stimme.
»Wird alles blau, irgendwie«, stöhnte T4b, genauso um Fassung bemüht wie Paul. »So funklig.«
»Festhalten!« Florimel schloß die Augen. »Falls wir im Wasser landen, holt vorher tief Luft. Nicht strampeln und nicht schwimmen, solange ihr nicht wißt, wo oben und unten ist.«
»Falls wir das unterscheiden können«, sagte Paul, aber kaum lauter als flüsternd. Neben ihm war Martine stocksteif geworden, hart auf irgendein unfaßliches Signal konzentriert.
Die Strömung hatte sich eindeutig beschleunigt, und die Blase schnellte mit minimaler Oberflächenberührung dahin. Ein scharfer Ruck riß sie zur Seite, und Florimel und T4b stiegen in die Höhe und krachten dann unsanft auf Paul herunter, Ellbogen und Knie zuerst. Dennoch schafften sie es, die Hände nicht zu lösen, und im nächsten Moment richtete sich die Blase wieder auf, und sie lagen wortlos keuchend auf dem Rücken.
Um sie herum schoß blaues Feuer in glitzernden Fontänen empor. Die Blase flog in einem wilden Wirbel auf und nieder.
Wohin kommen wir? dachte Paul, als sie abermals kopfüber durcheinander purzelten. Lieber Gott, wohin jetzt?
Ein Gewoge aus blauen Funken umschloß sie vollkommen. Martine ächzte vor Schmerz und kippte auf Pauls Schoß, und im selben Augenblick platzte die Blase, und von allen Seiten stürzte schwarzes Wasser auf sie ein.
»Wir leben noch«, stellte Paul fest. Er sprach es auch deswegen aus, weil er sich nicht ganz sicher war, daß es stimmte. Die Blase war eben erst fort, und schon vermißte er sie sehr. An ihre Stelle war ein kleines, roh gezimmertes Boot getreten, das so aussah, als wollte es eher gestakt als gerudert werden, auch wenn keine Stangen an Bord waren, Ruder ohnehin nicht. Das stürmische Unwetter, das sie am Gateway empfangen hatte, war vergangen, aber jetzt waren sie klatschnaß, und die Luft war frostig. Pauls nasse Sachen knisterten bereits von Eis.
Der Fluß, auf dem sie trieben, war schwarz. Das Land, soweit sie es durch den Dunst erkennen konnten, war völlig weiß. Sie fuhren durch eine Winterwelt.
»Was macht Martine?« fragte Florimel.
Paul zog die blinde Frau an sich. »Zittert, aber ist ansonsten okay, glaube ich. Martine, kannst du mich hören?«
T4b ließ den Blick über die arktisch wirkende Landschaft schweifen. »Sieht mir nicht nach diesem Trojadings aus.«
Martine stöhnte leise und schüttelte den Kopf. »Ist es auch nicht. Ich konnte in den Daten am Gateway die trojanische Simulation nicht finden.« Sie schlang fest die Arme um sich, aber hörte nicht auf zu zittern. »Es mußte alles so schnell gehen. Viele der Durchgänge waren zu – die Gateway-Übersicht war wie ein Hochhaus, bei dem die meisten Lichter aus sind.«
»Wo sind wir dann?« fragte Florimel. »Und was machen wir, wenn wir nicht nach Troja können?«
»Erfrieren, wenn wir nicht bald ein Feuer anzünden«, stieß Paul zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Auch er schlotterte jetzt. »Um andere Dinge können wir uns später kümmern, wenn wir die Überlebensfrage gelöst haben. Wir müssen an Land gehen.« Er wünschte, er wäre sich innerlich seiner Sache so sicher, wie er sich äußerlich gab. Diese Simwelt am Fluß erinnerte ihn sehr an seine Eiszeitwelt, so sehr er hoffte, daß der Schein trog. Er wurde den Gedanken an die riesigen Hyänen nicht los, die ihn in einen eisigen Fluß genau wie diesen hier gehetzt hatten. Er wollte nicht noch mehr Exemplaren urzeitlicher Megafauna begegnen.
»Es gibt hier nirgends einen geeigneten Platz für ein Feuer und Brennmaterial genausowenig.« Florimel deutete auf die verschneiten Buckel, die sich von den Ufern bis zu den trüben, nebelverhangenen Bergen in der Ferne erstreckten. »Oder seht ihr irgendwelche Bäume? Holz oder sowas?«
»Die Hügel da vorne«, sagte Paul, »dort an der Flußbiegung. Wer weiß, was dahinter liegt – oder darunter? Vielleicht ist das hier eine futuristische Simwelt, und es gibt atomgeheizte unterirdische Häuser oder etwas in der Art. Wir können nicht einfach nichts tun, sonst erfrieren wir.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Florimel. »Keinem von uns geht es wie Renie und !Xabbu, deren wirkliche Körper in einer Flüssigkeit schweben. Unsere Körper befinden sich alle irgendwo bei Zimmertemperatur. Wie sollen wir erfrieren? Unsere Nerven können ein Kältegefühl suggeriert bekommen, aber das ist etwas anderes, als tatsächlich kalt zu sein.« Ihren Worten zum Trotz bebte auch sie inzwischen am ganzen Leib. »Psychosomatisch können wir vielleicht dazu gebracht werden, mehr Wärme abzugeben, wie wenn wir Fieber hätten, aber man kann uns doch unmöglich zwingen, von innen heraus zu erfrieren, oder?«
»Nach dieser Logik«, bemerkte Martine unter Zähneklappern, »hätten wir auch nicht von einer Riesenspinne entzweigebissen werden können, es wäre nur eine taktile Illusion gewesen. Aber keiner von uns war besonders erpicht darauf, diese Hypothese auf die Probe zu stellen, was?«
Florimel machte den Mund auf und wieder zu.
