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Einführung
NETFEED/SPORT:
Streiter gegen »Bodyfaschismus« beim Training getötet
(Bild: Note nach seinem Sieg vor den Gerichtssaal)
Off-Stimme: Edward Notes Freude war nicht von langer Dauer. Nachdem ein Gericht seiner Auffassung recht gegeben hatte, die Weigerung eines Footballteams, mit ihm als Spieler überhaupt einen Versuch zu machen, sei eine bodyistische Diskriminierung, kam er am zweiten Trainingstag mit seinem neuen Team ums Leben. Die Spieler der Pensacola Fishery Barons, die an die Antidiskriminierungsbestimmungen der UN gebunden sind, weil ihr Stadion aus staatlichen Steuereinnahmen finanziert wurde, geben sich in öffentlichen Stellungnahmen bedauernd, aber hinter vorgehaltener Hand erklären einige Spieler, Note habe »nur bekommen, was er verdient hat«.
Spieler (unkenntlich gemacht): »Was hat der gewogen, 55 Kilo oder sowas? Und will’s mit Leuten aufnehmen, die drei- oder viermal so schwer sind? Ist doch kein Wunder, wenn der dämliche Hänfling da unter die Räder kommt. Schlimme Sache natürlich für seine Kinder.«
Off-Stimme: Der achtunddreißigjährige Note, der den modernen Profisport für eine Bastion des »Bodyfaschismus« erklärte, kam anscheinend beim Training unter ein Gedränge und erstickte dabei. Seine Familie verlangt eine gerichtliche Untersuchung seines Todes.
> »Sag mal, Olga.« Die Frau, natürlich eine Fremde, aber mit dem Gehabe einer alten Freundin, reichte ihr eine Tasse Kaffee, die lebensecht dampfte. »Wie ich höre, arbeitest du jetzt für diese J Corporation. Das muß ja spannend sein – man hört soviel von denen in den Nachrichten. Wie ist denn das so?«
»Ich darf leider keine Auskunft über meine Arbeit geben«, erwiderte sie.
Die Frau lächelte. »Ja, natürlich, das weiß ich doch! Aber ich will schließlich keine wichtigen Geheimnisse aus dir rausholen, nicht wahr? Bloß … wie es so ist. Ist das wirklich auf einer Insel?«
Das wußte nun bestimmt jeder. Dennoch blieb Olga eisern. »Tut mir leid, aber ich darf überhaupt keine Auskunft über meine Arbeit geben.«
Die Frau runzelte die Stirn. »Du stellst dich echt zickig an. Wahrscheinlich bist du nicht richtig ausgeschlafen. Mußt du denn da auch Nachtschicht machen?«
»Es tut mir wirklich leid, aber ich darf über meine Arbeit keinerlei Auskunft geben.«
Die Frau machte eine genervte Handbewegung. Im nächsten Moment verwackelte und wechselte der Raum so rasch, daß Olga leicht schwindlig wurde.
Die sollten sich beim Umschalten ein bißchen mehr Mühe geben, dachte sie. Wenn die im richtigen Netz tätig wären, für Obolos oder so jemand, würde man sie für einen solchen Pfusch in Stücke reißen.
Sie ließ es über sich ergehen, daß jemand, der wohl einen Verwandten darstellen sollte, sie bat, ein paar entbehrliche Bürosachen für die Kinder mit nach Hause zu bringen – nichts Großes, bloß ein paar Selbstkleber oder Heftklammern, damit die armen, unterprivilegierten Kleinen bei Kunstprojekten für die Schule mitmachen konnten. Olga seufzte und fing mit ihren abschlägigen Antworten an, durchlitt so geduldig wie möglich die Spirale sich verschärfender Vorwürfe, wartete sehnsüchtig darauf, daß der Quatsch endlich aufhörte.
»So, ein hervorragendes Ergebnis«, sagte Herr Landreaux, als sie aus dem Hologrammzimmer trat. Er war ein kleiner Mann mit einem kahlrasierten Schädel und ein paar implantierten Glitzersteinen im Handgelenk – etwas allzu bemüht, auf jung zu machen, dachte Olga bei sich. »Du hast dich echt gut vorbereitet, was?«
Sie verkniff sich das Grinsen. Eine Viertelstunde am Abend davor, in der sie das voluminöse Anstellungspaket des Unternehmens flüchtig durchgegangen war, hatte ihr hinreichend deutlich gemacht, worauf es im großen und ganzen ankam. »Ja, Sir«, antwortete sie. »Diese Stelle ist sehr wichtig für mich.« Du ahnst gar nicht, wie sehr, Freundchen.
»Freut mich zu hören. Mir ist das auch sehr wichtig.« Der Personalchef spähte auf seinen Wandbildschirm. »Deine Referenzen sind gut, sehr gut. Vierzehn Jahre bei Reichert Systems – das ist eine sehr solide Firma.« Er lächelte, aber sie bemerkte ein Funkeln in seinen sanften grauen Augen. »Erzähl mir doch noch einmal, warum du aus Toronto weg bist.«
Der ist wirklich bloß ein Abklatsch des Mannes, der das Entlassungsgespräch bei Obolos mit mir geführt hat, dachte Olga, auch so ein pinkes Schmusetier mit scharfen Zähnen. Züchtet dieser Jongleur die Typen vielleicht in Containern, wie diese Weltraumtomaten? Unterdessen spulte sie die Geschichte ab, die Catur Ramsey für sie erfunden hatte und aus der seine Freunde irgendwie eine vollendete datenfeste Tatsache gemacht hatten. »Wegen meiner Tochter Carole, Sir. Seit ihrer … seit sie sich von ihrem Mann getrennt hat, braucht sie Unterstützung mit den Kindern, damit sie ihre Stelle behalten kann. Sie arbeitet sehr hart.« Olga schüttelte den Kopf. Ein Klacks, das Ganze. Hundert überdrehte Gören dazu bringen, ganz leise zu sein, damit sie nicht das SchlafSchaf erschreckten, das war eine schauspielerische Leistung. Wenn das Ganze nicht so furchtbar ernst gewesen wäre, hätte ihr dieses kleine Täuschungsmanöver vermutlich sogar Spaß gemacht – diese Bürohengste waren denkbar simpel zu bedienende und doch irgendwie befriedigende Spielzeuge. »Und da dachte ich, nicht wahr, wenn ich näher dran wäre …«
»Da bist du also aus dem hohen Norden den ganzen Weg bis zu uns hier im Big Easy gekommen«, sagte Landreaux jovial. »Na, laissez les bontemps roulez, wie wir sagen.« Er beugte sich mit gespielter Verschwörermiene vor. »Aber selbstverständlich nicht während der Arbeitszeit.«
Sie tat gebührend beeindruckt von seiner ungezwungenen Art. »Selbstverständlich nicht, Sir. Ich nehme meine Pflicht sehr ernst.«
»Da bin ich sicher. Gut, alles in Ordnung, da bleibt mir nur noch die angenehme Aufgabe, dich in der Familie der J Corporation willkommen zu heißen.« Er hielt ihr die Hand hin, ohne aufzustehen, so daß sie sich vorbeugen mußte. »Deine Schichtleiterin ist Maria. Du findest sie in Block zwölf ein Stück die Esplanade runter. Du begibst dich jetzt direkt zu ihr. Kannst du heute abend gleich anfangen?«
»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.«
Er beachtete sie bereits nicht mehr und wollte sich gerade wieder seinem Wandbildschirm zuwenden, als sein Blick an dem weißen Fleck hängenblieb, den sie am Hals hatte. »Ach so, was ich dich noch fragen wollte«, sagte er mit gespielter Beiläufigkeit, von der sie sich nicht im geringsten täuschen ließ. »Dieses Pflaster, das du da am Hals hast. Du hast doch nicht etwa ein gesundheitliches Problem, von dem du uns nichts erzählt hast, nicht wahr, Frau Czotilo?«
Sie stutzte ein wenig darüber, nach so vielen Jahren Aleksanders Nachnamen wieder zu hören, obwohl sie ihn selbst ausgesucht hatte, weil sie dieses Pseudonym schwerlich vergessen würde. Dann hatte sie sich wieder gefangen. »Ach, das?« Sie tippte auf den Heftstreifen über ihrer T-Buchse. »Ich habe mir einen Leberfleck entfernen lassen. Das macht doch nichts, oder? Er war nicht krebsverdächtig oder so, ich … ich mochte ihn bloß nicht leiden.«
Er lachte und winkte ab. »Ich will nur sichergehen, daß Leute sich nicht deswegen von uns anstellen lassen, weil sie in den Genuß unserer Krankenversicherung kommen wollen.« Seine Miene veränderte sich ein wenig, und das ungute Funkeln blitzte wieder auf. »Wir lassen uns nicht gern zum Narren halten, Olga. Die J Corporation ist eine große Familie, aber eine Familie muß sich schützen. Die Welt da draußen kann sehr gemein sein.«
Da draußen, vermutete sie, bedeutete wahrscheinlich alles, was weiter als fünf Kilometer von dem schwarzen Turm weg war. »Oh, ganz bestimmt, Herr Landreaux«, pflichtete sie ihm bei. »So viele schlechte Menschen.«
»Eben«, sagte er zerstreut. In Gedanken war er bereits wieder bei dem vor ihm liegenden Tag, den kleinen Kniffen und Schlichen des mittleren Managements.
Olga erhob sich. Sein Rücken war ihr zugekehrt, als sie hinausschlich.
Während sie über die Plaza vor dem Einführungszentrum des Unternehmens auf die Esplanade zuging, vermied sie es bewußt, zu dem auf der anderen Seite des Wassers aufragenden schwarzen Turm aufzuschauen. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden, obwohl es mehr als unwahrscheinlich war, daß bei Tausenden von Beschäftigten mit der frisch eingestellten Putzfrau ein solcher Aufwand getrieben wurde. Und warum sollte eine neue Mitarbeiterin nicht zu dem Turm aufblicken, dem Wahrzeichen des Konzerns?
Trotzdem, sie wollte es vermeiden, jedenfalls so lange, wie sie noch nicht auf dem Schiff war. Sie hatte eine geradezu abergläubische Furcht davor entwickelt, so als ob sich automatisch eine schwere Hand auf ihre Schulter legen und die Sache diesmal mit ein paar harmlosen Fragen nicht abgetan sein würde, wenn sie sich ein derart ungezwungenes Verhalten erlaubte.
Block zwölf war eine riesige Halle, die direkt auf den Pier hinausging. Die vor Anker liegenden mächtigen Hovercrafts, die das Wartungs- und Reinigungspersonal zwischen Festland und Insel hin- und herbeförderten, bufften bei dem leichten Wellengang aneinander. Im Innern der Halle befand sich ein ganzer Komplex – Magazine und Umkleideräume, die im Augenblick von hundertstimmigem Geplapper widerhallten, da eine der Reinigungsschichten gerade von der Insel zurückgekommen war.
Maria stellte sich als eine schwergewichtige und nicht besonders geduldige Frau mit silberschillernden Haaren heraus, deren schwarze Wurzeln darauf hindeuteten, daß der verbrauchte Schick dringend wieder aufgefrischt werden mußte.