»Wie dem auch sei, wir müssen etwas finden, das wir als Paddel nehmen können«, warf Paul ein. »In dem Tempo brauchen wir Tage, um hier durchzukommen.«
»Klar ist bloß eins: Eis total«, murrte T4b. »Drüber hickhacken bringt gar nichts. Warm werden will ich, äi.«
»Wir sollten uns eng zusammensetzen«, sagte Martine. »Die somatische Wahrheit mag sein, wie sie will, aber ich erkenne, daß unseren virtuellen Körpern sehr rasch die Wärme entweicht.«
Sie drängten sich in der Bootsmitte zusammen. In diesem Fall hatte nicht einmal der ungesellige T4b etwas dagegen. Das Boot trieb dahin, aber die Strömung war träge, die schwarze Wasseroberfläche glatt wie Glas.
»Wir sollten uns unterhalten«, meinte Paul nach einer Weile, »damit wir auf andere Gedanken kommen. Martine, du hast gesagt, es gäbe eine Geschichte zu dem Lied, das … das der Andere gesungen hat.«
»Genau das ist das P-Problem.« Es schüttelte sie mittlerweile so heftig, daß sie kaum noch reden konnte. »Ich k-k-kann mich nicht mehr daran e-erinnern. Es ist so lange her. Es war bloß ein altes Märchen. Über einen J-Jungen, einen kleinen Jungen, der in ein Loch f-fiel.«
»Sing das Lied mal.« Besorgt begann Paul, ihr die Arme und den Rücken zu rubbeln, um durch Reibung eine gewisse Wärme zu erzeugen. »Vielleicht kommen wir dadurch auf irgendwas.«
Martine blickte zweifelnd, fing aber trotzdem mit leiser, bebender Stimme zu singen an. »Ein … ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt…« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ein Fluß … nein, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.«
Jetzt erinnerte Paul sich wieder deutlich an die unheimliche hallende Stimme auf dem schwarzen Berggipfel. »Und du meinst, es könnte irgendwie von Bedeutung sein …?«
»Ich kenne die Geschichte«, sagte Florimel unvermittelt. »Es ist eines von Eirenes Lieblingsmärchen. Aus der Gurnemanzschen Sammlung.«
»Du kennst es aus einem deutschen Buch?« Martine staunte. »Aber es ist ein altes französisches Märchen.«
»Was ist das?« fragte T4b.
»Ein M-Märchen …?« Martine blickte völlig entgeistert. »Du w-w-weißt nicht, was ein Märchen ist? Mein Gott, was haben sie mit unseren K-Kindern gemacht?«
»Quack«, sagte T4b ärgerlich. »Was ist das?«
Er deutete auf eine verschneite Erhebung vielleicht tausend Meter voraus, den ersten der Schneehügel, die Paul schon vorher aufgefallen waren.
»Ein Haufen Schnee.« Paul sagte es ein wenig schroff, weil er hören wollte, was Florimel über das Märchen zu sagen hatte. Da aber sah er verblüfft und beschämt etwas glitzern, das weder Schnee noch Eis war. »Mensch, du hast recht, da ist ja ein Turm dran. Ein Turm!«
»Hältst mich wohl für blind, was?« knurrte T4b. Dann stutzte er und wandte sich Martine zu. »War nicht als Hammer gemeint, äi.«
»Schon gut.« Sie drehte sich in die Richtung. »Ich k-kann keinerlei Spuren von Leben erkennen. Kaum zu m-m-merken, daß außer Eis und Schnee überhaupt etwas da ist. Was seht ihr?«
»Es ist die Spitze eines Turmes.« Paul kniff die Augen zusammen. »Er ist … sehr schlank. Wie ein Minarett. Verziert. Aber was darunter ist, kann ich nicht erkennen. Verdammt, ist diese Strömung langsam!«
»Ein Minarett, ja«, bestätigte Florimel.
»Vielleicht ist das hier der Mars, wo ich vorher schon mal war«, sagte Paul aufgeregt. »Diese komische spätviktorianische Abenteuerwelt. Da gab es viele maurisch aussehende Bauten.« Sein Blick überflog die endlose weiße Ödnis, die sich beiderseits des Flusses erstreckte. »Aber was hat es hier für eine Klimakatastrophe gegeben?«
»Dread«, antwortete Martine leise. »Die Klimakatastrophe heißt Dread, jede Wette.«
Alle hielten jetzt angestrengt Ausschau, alle bis auf Martine, deren zitterndes Kinn auf die Brust gesunken war. Als sie der großen, schneebedeckten Wölbung mit dem einzelnen hochragenden Turm näher kamen, erblickte Paul auf ihrer Höhe am Ufer eine viel kleinere Gestalt, halb zugedeckt von einer Schneewehe. »Was zum Teufel ist das?«
T4b lehnte sich so weit aus dem Boot, daß es beinahe kenterte. »Eins von den Dingern in Tut-Tut und die Sphinx, irgendwie«, sagte er. »Die Netzshow für Mikros, gelt? Dieses Vieh mit so Buckeln, wo sie da drauf reiten.«
Paul, dessen Kenntnis der populären Kultur seit seinem Schulabgang rapide nachgelassen hatte, konnte nur den Kopf schütteln. »Eine Sphinx?«
»Er meint ein Kamel«, erläuterte Florimel. Wenn sie die Zähne nicht so fest zusammengebissen hätte, damit sie nicht klapperten, hätte sie vermutlich laut gelacht. »Es ist ein erfrorenes Kamel. Gab es auf deinem Mars Kamele?«
»Nein.« Jetzt, wo sie näher dran waren, sah er, daß der Junge abermals recht hatte. Das tote Kamel lag am Rand des Flusses auf den Knien, die Zähne zu einem schaurigen Grinsen gebleckt, die Haut an Hals und Kopf so straff, daß es regelrecht mumifiziert aussah, aber es war definitiv ein Kamel. »Wir müssen in Orlandos Ägypten sein. Oder so wo.«
Martine fuhr auf. »Dieser Mann n-namens Nandi. Wenn wir in Ägypten sind, k-k-können wir ihn vielleicht finden. Orlando und Fredericks meinten, er wäre der Experte des Kreises für Gateways. Er könnte uns unter Umständen helfen, zu Renie und den anderen zu gelangen.«
»Muß’n Eis am Stiel sein, wenn er hier ist«, bemerkte T4b.