»O je, schon wieder eine«, stöhnte sie, als Olga sich bei ihr meldete. »Wissen denn die Heinis im EZ nicht, daß ich die Woche keine Zeit habe, Leute einzuweisen?« Sie warf Olga einen Blick zu, der zu sagen schien, das beste für alle Beteiligten wäre, wenn sich der Neuzugang augenblicklich im Lake Borgne ersäufte. »Esther? Wo zum Teufel steckst du? Hier, nimm die Neue mit, besorg ihr ’ne Uniform, sag ihr, was sie zu tun hat! Guck, ob’s im Automaten ’ne Marke für sie gibt! Und wenn sie irgendwas verbockt und Ärger kriegt, bist du dran, tick?«
Esther war eine dünne Hispañofrau beinahe in Olgas Alter, die trotz ihres müden Aussehens etwas Mädchenhaftes und ein freundliches, schüchternes Lächeln hatte. Sie half Olga, auf einer Kleiderstange, die in einem Skywalker-Jet von einer Flügelspitze zur anderen gereicht hätte, eine zweiteilige graue Arbeitskluft in der richtigen Größe zu finden, und gab dann bei ein paar gelangweilten Verwaltungskräften keine Ruhe, bis Olga ihre Marke und einen Spind in einem der Umkleideräume bekommen hatte. Es hatte etwas von einem Internat für Schülerinnen mit wehen Füßen und steifen Gelenken – Hunderte von schwarzen und braunen Frauen, darunter ein paar Dutzend europäische Typen wie Olga, und bei fast allen war Englisch die zweite Sprache.
Während sie beim Umziehen zuhörte, wie die Frauen sich durch den muffigen Raum witzige Bemerkungen zuriefen, kam es Olga beinahe so vor, als ob dies tatsächlich ihr Leben wäre, als ob es die Jahre der Netzarbeit niemals gegeben hätte.
»Mach, mach«, drängte Esther sie. »Schiff geht in fünf Minute.« Olga betrachtete ihr ausdrucksloses Gesicht auf der Marke, drehte das Hologramm ins Profil. Ich sehe aus wie eine alte Frau, dachte sie. Herrje, ich bin eine alte Frau. Worauf habe ich mich hier bloß eingelassen? Als sie sich ihren Rucksack griff und den Spind zudrückte, ging ihr durch den Kopf, daß sie diese Sachen wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Vielleicht hätte ich die Etikette heraustrennen sollen, wie in dem Krimi, den ich neulich gesehen habe. Aber wenn sie tatsächlich vorgehabt hätte, eine Frau ohne Vergangenheit zu sein, hätte sie sich wahrscheinlich bei einem Unternehmen einschleichen sollen, das nicht schon ihr Gesicht und ihren wirklichen Namen irgendwo in seinem Riesenbestand von Personaldaten gespeichert hatte.
Sie klemmte den Rucksack unter den Arm und reihte sich in die Masse graugekleideter Frauen ein, die auf den Kai zuschoben.
In diesem verrücktesten Monat in Olgas Leben stand das Treffen mit Catur Ramsey auf der Liste der Verrücktheiten zweifellos ziemlich weit oben. Es war allein schon merkwürdig gewesen, bei Slidell von der Straße auf einen Rastplatz abzubiegen und ihn dort auf einer Bank sitzen zu sehen – denselben jungen Mann, der, so schien es ihr, erst vor Tagen an ihrer Haustür geklingelt hatte, etliche tausend Meilen entfernt in einem anderen Land. Er hatte sie umarmt, und auch das hatte sie recht ungewöhnlich gefunden. Seit wann umarmten Anwälte die Leute, mit denen sie zu tun hatten? Selbst ein netter Anwalt wie Ramsey.
Als dann der große, blonde Mann aus dem geparkten Van gestiegen war, war ihr vor Schreck fast das Herz in die Hose gerutscht. Er sah ganz nach einem Polizisten aus, und während der zehn Schritte, die er bis zum Tisch brauchte, war sie von der furchtbaren Gewißheit erfüllt gewesen, daß Ramsey sie verraten hatte – nur zu ihrem Besten, hätte er behauptet, aber am Verrat hätte das nichts geändert. Doch statt dessen hatte der Mann ihr nur die Hand gegeben, sich als Major Michael Sorensen vorgestellt und war zum Wagen zurückgegangen.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, hatte Ramsey zu ihr gesagt »Warte ab, es kommt noch viel toller.« Und als sie die Person sah, die Sorensen hinten aus dem Van hob, mußte Olga zugeben, daß er recht hatte.
Sie hatten eine Stunde lang geredet, während unmittelbar hinter den Bäumen der Verkehr vorbeibrauste, aber Olga konnte sich nur noch an wenig erinnern. Der verschrumpelte Mann namens Sellars hatte so leise und bedächtig gesprochen, daß sie anfangs ein wenig eingeschnappt war, weil sie meinte, sie bekäme eine schonende Sonderbehandlung für psychisch Labile verpaßt. Nach einer Weile merkte sie, daß das einfach seine Art war und daß dieser erschreckend dünne Mann mit der faltigen Haut gar nicht tief genug atmen konnte, um laut zu sprechen. Und als sie seinen Worten schließlich zuhörte, entfachte das in ihr einen Funken freudiger Erleichterung. Bis dahin war ihr gar nicht bewußt gewesen, wie einsam sie geworden war.