»Altägypten mit Minaretten?« sagte Florimel zweifelnd. »Na, auf jeden Fall habe ich meine Meinung geändert, was das Aushalten der Kälte angeht. Los, steuern wir diesen Turm an, oder unsere ganzen Spekulationen werden für die Katz sein, weil wir auch bald … Eis am Stiel sind.«
»Wir müssen mit den Händen paddeln«, sagte Paul. »Da sollten wir uns beeilen, wenn wir uns nicht alle Erfrierungen zuziehen wollen.«
»Wir wechseln uns ab«, schlug Martine vor. »Zwei paddeln, die anderen beiden wärmen sich die Hände auf. Los!«
Als er die Finger in den dunklen Fluß tauchte, hatte Paul im ersten Moment nur ein eisig klares Gefühl wie beim Betupfen mit Alkohol vor einer Injektion. Dann begann seine Haut wie Feuer zu brennen.
Zum Glück mußten sie sich ihren Weg nur durch Schnee und nicht durch Eis bahnen, um zu dem offenen Eingangsbogen des Gebäudes mit dem weiß überkrusteten hohen Turm zu gelangen, wofür Paul ungemein dankbar war. Gleich darauf standen sie in einem prächtigen Vorraum, der vom Boden bis zur Decke mit wunderschönen verschlungenen und sich rhythmisch wiederholenden Rankenformen in Rot, Schwarz und Gold bemalt war. Sie blieben jedoch nicht bewundernd stehen, sondern eilten schleunigst weiter, die taub gefrorenen Hände fest an den Leib gepreßt.
Nach drei weiteren Türen und drei weiteren Prunkräumen kamen sie in ein kleineres Zimmer mit durchgehenden Bücherwänden voll erlesener Lederbände, wo sie die herrliche Entdeckung einer gekachelten Feuerstelle und eines ordentlichen Holzstapels machten.
»Es ist feucht«, bemerkte Paul, während er mit plumpen, kribbelnden Fingern Holzscheite im Kamin aufschichtete. »Wir brauchen Anzündmaterial. Von Streichhölzern ganz zu schweigen.«
»Anzündmaterial?« Florimel zog ein Buch aus einem Regal und fing an, Seiten herauszureißen. Erst kam es Paul wie ein Sakrileg vor, doch nach kurzem Überlegen hatte er den Eindruck, mit dem Gefühl leben zu können. Er betrachtete eine Seite und sah, daß der Text in Englisch war, auch wenn die krakeligen Lettern der Schrift arabisch wirkten. Während er Seiten zerknüllte und um das Holz verteilte, erspähte er in einer Nische in der Kachelung außen am Kamin ein hübsches Lackkästchen. Er klappte es auf und hielt es hoch. »Feuerstein und Stahl, denke ich mal, Gott sei Dank. Ich wünschte, !Xabbu wäre hier. Oder kennt sich sonst noch jemand damit aus?«
»Bis zu meinem zehnten Lebensjahr hatten wir in der Harmoniegemeinde keinen Strom«, sagte Florimel. »Gib her.«
Eine gute Viertelstunde verging, bis das Geräusch das Zähneklapperns verstummte und Paul die Hände von der wunderbaren Wärme des Feuers zurückzog. Auf einem Erkundungsgang stieß er auf einen Lagerraum voll weicher Teppiche und Decken, die er und die anderen sich umhängten wie Mäntel. Aufgewärmt, so daß er sich fast wieder wie ein Mensch fühlte, griff er sich eines der verschont gebliebenen Bücher und schlug es auf.
»Es soll mit Sicherheit Arabisch nachahmen – dieses Buch ist Seiner Majestät dem Kalifen Harun al-Raschid gewidmet. Hmmm. Scheint eine Geschichte von Sindbad dem Seefahrer zu sein.« Paul blickte zu den Regalen auf. »Ich glaube, das ist eine Bibliothek von Tausendundeine Nacht.«
»In dem Eisloch bleib ich keine tausend Nächte«, protestierte T4b. »Kannste blocken. Doppelblock.«
»Das ist bloß der Name eines Buches«, klärte Paul ihn auf. »Eine berühmte alte Märchensammlung.« Er wandte sich an Florimel und Martine. »Dabei fällt mir ein …«
»Ich sage doch, ich kann mich nicht mehr an die Geschichte erinnern«, wehrte Martine ab.
»Aber ich.« Florimel rutschte ein Stückchen vom Feuer weg. In den Teppich gemummt und mit dem notdürftigen Verband über ihrem Auge und der dazugehörigen Kopfhälfte sah sie mehr denn je wie eine mittelalterliche Hexe aus.
Komisch, dachte Paul, wo doch Martine die Hexe der Gruppe ist. Der Einfall war merkwürdig, aber deswegen um nichts weniger treffend.
»Ich werde sie so erzählen, wie ich sie in Erinnerung habe.« Die Deutsche blickte finster in die Runde, wodurch sie noch einschüchternder wirkte als ohnehin schon. »Gemerkt habe ich sie mir nur, weil meine Tochter sie – und mehrere andere aus dieser Märchensammlung von Gurnemanz – viele, viele Male hören wollte, also unterbrecht mich nicht, sonst komme ich aus dem Erzählfluß und vergesse Teile. Martine, ich bin sicher, sie wird anders sein als die Version, die du kennst, aber darüber reden wir später, einverstanden?«
Paul sah den Anflug eines Lächelns über das Gesicht der Blinden huschen. »Einverstanden, Florimel.«
»Gut.« Sie strich ihre feuchten, aber trocknenden Kleider zurecht und öffnete den Mund, dann schloß sie ihn wieder und funkelte T4b an. »Und die Stellen, die du nicht verstehst, erkläre ich hinterher. Ist das klar, Javier? Wenn du mich unterbrichst, schmeiß ich dich raus in den Schnee!«
Paul rechnete mit einer zornigen oder wenigstens entrüsteten Reaktion, aber der junge Bursche schaute amüsiert drein. »Chizz. Meckersäcke schrotten. Ich hör schon zu.«
»Schön. Also, soweit ich mich erinnere, ging das Märchen so.«
»Es war einmal ein Junge, der war der Augenstern seiner Eltern. Sie liebten ihn innig, und damit ihm auch ja nichts Böses widerfuhr, besorgten sie ihm einen Hund als Gefährten. Den Hund nannten sie Nimmermüd, und er war wachsam und treu.
Doch auch die Liebe zweier Eltern und die Gnade Gottes ist keine Gewähr gegen Unglück. Eines Tages, als sein Vater draußen bei der Feldarbeit war und seine Mutter mit den Vorbereitungen fürs Abendessen beschäftigt, entfernte sich der Junge weit von zuhause. Nimmermüd wollte ihn aufhalten, der Junge aber gab dem Hund einen Klaps und schickte ihn fort. Der Hund lief die Mutter des Jungen holen, und sie machte sich auf, ihn zu suchen, doch bevor sie ihn finden konnte, fiel der Junge in einen verlassenen Brunnen.
Ganz lange stürzte und rollte und überschlug sich der Junge, und als er endlich am Grund des Brunnens aufkam, befand er sich in einer Höhle tief in der Erde, neben einem unterirdischen Fluß. Als die Mutter sah, was geschehen war, lief sie und holte ihren Mann, doch kein Seil, das sie im Hause hatten, reichte bis auf den Grund. Sie riefen alle anderen Bewohner ihres Dorfes zusammen, aber auch als sie sämtliche Seile zusammengebunden hatten, kamen sie damit nicht in die Tiefe, wo der Junge saß.
Die Eltern riefen zu dem Jungen hinunter, er müsse tapfer sein, sie würden schon einen Weg finden, ihn aus dem tiefen, tiefen Loch herauszuholen. Er hörte sie und schöpfte etwas Mut, und als sie ihm etwas zu essen hinunterwarfen, in Blätter gewickelt, um den Fall zu dämpfen, da schien ihm doch noch nicht alles verloren.
Doch tief in der Nacht, als seine Eltern und die andern Dorfbewohner sich endlich schlafen gelegt hatten, da fühlte der Junge sich wieder ganz allein am Grund des Brunnens, und er weinte und betete zu Gott.
Niemand war noch wach außer Nimmermüd, und als der treue Hund seinen kleinen Herrn weinen hörte, rannte er los, um in der weiten Welt jemanden zu finden, der dem Jungen im Brunnen helfen konnte.
Die Eltern warfen ihm jeden Tag zu essen hinunter, und trinken konnte er aus dem unterirdischen Fluß, aber dennoch war er traurig und einsam, und allnächtlich, wenn er sich unbelauscht wähnte, weinte er. Da sein Hund Nimmermüd unterwegs war, Hilfe suchen, gab es niemand mehr, der ihn hörte – niemand als den Teufel, denn der wohnt ja tief in der Erde. Der Teufel kann aber kein fließendes Wasser überqueren, und so konnte er sich den kleinen Jungen nicht greifen und mit hinab in die Hölle nehmen, doch er stellte sich in der Dunkelheit auf die andere Seite des Flusses und quälte den Jungen, indem er ihm vorlog, seine Eltern hätten ihn vergessen, alle oben am Licht hätten längst die Hoffnung aufgegeben, ihn herausholen zu können. Das Weinen des Jungen wurde immer heftiger, bis ein Engel ihn hörte und ihm in der Dunkelheit in Gestalt einer bleichen schönen Frau erschien.
›Gott wird dich schützen‹, sprach die Engelfrau zu dem Jungen und küßte ihn auf die Wange. ›Begib dich in den Fluß, und alles wird gut werden.‹
Der Junge tat wie geheißen, und als er naß und zitternd wieder herauskam, sang er ein Lied, das ging: ›Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.‹
In der zweiten Nacht sandte der Teufel aus den finsteren Tiefen eine Schlange, die den Jungen angriff, doch Nimmermüd hatte einen Jäger gefunden, einen tapferen Mann mit einem guten Gewehr, und ihn zum Rand des Brunnens gebracht. Der Jäger konnte zwar den Jungen nicht aus der Tiefe heraufholen, aber mit seinen scharfen Augen sah er die Schlange gekrochen kommen und tötete sie mit einem Schuß, und da war der Junge vor der Gefahr gerettet. Wieder sprach er seine Gebete, stieg in den Fluß und sang beim Herauskommen: ›Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.‹
In der nächsten Nacht ließ der Teufel den Jungen von einem Geist angreifen. Nimmermüd aber hatte einen Priester an den Rand des Brunnens gebracht. Der Priester konnte zwar den Jungen nicht aus der Tiefe heraufholen, doch als er den Geist kommen sah, warf er seinen Rosenkranz hinunter und trieb damit den Geist in die Hölle zurück. Der Junge sprach ein Dankgebet und stieg in den Fluß, und beim Herauskommen sang er wieder: ›Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.‹
In der Nacht darauf schickte der Teufel alle Heerscharen der Hölle gegen den Jungen aus, aber Nimmermüd hatte ein Bauernmädchen an den Rand des Brunnens gebracht. Es sah nicht so aus, als ob sie gegen alle Heerscharen der Hölle irgend etwas ausrichten könnte, doch in Wahrheit war sie gar kein Bauernmädchen, sondern der Engel, der ihm eingangs geholfen hatte, und als sie mit einem feurigen Schwert in der Hand in den Brunnen hinabflog, wichen die höllischen Heere vor Furcht zurück.