»Es ist mir immer noch nicht klar, wieso du diese Dinge erlebt hast, Frau Pirofsky«, hatte er gemeint, »aber was auch die Ursache sein mag, sie sind real. Selbst wenn ich den ganzen Tag Zeit hätte, könnte ich dir nicht sämtliche unglaublichen Entdeckungen schildern, die ich gemacht habe, seit ich mich genauer mit diesen Vorgängen beschäftige. Woher deine Stimmen auch kommen mögen, es kann kein Zufall sein, daß sie dich zu Jongleurs Turm geführt haben. Wir möchten dich bei deinem Vorhaben unterstützen, damit du die größtmögliche Chance hast, unbeschadet Licht in das Dunkel zu bringen, Licht, das wir selbst dringend brauchen, um eine gräßliche kriminelle Verschwörung zu vereiteln.«
Die Verschwörung selbst, wenigstens in Sellars’ eiliger und gedrängter Darstellung, hatte sie völlig perplex gemacht. Und außer der Tatsache, daß er irgendein militärischer Sicherheitsspezialist war, hatte sie auch die Rolle des Majors in dieser winzigen Widerstandsbewegung nicht recht verstanden. Zu allem Überfluß hatte er noch am Rande erwähnt, daß seine Frau und sein Kind in einem Motel in der Nähe warteten. Sie war sich zudem nicht ganz darüber im klaren, wie tief Ramsey in der Sache steckte, ob er bei seinem ersten Gespräch mit ihr von alledem schon etwas gewußt hatte, aber die schlichte Tatsache, daß sie endlich über einiges Aufschluß bekam und nicht nur mitfühlende Blicke, hatte die noch verbleibende Verwirrung mehr als wettgemacht.
In einer knurrigen, aber umsichtigen Art, die sie an ihren lang verstorbenen Vater erinnerte, hatte Sorensen die paar Gegenstände inspiziert, die sie auf die Insel mitzunehmen gedachte, und noch ein Stück hinzugefügt, einen kleinen silbernen Ring mit einem einzelnen kristallklaren Stein. Bei diesem handele es sich nicht um einen Edelstein, hatte er ihr erläutert, sondern um eine Linse, hinter der ein winziger Transponder versteckt war. Es sei ein Kameraring.
»Damit werden wir sehen, was du siehst, Frau Pirofsky«, hatte Sellars hinzugefügt.
Nach dem wochenlangen Schmoren im eigenen Saft und der freiwilligen Verbannung in eine Einsamkeit, die noch drückender geworden war, als die Stimmen der Kinder sie verlassen hatten, wäre Olga liebend gern länger in der freundlichen Gesellschaft von Ramsey und den anderen geblieben, aber Sellars hatte ihr klargemacht, daß die Zeit knapp war. Auf seine sanfte Art hatte er sie gedrängt, so rasch wie möglich zur Tat zu schreiten, und da er versprochen hatte, ihr mit seinen nicht näher beschriebenen Fähigkeiten die Möglichkeit zu verschaffen, legal auf die Insel zu kommen, hatte sie keine Einwände gehabt.
Und er hatte Wort gehalten.
Sobald sie zusammen mit allen anderen auf dem Vorderdeck des Hovercrafts war, in der heißen, schwülen Brise, verbot Olga sich nicht länger, den schwarzen Turm anzuschauen. Vom Festland aus hatte er ein wenig wie eine mittelalterliche Kathedrale ausgesehen, himmelwärts über die erdnäheren Wohnstätten der Menschen hinausragend, doch je gewaltiger er den gestreiften Sonnenuntergangshimmel ausfüllte, um so mehr kam er ihr wie der Berg in ihren Träumen vor, ein unheimlicher Monolith aus schwarzem Stein, die Fassade stellenweise im modernistischen Stil verzogen und gewellt und so voller Riefen wie Sellars’ verbranntes Gesicht.
Mir ist, als würde er seit langem auf mich warten – mein ganzes Leben schon. Aber wie kann das sein, wenn ich die Stimmen doch vor wenigen Wochen zum erstenmal gehört habe? Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie unmittelbar vor einer lang ersehnten Offenbarung stand.
Es ist so, wie ich neulich schon dachte, wie eine religiöse Bekehrung, eine urplötzliche Glaubensgewißheit. Man weiß einfach, man ist sich fraglos sicher, es spielt gar keine Rolle, wie oder warum oder was andere sagen.
Doch die meisten Religionen versprachen einem Erlösung. Etwas derart Hoffnungsvolles hatte sie von dem schwarzen Turm nicht zu erwarten.
Sie legten bei einem anderen riesigen Lagergebäude in solcher Nähe des Turmes an, daß der halbe Himmel schwarz war. Die schiere Höhe allein war es nicht, was sie überwältigte – obwohl er bestimmt mindestens dreihundert Meter hoch war –, sondern seine Massigkeit, mit der er alles beherrschte. Sein Anblick von ferne oder durch den Bayounebel hatte sie nicht auf diese erschlagende Wirkung vorbereitet.
Das ist kein Bürohochhaus, das ist eine Festung, erkannte sie. Wer den gebaut hat, hat Krieg geführt oder geplant. Vielleicht nicht gegen Armeen, aber gegen irgend etwas.
Erinnerungen an die alten Bauten wurden wach, die sie und ihre Zirkustruppe beim Tingeln quer durch Europa gesehen und die ihren Vater zu so manchem Vortrag inspiriert hatten – die Hinterlassenschaften dieses oder jenes großmächtigen Regimes, ob kommunistisch oder faschistisch, maßlos kapitalistisch oder unverhohlen imperial. Auch diese Bauwerke damals hatten vor Wichtigkeit gestrotzt, aber alle hatten sie noch etwas anderes gehabt, eine Dimension von Öffentlichkeit, die diesem Konzernturm hier fehlte. Das einzige auch nur annähernd Vergleichbare, das ihr einfiel, waren, wenn man vom Größenunterschied absah, die mittelalterlichen Geschlechtertürme in Italien, befestigte Inseln inmitten der Städte, zur Verteidigung gebaut, nicht zum Prunk.