›Gott wird dich schützen‹, sagte der Engel zu dem Jungen und küßte ihn auf die Wange. ›Begib dich in den Fluß, und alles wird gut werden.‹
Der Junge ging ins Wasser, doch als er wieder herauskommen wollte, hob die Engelfrau die Hand und schüttelte den Kopf. ›Gott wird dich schützen‹, sprach sie. ›Alles wird gut werden.‹
Da erkannte der Junge, was er tun sollte, und statt aus dem Wasser zu steigen, ließ er sich vom Fluß mitnehmen. Er trieb lange durch völlige Finsternis, doch immer noch fühlte er den Kuß des Engels, der ihm Wärme und Sicherheit einflößte, und als er zuletzt wieder ins Helle kam, da war es das Licht des Paradieses, das von Gottes Angesicht ausstrahlt. Und bald darauf gesellten sich sein Hund Nimmermüd und seine beiden liebenden Eltern zu ihm, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch dort.«
»Ein paar Sachen stimmen sicher nicht ganz«, sagte Florimel, nachdem sie alle eine Weile schweigend dem Knacken und Zischen des Feuers gelauscht hatten. »Aber das ist ungefähr die Geschichte, die ich so viele Male meiner … meiner Eirene vorgelesen habe.« Sie verzog das Gesicht und rieb sich ihr gutes Auge. Zwischen Mitgefühl und Höflichkeit hin- und hergerissen, blickte Paul zur Seite.
»Du wolltst noch was zu den Stellen sagen, die unklar sind, nicht?« meldete sich T4b.
»Welche Stellen sind dir denn unklar?«
»Alle.«
Florimel lachte schnaubend. »Das sagst du bloß aus Witz. Du bist nicht dumm, Javier, und das ist ein Märchen für Kinder.«
Er zuckte mit den Achseln, aber erhob keine Einwände. Paul fragte sich, ob der verstockte Teenager langsam menschlichere Seiten entwickelte. Vielleicht zeigte die schlichte Tatsache Wirkung, daß er keinen Panzer mehr anhatte.
»War das ungefähr so, wie du es in Erinnerung hast, Martine?« fragte Florimel. »Dasselbe Märchen? Martine?«
Die blinde Frau riß den Kopf hoch, als erwachte sie aus einem Traum. »Oh, entschuldige, ja, es ist im großen und ganzen gleich, denke ich – es ist so lange her. Ein paar kleine Unterschiede gibt es. Der Hund in meiner Version damals hieß irgendwas wie ›Schläft-nie‹, und der Jäger war, glaube ich, ein Ritter…« Sie murmelte etwas, wie immer noch in Selbstgespräche vertieft. »Es tut mir leid«, sagte sie nach ein paar Sekunden, »aber … aber das jetzt wieder zu hören, das Lied und die Geschichte dazu, das weckt in mir Erinnerungen an eine sehr schlimme Zeit in meinem Leben.« Sie hob die Hände, um Mitleidsbekundungen von vornherein abzuwehren. »Aber das nicht allein. Außerdem hat es mich zum Nachdenken gebracht.«
»Über das Lied?« fragte Paul.
»Über alles. Über Kunoharas Bemerkung, die Ursache für das eigenartige Verhalten des Betriebs… äh, des Andern könnte sein, daß ich ihm seinerzeit eine Geschichte erzählt habe. Aber ich glaube, das ist zu simpel. Viele der Kinder dort im Institut müssen ihm Geschichten erzählt haben, und auch von mir hat er bestimmt noch andere Märchen gehört. Geschichtenerzählen war eine der Sachen, zu denen wir von den Ärzten angehalten wurden, vielleicht als Maßstab für unsere Gedächtnisleistung und unsere geistige Aufgewecktheit überhaupt. Falls das Betriebssystem und seine wachsende Intelligenz gerade von diesem einen Märchen beeinflußt wurde, dann schwerlich deshalb, weil es keine anderen Geschichten zu hören bekam, keine anderen Lieder.«
Paul blinzelte. Müdigkeit überkam ihn wie eine große Welle. Nach den Gefahren in Kunoharas Insektenwelt und ihrer Flucht auf dem Fluß spürte er erst jetzt, wie erschöpft er wirklich war. »Entschuldige, aber das verstehe ich nicht.«
»Ich denke, es hat sich diese Geschichte deswegen zu Herzen genommen, wenn ich mal so sagen darf, weil sie mehr als jede andere etwas in ihm berührt hat.« Auch Martine machte einen müden Eindruck. »Der Andere muß sich und seine Situation am stärksten in ihr wiedergefunden haben.«
»Willst du behaupten, daß er sich für einen kleinen Jungen hält?« fragte Florimel mit einem Ton bitterer Belustigung in der Stimme. »Einen kleinen Jungen mit einem Hund? In einem Loch?«
»Vielleicht, aber das ist ziemlich simplifizierend ausgedrückt.« Martine ließ den Kopf hängen. »Sei bitte so gut und laß mich laut denken, Florimel. Ich habe nicht die Kraft, große Debatten zu führen.«
Die andere Frau wurde ein wenig rot, dann nickte sie. »Sprich.«
»Kann sein, daß er sich nicht für einen Jungen hält, ein menschliches Kind, aber wenn er wirklich eine künstliche Intelligenz ist, die es in bestimmter Hinsicht fast bis zum Menschen gebracht hat, dann stellt euch mal seine Gefühle vor. Wie sagte Dread neulich auf dem Berg, wo er als Riese erschien? ›Das System wehrt sich noch, aber ich weiß jetzt, wie man ihm weh tut.‹ Eine Metapher … oder nicht? Vielleicht hat das System mit seiner zunehmenden Individualität ja Sachen gemacht, die den Gralsbrüdern nicht recht waren, und sie mußten dem dann mit etwas Einhalt gebieten, das es als Schmerz empfand.«
Paul sah plötzlich das albtraumhafte Bild des gegen seine Fesseln ankämpfenden Andern wieder vor sich, eine gepeinigte, prometheische Gestalt. »Es hält sich für einen Gefangenen.«
»Für einen Gefangenen im Dunkeln. Ja, vielleicht.« Martine holte tief Luft. »Es sieht sich als einen, der ohne jeden Grund grausam bestraft wird – so wie auch der Teufel die Menschen aus reiner Lust daran quält, ihnen Leid zu bereiten. Und so sitzt es seit vielen Jahren – dreißig bestimmt, vielleicht mehr – in seiner Dunkelheit und hofft darauf, daß es eines Tages von seiner Qual erlöst und freigelassen wird, und es singt ein Lied, das ein kleiner Junge auf dem Grund eines tiefen, schwarzen Brunnens singt.« Ihr Gesicht verzog sich plötzlich, wurde bitter und kummervoll. »Ein schrecklicher Gedanke, nicht?«
»Du meinst, es hat diese Dinge … gegen seinen Willen getan?« fragte Florimel. »Was es meiner Eirene und den andern Kindern angetan hat, euerm Freund Singh – zu alledem wurde es gezwungen, wie ein Sklave? Wie ein wehrpflichtiger Soldat?« Sie schaute bestürzt. »Das kann man sich kaum vorstellen.«
»Liebe Güte, der Engel!« Paul verschlug es den Atem. »In dem Märchen. Ist das der Grund … weshalb Ava in dieser Gestalt erscheint? Weil der Andere in ihr einen Engel sieht?«
»Vielleicht.« Martine zuckte mit den Schultern. »Oder weil er sich eine menschliche Frau, die nicht zu den Legionen seiner Quälgeister gehört, nicht anders vorstellen kann. Hinzu kommt auch noch das Bild des Flusses – und der ist uns allen inzwischen mit Sicherheit vertraut.«
»Doch selbst wenn du recht hast, was nützt es uns?« brach Florimel ein längeres Schweigen. »Der Andere ist geschlagen, wenigstens der denkende Teil. Dread hat das System in seine Gewalt gebracht. Seht euch nur mal um: das Bagdad von Harun al-Raschid, in eine Eiswüste verwandelt. Dread ist kein Monster wider Willen. Er hat dieses ganze imaginäre Universum allein zu seinem Vergnügen verwüstet.«
»Ja, und jetzt, wo die Mitglieder der Bruderschaft tot oder versprengt sind, ist er unser wahrer Feind.« Martine lehnte sich an die Wand zurück. »Ich fürchte, du hast recht, Florimel, meine Überlegung hat kaum praktische Konsequenzen. Wenn wir schon den Andern mit nichts beeinflussen konnten, dann kann ich mir nicht vorstellen, womit wir Dread von seinem Treiben abbringen sollen.«
Paul setzte sich gerade hin. »Vergißt du nicht etwas? Zum Beispiel die Tatsache, daß wir Freunde haben, die noch irgendwo dort draußen umherirren? Mag sein, daß wir gegen das System nicht ankommen, mag sein, daß wir diesem vielbeschrienen Mörder und jetzigen virtuellen Gott nichts anhaben können, aber wir können verdammt nochmal versuchen, Renie und die andern zu finden.«
Einen Moment lang meinte Paul, Martine würde die Beherrschung verlieren, so jäh verfärbten sich die Wangen ihres Simgesichts. »Das habe ich nicht vergessen, Paul«, sagte sie schließlich steif. »Es ist mein Fluch, daß ich so gut wie nichts vergesse.«
»So hab ich das nicht gemeint. Aber wenn wir schon Dread nicht aufhalten können, dann können wir wenigstens probieren, aus diesem Netzwerk rauszukommen. Die Gralsbruderschaft ist weg vom Fenster, also gegen wen kämpfen wir eigentlich? Mag ja sein, daß ihr freiwillig hier seid, halbwegs, aber ich ganz bestimmt nicht.« Paul spürte, wie eine sinnlose Wut in ihm aufkochte, und bemühte sich um Beherrschung. »Na schön. Also, was ist unser nächster Schritt? Wenn die Trojasimulation abgeschaltet ist, wie kommen wir dann an Renie und die andern ran?«
»Wir wissen sowieso nicht, ob der Trick ein zweites Mal geklappt hätte«, gab Florimel zu bedenken. »Ich hatte den Eindruck, daß der Andere uns irgendwie zu sich holen wollte – daß er für uns sowas wie ein spezielles Gateway gemacht hat. Wenn die künstliche Intelligenz jetzt versklavt ist, oder auch nur unterworfen, dann bezweifle ich …«
Sie verstummte, weil Martine die gespreizte Hand hochhielt wie ein Wachposten, der draußen vor dem Lager heimliche Schritte hört.
»Ich glaube, es stimmt, was du sagst.« Martine sprach ganz langsam und bedächtig. »Ich glaube, daß der Andere uns mit Hilfe von Pauls Engel zu sich rufen wollte. Er wollte irgend etwas von uns.«
»Aber wir haben keine Ahnung, was das sein könnte«, warf Paul ein.