Ich habe noch nie ein milliardenschweres Hochhaus gesehen, das so deutlich »Geh weg!« ausgedrückt hat, dachte sie. Und ich ignoriere diese Warnung. Genausogut könnte ich fröhlich pfeifend an dem Schild vor der Hölle vorbeischlendern, auf dem steht: »Die ihr hier eingeht, laßt die Hoffnung fahren.« Was tust du, Olga?
Doch sie kannte die Antwort schon.
Esther trat zu ihr, wie sie starr in einer Ecke stand und den Mut aufzubringen versuchte, den anderen schwadronierenden Arbeiterinnen in den klotzigen Vorbau zu folgen, in dem sich die Eingänge zu den Fluren und Aufzügen des Servicepersonals befanden. »Na, komm schon«, riß sie Olga aus ihren düsteren Gedanken und tätschelte ihr den Arm. »Countdown läuft, seit du mit Marke da hinten durch Tür bist. Mehr als zehn Minute bis zu unsere Station, und halbe Stunde Lohn weg.«
Olga murmelte eine Entschuldigung und schloß sich Esther an. Sie mußte sich überwinden, den schwarzen Monsterbau zu betreten, auf dessen blanken Oberflächen sich das Abendlicht spiegelte.
»O nein, warum hast du Rucksack?«
Olga bemühte sich, überrascht zu schauen. »Was ist damit?«
»Darfst du nicht hier mitbringen so was«, sagte Esther. »Die denken, glaub ich, wir könnten stehlen was, ne?« Sie zog eine übertrieben beleidigte Grimasse. »Aber sind total streng damit. Ach, Olga, hättst du mich fragen sollen, hätt ich dir gesagt, daß du auf andere Seite in Spind läßt.«
»Das wußte ich nicht. Es ist bloß was zu essen drin und eine Medizin, die ich einnehmen muß.«
»Gibt vorgeschriebene Box für Essen, die leuchten sie alle durch, ne, wenn Schiff ankommt.« Esther runzelte die Stirn. »Na, finden wir Platz, wo du lassen kannst. Daß du nicht gleich erste Tag kriegst Ärger.«
Olga schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte ganz gewiß keinen Ärger kriegen an ihrem ersten Tag, aber genausowenig hatte sie vor, sich von ihrem Rucksack zu trennen. Bei flüchtiger Inspektion sah der Inhalt ganz harmlos aus, aber eine gründlichere Überprüfung hätte zur Folge gehabt, daß sie sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekam als sonst eine einfache Raumpflegerin.
Nachdem ihr Rucksack sicher in einem der Fächer lag, in denen das Personal Regenkleidung und andere im normalen Dienst nicht benötigte Dinge verstauen konnte, begann Olgas erster Tag (und, wie sie inbrünstig hoffte, ihr letzter) als Putzfrau für die J Corporation. Ein Aufseher wies dem Team, bestehend aus Esther, Olga und sechs anderen Frauen, die Ebene B zu, das zweite unterirdische Geschoß. Die Vorstellung war leicht verstörend, daß sie in einer großen Röhre unter der Oberfläche des Sees arbeitete, aber jede Neigung, sich darüber oder über die viel unmittelbareren Gefahren ihres Vorhabens Gedanken zu machen, wurde rasch von der schieren Masse der Arbeit verdrängt. Mit ihren radkappengroßen Saugrobotern, über die sie vorsichtig hinwegtraten, zogen die Frauen von einem Büro zum nächsten, leerten Mülleimer, wischten Oberflächen und räumten die Gemeinschaftsbereiche auf. Die Toiletten mußten besonders gründlich gesäubert und bis in den letzten Winkel geschrubbt und gescheuert werden. Als Neue durfte Olga die unangenehmsten Arbeiten verrichten, wozu natürlich das Reinigen der Toilettenbecken und Urinale mit einer Bürste und einem enzymatischen Reinigungsspray gehörte, dessen blumige Obertöne den strengeren chemischen Geruch darunter nicht ganz überdecken konnten. Esther schärfte ihr ein, nichts davon zu verschütten, was sie erst für eine Ermahnung zu Sparsamkeit hielt. Doch als ihr etwas davon auf den Handrücken tropfte und ihre Haut wie Feuer brannte, verstand sie den Grund.
Die Ebene B war ausgedehnter als die oberirdischen Turmstockwerke und faßte Hunderte von Büroräumen. Während die Nacht dahinkroch, begleitet von diversen Duftwolken, dem falschen Gesinge von zweien der anderen Frauen und den ständigen Schlotz- und Kaugeräuschen der grauen Saugroboter, ging Olga auf, wie sehr sie sich glücklich preisen konnte, daß ihre Phantasiegeschichte geschwindelt war und sie es in Wirklichkeit gar nicht nötig hatte, mit diesem Job ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Wie halten die andern das bloß aus? fragte sie sich. Dazu ständig von Aufsehern kontrolliert wie von strengen Lehrern, und manche lassen es nicht mal zu, daß man sich anders als flüsternd unterhält. Ich dachte immer, bei so einer Arbeit könnte man wenigstens mit den Kolleginnen schwatzen und scherzen, aber davon kann kaum die Rede sein, seit wir vom Schiff runter sind. Ist das Unternehmen tatsächlich so knickrig, daß diese Frauen nicht einmal ein paar Minuten ihrer bezahlten Arbeitszeit verbummeln dürfen?