»Etwas Geduld, wenn ich bitten darf!« Wieder stieg der Blinden die Zornesröte ins Gesicht. »Herrje, laßt mich doch mal in Ruhe nachdenken! Es … der Andere … wollte uns aus irgendeinem Grund bei sich haben. Damit wir ihn befreien? Wie in dem Märchen?«
Paul legte die Stirn in Falten und versuchte zu begreifen, wohin ihre Überlegungen gingen. »Er … er nimmt die Geschichte wörtlich? Er will, daß wir ihn aus seinem Loch herausholen?«
»Aus seiner Gefangenschaft, ja, das könnte sein.«
»Wer von uns ist der Hund?« fragte Florimel in sarkastischem Ton. »Ich hoffe, es wird nicht erwartet, daß wir uns freiwillig für die Rolle melden.«
»Der Hund. Natürlich!« Martine nickte heftig mit dem Kopf. »Oh, könnte das wirklich sein? Vielleicht doch. Laßt mich das aussprechen, auch wenn es sich lächerlich anhört.« Sie legte die Hände an den Kopf, die Augen fest zugekniffen. »Renie sagte mir einmal, daß alle meine Sims in diesem Netzwerk sehr … gewöhnlich aussehen. Stimmt das? Beinahe wie Blankosims?«
»Ja, schon«, antwortete Florimel. »Und?«
»Sie sagte mir, nur in Troja hätte ich wie ein bestimmtes Individuum ausgesehen. Aber das lag daran, daß ich eine für die Simulation gemachte Figur zugeteilt bekam, Kassandra, eine Tochter des Königs. Ansonsten erscheine ich die ganze Zeit in der einen oder anderen Version des ursprünglichen Bäuerinnensims aus Temilún, und der ist deutlich unspezifischer als deiner, Florimel, oder als der der falschen Quan Li.«
»Zugegeben. Was folgt daraus?«
»Wir alle werden praktisch nur als Information in dieses System eingespeist, ja? Unsere wirklichen Körper mögen aussehen, wie sie wollen, in diesem System existieren wir nur als Bewußtseinsströme, als Erinnerungen und Gedanken, stimmt’s? Und das System schickt uns seinerseits Informationen über dieselben neuronalen Bahnen.«
Paul sah kurz zu T4b hinüber, weil er erwartete, daß der Teenager von der schwierigen Thematik genervt war, aber dieser hatte einfach den Kopf abgewandt und betrachtete das Feuer. Paul beneidete ihn fast um seine Fähigkeit, einfach abzuschalten. »Aber das ist doch im Grunde bloß die normale Definition derartiger VR-Environments, oder?« bemerkte er. »Man bekommt Eingaben direkt an die Sinne, Informationen aus der realen Welt werden ausgeschaltet.«
»Ah.« Martine setzte sich gerader hin. »Aber ›derartige Environments‹ gibt es nicht, davon haben wir uns zur Genüge überzeugen können. Es ist einzigartig! Einzigartig insofern, als wir nicht offline gehen können, einzigartig insofern, als wir unsere eigenen Neurokanülen nicht finden können, ja nicht einmal die primitiveren Input-Output-Geräte, die Renie und !Xabbu benutzen, obwohl wir wissen, daß sie da sind. Und als Fredericks offline zu gehen versuchte, da hatte er … nein, sie, das hätte ich fast vergessen … schreckliche Schmerzen.«
Florimel machte einen skeptischen Ton. »Das erklärt immer noch nicht …«
»Vielleicht kann das Netzwerk – genauer gesagt, das Betriebssystem, der Andere – sich nicht nur an unsere bewußten Gedanken anschließen, sondern auch an unser Unterbewußtsein.«
»Was, du meinst, es liest unsere Gedanken?«
»Ich weiß nicht, wie das gehen könnte oder wo die Grenzen wären, aber denkt doch mal nach! Wenn es Zugang zu unserem Unterbewußtsein hätte, wäre es imstande, uns zu suggerieren, wir könnten nicht offline gehen. Wie Hypnose. Unterhalb der Schwelle des Wachbewußtseins könnte es uns einreden, daß ein Herausgehen aus dem Netzwerk uns furchtbare Schmerzen bereiten würde.«
»Wahnsinn.« Paul fiel es wie Schuppen von den Augen. »Aber das würde bedeuten … daß es euch alle im Netzwerk halten wollte. Was ist mit euerm Freund Singh? Den hat es umgebracht.«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht unterstand das Sicherheitssystem, der Teil des Andern, der den Zugang zum Netzwerk überwacht, der direkteren Kontrolle der Gralsbruderschaft. Vielleicht konnte der Andere uns erst von da an, wo wir drinnen waren, richtig wahrnehmen, mit uns in Kontakt treten.« Sie wurde ganz aufgeregt. »Falls es ihm darum ging, irgendwie eine Geschichte auszuagieren, das Märchen von dem Jungen im Brunnen, dann könnte es sein, daß er in uns die gesuchten Helfer erblickte!«
»Klingt halbwegs logisch«, sagte Florimel nachdenklich. »Aber es gibt noch einiges zu klären, bevor ich bereit bin, das zu glauben. Du hast auch das mit dem Hund noch nicht erklärt. Ich sagte irgendwas über den Hund in der Geschichte, und darauf hast du angefangen, über Sims zu reden, über das Erscheinungsbild deiner Sims …?«
»Ja. Weißt du, wie dein Gesicht aussieht?«
Florimel blickte unwillig. »Spielst du auf meine Verletzungen an?«
»Nein, im normalen Leben. Weißt du, wie dein Gesicht aussieht? Natürlich weißt du das. Du hast Spiegel, du hast Fotos von dir. Jeder normale Mensch weiß, wie er aussieht. Paul, hast du deine Sims gesehen? Sehen sie dir ähnlich?«
»Die meisten. Nur nicht, wenn ich jemand Bestimmtes war, wie du schon sagtest. Odysseus etwa.« Er sah sie befremdet an, da ging ihm plötzlich ein Licht auf. »Du weißt nicht, wie du aussiehst, ist es das?«
Martine nickte. »Genau. Ich bin seit meiner Kindheit blind. Ich weiß, daß ich nicht mehr wie damals aussehe, aber was die Jahre mit mir gemacht haben, kann ich nicht wissen, höchstens tastend erahnen.«
Florimel starrte sie an. »Willst du damit sagen, daß der Andere … deine Gedanken gelesen hat?«
»In gewisser Weise, vermute ich. Er könnte sich von jedem von uns einen Eindruck verschafft haben, wer wir sind, wie wir aussehen – oder gern aussehen würden. Hat Orlando nicht gesagt, er sehe aus wie eine frühere Version seiner Figur? Wo hätte die herkommen sollen, wenn nicht aus Orlandos eigenem Unterbewußtsein?«
Obwohl Paul immer noch sehr müde war, konnte er sich der Faszination dieser neuen Perspektive nicht entziehen. »Das war mir damals recht merkwürdig, als er es mir erzählte. Vieles davon war mir merkwürdig, aber an ungelösten Fragen war ja kein Mangel.«
»Natürlich nicht«, gab Martine ihm recht. »Wir mußten Tag für Tag um unser Leben kämpfen, und das unter Bedingungen, denen vorher noch nie ein Mensch ausgesetzt war. Da braucht es lange, bis bei einem der Groschen fällt, wie ihr Deutschen sagt, Florimel.«
»Und was fangen wir nun mit diesem Wissen an, wenn es denn zutrifft?« fragte Paul.