Die Antwort darauf erhielt sie, als sie sich kurz einmal an einen der Schreibtische in der Nähe einer Toilette lehnte und der Wandbildschirm plötzlich ansprang, von der Berührung aktiviert. Es erschien nur eine Szene mit Kindern auf einem Segelboot, ein privates Foto, das jemand als Hintergrundbild benutzte, aber im Nu stand einer der Aufseher neben ihr, ein dicker Mann namens Leo mit einem unangenehm pfeifenden Atem.
»Was machst du da?«
»Nichts. Ich … ich habe mich bloß an die Kante gelehnt. Ich wollte nicht…«
»Dann laß es auch. Wo ist deine Marke?«
Sie zeigte sie ihm. Er beäugte sie stirnrunzelnd, als ärgerte er sich, etwas tun zu müssen, was vermutlich zu seinen Aufgaben gehörte.
»Erster Tag, was?« knurrte er. Er klang nicht sonderlich besänftigt. »Dann schreib dir eines hinter die Ohren, ein für allemal. Du hast hier gar nichts anzufassen außer den Sachen, die du saubermachst. Das muß klar sein, wenn du die Stelle behalten willst. Es gibt jede Menge andere, die sich freuen würden, das Geld zu verdienen. Du hast hier nichts anzufassen! Los, wiederhol das!«
Erbittert und wütend auf diesen miesen, kleinen Grobian mußte Olga sich zusammenreißen, um sich weiter den äußeren Anschein ängstlicher Unterwürfigkeit zu geben. »Ich habe hier nichts anzufassen.«
»Genau. Merk dir das!« Er drehte sich um und watschelte davon, ein dickleibiger Hüter des Privateigentums und der heiligen Hausordnung.
Erst gegen Ende ihrer Schicht, als die glücklicheren Beschäftigten in den oberen Etagen vielleicht schon einen Streifen Tageslicht an den Rändern ihrer dicht verhängten Fenster zu sehen bekamen, ergab sich für Olga endlich eine Gelegenheit, allein zu sein. Ohne Esthers Erlaubnis schlich sie sich in eine der Toiletten, die sie noch nicht geputzt hatten, und setzte sich in die hinterste Kabine. Da sie damit rechnete, daß Augen und womöglich auch Ohren alles überwachten, was sie tat, streifte sie ihre Hose und Unterhose herunter, bevor sie sich zur Wahrung des Scheins auf die Brille setzte, und sprach ein stilles Dankgebet dafür, daß sie nicht laut reden mußte. Sie subvokalisierte das Codewort, das Ramsey ihr gegeben hatte. Gleich darauf hörte sie seine Stimme im Ohr.
»Alles in Ordnung? Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.«
Sie verbiß sich ein Lachen. Ich muß bloß arbeiten wie die meisten normalen Menschen, dachte sie bei sich, doch sie sagte nur: »Alles läuft gut. Ich hatte nur bis jetzt keine Gelegenheit, mich zu melden.«
»Ich bin die ganze Zeit mit diesem Knoten verbunden, also wenn irgendwas ist, ruf an! Wirklich, Olga, jederzeit, wenn du mich brauchst!« Er hatte einen beschwörenden, schuldbewußten Ton in der Stimme, der ihr vorher nicht aufgefallen war, als ob er sich Vorwürfe machte, sie in Gefahr gebracht zu haben, wo es doch in Wirklichkeit ihre freie Entscheidung gewesen war.
»Wozu?« fragte sie leicht stichelnd. Sobald man das Subvokalisieren einmal heraus hatte, war es gar nicht so schwer, fand sie, solange man nicht plötzlich erschrak und anfing, laut zu reden. »Wenn ich hier in Gefahr gerate, wollt ihr dann kommen und mich rausboxen?«
Ramseys betretenes Schweigen war beredt. »Sellars möchte mit dir sprechen«, sagte er schließlich. »Aber brich nicht ab, wenn er fertig ist, ich hätte dich gern nochmal.«
Die hauchige Stimme des alten Mannes war unerwartet beruhigend. Was er auch sonst noch sein mochte, dieser Sellars war eindeutig einer, dem solche extremen Situationen nicht unbekannt waren. »Hallo, Frau Pirofsky«, sagte er. »Wir sind alle sehr froh, von dir zu hören.«
»Ich würde vorschlagen, du sagst Olga zu mir. Ich sitze hier mit runtergelassenen Hosen auf dem Klo, da kommt mir ›Frau Pirofsky‹ ein bißchen förmlich vor.«
Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. »Einverstanden, Olga. Es ist mir ein Vergnügen, wieder mit dir reden zu können, einerlei unter welchen Umständen. Gab es beim Einstellungsgespräch irgendwelche Probleme?«
»Ich glaube nicht. Es lief alles sehr glatt. Wie hast du das bewerkstelligt?«
»Die Einzelheiten ersparen wir uns lieber. Konntest du deinen Rucksack mitnehmen?«
»Ja. Ich habe ihn im Moment nicht bei mir, aber ich komme bestimmt an ihn ran.«
»Ruf mich an, wenn deine Schicht vorbei ist und du ihn hast. Wir halten dich jetzt besser nicht zu lange auf, deshalb warte ich mit dem, was ich dir noch zu sagen habe, bis dahin. Oh, aber eines noch! Könntest du deine Marke an die Buchse in deinem Hals halten? Mach sie doch kurz mal frei – falls du denkst, daß du beobachtet wirst, tu so, als wolltest du die Stelle unter dem Pflaster saubermachen. Ich denke, auf die Art kann ich die Codierung lesen.« Als sie es zu seiner Zufriedenheit getan hatte, sagte er abschließend: »Gut. Danke. Jetzt möchte Herr Ramsey dich nochmal sprechen.«
Eine Sekunde später hatte sie wieder Ramseys Stimme im Ohr. »Olga? Ich wollte bloß noch sagen: Paß auf dich auf, ja?«
Jetzt lachte sie doch noch, aber ehrlich vergnügt. »Alles klar, Sohnemann. Und du zieh dich warm an, und iß immer brav deinen Spinat.«
»Wie bitte? Was soll…?« stammelte er, während sie grinsend die Verbindung abbrach.