»Ich bin noch nicht fertig.« Sie wandte sich wieder an Florimel. »Du hast nach dem Hund gefragt. Orlando war nicht der einzige von unserer Gruppe, der mit seinem Anderlandsim eine Überraschung erlebte. Erinnerst du dich noch, was !Xabbu uns erzählte?«
»Daß … daß er an Paviane gedacht hatte …«, begann Florimel, dann verschlug es ihr die Sprache. »Er hatte an Paviane gedacht, wegen irgendeiner Stammesgeschichte oder sowas … aber er hatte nicht vorgehabt, einer zu sein.«
»Genau. Aber jemand … etwas … wählte diese Erscheinung für ihn aus. Wißt ihr, wie die Paviane anfangs auch genannt wurden?«
Paul nickte aufgeregt. »Die frühen europäischen Entdecker gaben ihnen den Namen ›Hundskopfaffen‹, nicht wahr?«
»Richtig. Und jetzt stellt euch vor, wie der Andere, im Dunkeln eingesperrt, in dem kleinen Winkel seines Intellekts, wo er sich vor seinen grausamen Herren verbergen kann, betet und singt. Deutlicher als an vieles andere erinnert er sich an ein Märchen, das ihn seit der Zeit begleitet, die für ihn wohl so etwas wie einer Kindheit am nächsten kommt. Ein Märchen über einen gepeinigten und verängstigten Jungen in der Dunkelheit. Er durchforscht die Gedanken einer Gruppe von Eindringlingen, und während sein Sicherheitsprogrammteil sich noch mit der nackten äußeren Tatsache dieses Eindringens beschäftigt, merkt er, daß einer aus der Gruppe ein Vorstellungsbild von einem vierbeinigen Wesen mit einem hundeähnlichen Kopf in sich trägt, eine Art Selbstbild, könnte man sagen. Und falls sein Zugang zum Unterbewußtsein ihm auch etwas über den wahren Charakter der betreffenden Person verrät, spürt er möglicherweise sogar !Xabbus Freundlichkeit und Treue.
Vielleicht hatte er vorher schon einen Plan, vielleicht wurde der Gedanke erst von !Xabbu oder von etwas anderem an uns ausgelöst. Aber von dem Augenblick an wollte der Andere uns nicht mehr vernichten, wenigstens das ›Kind‹ in ihm, der denkende, fühlende Teil, wollte es nicht. Er wollte uns finden. Er wollte uns zu sich holen. Er betete darum, gerettet zu werden.«
»Wahnsinn.« Paul hatte das Gefühl, das schon einmal gesagt zu haben, aber mußte es trotzdem wiederholen. »Wahnsinn. Das heißt, der Berg war…?«
»… vielleicht ein neutrales Territorium?« ergänzte Florimel.
»Vielleicht. Vielleicht ein Punkt, der dem geheimen Versteck des Andern nahe war – sofern wir räumliche Vorstellungen wie Nähe auf das Netzwerk anwenden können –, dem Zentrum seines ›Selbst‹. Wenn wir dort hätten bleiben können, wenn Dread nicht dazwischengekommen wäre, hätte er möglicherweise mit uns gesprochen.«
Paul erstarrte. »Heißt das, Renie hatte recht? Sie und die andern sind wirklich im Herzen des Systems?«
Martine ließ sich zurücksinken. »Ich weiß es nicht. Aber wenn wir dort hinwollen, müssen wir einen anderen Weg finden, denn Troja ist uns anscheinend versperrt.«
»Wir werden uns was ausdenken«, meinte Florimel. »Lieber Himmel, ich kann es kaum fassen, daß ich dieses Wesen, das mir meine Eirene genommen hat, auf einmal mit ganz andern Augen sehen muß. Aber wenn deine Vermutungen stimmen, Martine … O nein, was für ein schrecklicher Gedanke!«
Martine seufzte. »Vor jedem weiteren Schritt jedoch müssen wir schlafen. Ich habe mich völlig verausgabt, und dabei hatte ich schon vorher keine Kräftereserven mehr.«
»Warte.« Paul legte ihr die Hand auf den Arm. Er spürte, daß sie vor Müdigkeit bebte. »Entschuldige, aber noch eine letzte Sache. Du hast vorhin Nandi erwähnt.«
»Ja, Orlando ist ihm begegnet.«
»Ich weiß. Ich bin ihm auch begegnet, das habe ich dir bestimmt erzählt. Ich denke, du hast recht: Wenn jemand uns helfen kann, den richtigen Durchgang zu finden, dann er.«
»Aber wir wissen nicht, wo er ist«, wandte Florimel ein. »Orlando und Fredericks haben ihn zuletzt in Ägypten gesehen.«
»Dann müssen wir dorthin. Zumindest haben wir damit ein gewisses Ziel vor Augen.« Er drückte sanft Martines Unterarm. »Ist dir aufgefallen, ob das ein … eine der zugänglichen Welten war? Als du nach Troja geschaut hast?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Zu wenig Zeit. Deshalb ließ ich mir diesen Ort hier geben, als ich Troja nicht finden konnte – es war die Standardvorgabe.« Sie tätschelte seine Hand, dann drehte sie sich um und tastete nach einer freien Stelle, wo sie sich hinlegen und schlafen konnte. »Aber beim nächsten Gateway werden wir danach suchen.« Sie gähnte. »Und es stimmt, was du sagst, Paul – es ist immerhin etwas.«
Sie wickelte sich fester in ihre Decke ein, und Florimel tat das gleiche. Paul wandte sich T4b zu.
»Javier? Du hast nicht gerade viel gesagt.«
Der Angesprochene hatte immer noch nicht viel zu sagen. Er schlief offensichtlich schon eine ganze Weile.