Am Ende ihrer zehnstündigen Schicht war sie körperlich so zerschlagen wie seit vielen Monaten nicht mehr und konnte sich nur noch taumelnd auf den Füßen halten. Aus Freitagnacht war Samstagmorgen geworden, obwohl das in den sonnenlosen Tiefen des Wolkenkratzers nur den Chronometern an der Wand zu entnehmen war. Sie konnte den gewaltigen Berg aus Plastahl und Fibramic über ihr förmlich fühlen, wie er sie vom Tageslicht abschnitt, als ob sie in einer unterirdischen Höhle oder einem Verlies gefangen wäre.
Und die wirkliche Arbeit fängt jetzt erst an, dachte sie. Gott, ich möchte nichts weiter als schlafen.
Sie klönte müde mit Esther und den anderen, während sie ihre Putzsachen wegräumten und dann den Rückweg zum Kai antraten. Ihr klopfte das Herz aus Angst vor dem nächsten Schritt, und gleichzeitig verspürte sie eine verrückte, unerwartete Euphorie. Sie blieb stehen.
»O nein!«
Esther drehte sich um. Sie hatte Ringe unter den Augen, und Olga kam erst jetzt darauf, sich zu fragen, in was für ein Zuhause die Frau heimkehren mochte. Zu einer liebenden Familie und einem freundlichen Mann? Oder wenigstens in eine Situation, wo sie es ein bißchen besser hatte als bei dieser abstumpfenden Plackerei in Pharaos Bergwerken? Sie wünschte es ihr. »Was ist, Olga? Siehst aus, als hättst du ein Gespenst gesehen.«
»Mein Rucksack! Ich habe meinen Rucksack vergessen!«
Esther schüttelte den Kopf. »Ich sag ja, du sollst nicht mitnehmen, ne? Na, ist okay, holst du Montag, wenn wir wiederkommen.«
»Das geht nicht. Da ist meine Medizin drin. Ich muß meine Medizin nehmen.« Sie trat einen Schritt zurück und hob sofort die Hand, um die Frau davon abzuhalten, sie zu begleiten, falls sie trotz ihrer Müdigkeit das Angebot machen wollte. »Ich geh ihn holen. Bin gleich wieder da. Geh schon vor.«
»Aber Schiff fährt in fünf Minute …«
»Ich laufe. Falls ich dich auf dem Schiff nicht mehr sehe, noch ein schönes Wochenende!« Dann fügte sie noch ganz ehrlich hinzu: »Und danke für deine Hilfe«, drehte sich um und schob sich durch die andrängende Masse grau gekleideter Arbeiterinnen, bis Esther mit ihren besorgten Ermahnungen außer Sicht- und Hörweite war. Jetzt kann ich nur hoffen, daß sie auf dem vollen Schiff, oder wenn es angelegt hat, nicht nach mir sucht, wenigstens nicht sehr. Sie hatte schon ein wenig Vorarbeit geleistet, indem sie erzählt hatte, ihre Tochter würde sie abholen und gleich mit ihr zu einem Arzttermin fahren, sie könnte sich nicht einmal mehr umziehen. Und wenn Sellars die Information von der Marke wie versprochen benutzt hat, dann wird es so aussehen, als wäre ich an Bord gegangen und drüben wieder ausgestiegen. Damit habe ich Zeit bis … ja, bis Montag abend, wenn ich Glück habe.
Zweieinhalb Tage, um in das Herz der Bestie zu kommen. So viel Zeit. So wenig.
Der große Raum mit den Fächern war leer bis auf einen einzelnen Servicearbeiter, der mit Mop und Eimer bewaffnet den Boden wischte. Sie nickte ihm zu, nahm ihren Rucksack und ging zurück in Richtung der Anlegestelle, bog dann aber in einen der Treppenschächte ab und stieg wieder zur Ebene B hinunter, die mittlerweile relativ vertrautes Gelände war. Sie wußte, daß Sellars und Major Sorensen Manipulationen an den Sicherheitskameras vorgenommen hatten, aber wenn sie lebendigen Aufsichtskräften in die Arme lief, konnten die beiden ihr nicht helfen, und deshalb begab sie sich zügig zu ihrem Ziel, einer Abstellkammer in einem der Servicekorridore. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie die Tür von innen wieder aufbekam, zog sie sie hinter sich zu und ließ sich im Dunkeln zu Boden sinken. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie zitterte am ganzen Leib.
Als sie sich ein wenig erholt hatte, sagte sie wieder das Codewort und hatte sofort Ramseys Stimme im Ohr, wohltuend vertraut inmitten von soviel Unbekanntem.
»Olga? Wie sieht’s aus?«
»Ganz gut, solange meine Anleiterin auf dem Schiff nicht allzu eifrig nach mir sucht. Aber die arme Frau sah fix und fertig aus. Das hier ist harte Arbeit, weißt du. Mir tun sämtliche Glieder weh, und meine Hände sind aufgesprungen – schon nach einem Tag!«
»Ich werde meiner Raumpflegerin in diesem Jahr ein sehr viel höheres Weihnachtsgeld zahlen, das verspreche ich«, sagte Ramsey, doch der witzelnde Ton gelang ihm nicht sehr überzeugend. So todernst, dachte Olga. Und selbst wenn es wirklich das Ende der Welt ist, warum so todernst?
»Wenn du als Jude geboren wärst wie ich«, bemerkte sie, »hättest du gelernt, mit solchen Situationen umzugehen.«
Verdattertes Schweigen am anderen Ende. »Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst, Olga. Immer schaffst du’s, daß ich mich wie ein Hornochse fühle. Aber ich bin froh, daß dir nichts passiert ist. Und ich bin stolz auf dich. Sellars möchte dich sprechen.«
»Hallo, Olga«, meldete sich der alte Mann. »Ich schließe mich meinem Vorredner an. Ich habe vielleicht nicht viel Zeit, deshalb erkläre ich dir einfach soviel, wie im Augenblick möglich ist. Schreib nichts auf, nur für den Fall, daß du aufgegriffen wirst.«
»Keine Bange«, erwiderte sie von ihrem Platz im Dunkeln aus und wunderte sich ein wenig darüber, wie sie hier lautlos mit Leuten plauderte, die ebensogut auf einem anderen Planeten hätten sein können. »Ich habe nicht mal mehr die Kraft, einen Stift zu halten.«
»Leider wirst du zumindest das, was in deinem Rucksack ist, halten müssen. Würdest du es bitte herausholen?«
»Die Schachtel?«
»Genau.«
Sie tastete im Rucksack herum, bis sie ihre Taschenlampe gefunden hatte, dann holte sie den Militärproviant heraus, den Ramsey – oder eigentlich Sorensen, vermutete sie – ihr besorgt hatte, Verpflegung für mehrere Tage, die weniger Platz beanspruchte als normales abgepacktes Essen. Sorgfältig stapelte sie die Päckchen neben sich auf. Es gab auch eine Flasche Wasser, die ihr ein bißchen überflüssig vorkam in einem Gebäude, in dem es wahrscheinlich tausend Wasserspender gab. Ganz unten fand sie die eingepackte Schachtel mit dem Etikett eines gängigen Schilddrüsenmittels und einem Zettel, auf dem in Olgas Handschrift stand: »Zwei nach jeder Mahlzeit.«
»Ich habe es gefunden.«
»Mach es bitte auf. Ich muß einen kleinen Test vornehmen.«
Sie wickelte die Schachtel aus, ganz vorsichtig, damit sie ihr hinterher wieder das gleiche harmlose Aussehen geben konnte, und zog ein schmales graues Rechteck hervor, so groß wie ihr Handteller. Es war eigenartig schwer, und sie beäugte es mißtrauisch. »Ich hab’s.«
»Sag mir, was passiert«, forderte Sellars sie mit sanfter Stimme auf. Im nächsten Moment leuchtete an der Seite ein kleines rotes Licht auf.
»Ein rotes Licht ist angegangen.«
»Gut. Ich wollte nur sicher sein. Du kannst es jetzt wieder einpacken und wegstecken, Olga.«
Ihr Argwohn war noch nicht ausgeräumt, als sie es wieder zusammen mit dem Proviant verstaute und zuletzt ihren Pullover darüber stopfte. »Ist das Ding … ist es eine Bombe?« fragte sie schließlich.
»Eine Bombe? Liebe Güte, nein.« Sellars klang verwundert. »Nein, wir wollen keinesfalls das System zerstören – das Leben von Mitstreitern hängt davon ab. Das wäre, als würde man eine Bombe auf ein Haus werfen, in dem Geiseln festgehalten werden. Nein, Olga, das ist eine sogenannte Vampirklemme, eine besondere Anzapfung, an die ich mit Hilfe des Majors herangekommen bin. Wenn wir wirklich finden, wonach wir suchen, werde ich vermutlich mit sehr viel höherem Tempo als jetzt senden und empfangen müssen, um etwas auszurichten.«
»Das beruhigt mich.«
»Die Wasserflasche hingegen, die ist eine Bombe.« Er gab leise, luftige Kichertöne von sich. »Aber eine sehr kleine, die nur Rauch erzeugt. Zur Ablenkung. Ts-ts, jetzt hätte ich beinahe vergessen, dir das zu sagen.«
Ich bin aus der Wirklichkeit ausgestiegen, schien es Olga. Ich dachte, die Traumkinder wären verrückt. Das hier ist noch verrückter.
»Nun gut«, sagte Sellars. »Hör genau zu, ich werde dir erklären, was du als nächstes tun mußt. Wir haben weniger als drei Tage, bevor sie darauf kommen werden, daß etwas nicht stimmt – das heißt, falls alles optimal läuft. Es sind weiterhin Leute im Haus, und du solltest dich ab sofort von niemandem mehr sehen lassen. Ich werde dir nach Kräften beim Überwachungssystem helfen, aber dennoch wird es schwieriger werden, als du dir vorstellen kannst, und wenn ich ganz ehrlich bin, ist es wahrscheinlich aussichtslos. Aber wir haben keine andere Wahl.«
Olga überlegte. »Tja, dich könnte ich mir gut als Juden vorstellen, Herr Sellars.«
»Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.«
»Macht nichts.« Sie seufzte und streckte ihre schmerzenden Beine so weit aus, wie es die winzige Kammer erlaubte. »Sprich weiter. Ich höre…«