Kapitel

Lauschen auf das Nichts

NETFEED/MODERNES LEBEN:

Virtuelles Totengedenken – und die Toten sind dabei

(Bild: Familie und Verstorbener lachend beim Leichenschmaus)

Off-Stimme: Das Bestattungsinstitut Funebripro aus Neapel hat die neueste Entwicklung in der Trauertechnologie bekanntgegeben – ein virtuelles Totengedenken, bei dem sich die Hinterbliebenen mit ihren verstorbenen Lieben unterhalten können. Dem Institut zufolge kann man eine Reihe von sogenannten »Lebendkopien« anfertigen und diese dann zu einer überzeugend echten Simulation der entschlafenen Person, wie sie im Leben war, synthetisieren.

(Bild: Geschäftsgründer Tintorino di Pozzuoli)

Di Pozzuoli: »Eh, das ist eine tolle Sache. Wenn einem liebe Menschen wegsterben, so wie uns mein guter Opa, dann kann man sie trotzdem zu einem guten Teil bei sich behalten. Man kann sie besuchen, auch wenn sie verschieden sind, geistige Gemeinschaft pflegen, könnte man sagen. Es ist, wie wenn man ein Fernrohr in den Himmel hat, nicht wahr?«

 

 

> Auf dem Berg fast gestorben zu sein, war eigentlich schlimm genug gewesen. Doch jetzt wurde Sam Fredericks, nachdem sie todmüde eingeschlafen war, obendrein von den bizarrsten und heftigsten Schreckensbildern ihres Lebens geplagt.

Der überhaupt nicht enden wollende Albtraum überflutete sie so real mit Grauen und Einsamkeit und Verwirrung, daß irgendwann selbst diese Seelenfolter auf paradoxe Weise so langweilig wurde wie eine hundert Jahre dauernde Fahrt hinten im Auto ihrer Eltern. Die einzige Abwechslung von der niederschmetternden Monotonie der Angst waren die kleinen Phantome, flink und wachsam wie Vögel, die sich schließlich vor ihr aus der langen Dunkelheit herausschälten, als ob sie eine qualvolle, sinnlose Prüfung bestanden hätte und jetzt dafür belohnt werden sollte. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie fühlte sie überall, jedes so zart und unstofflich wie ein ätherischer Hauch. Sie hätten beinahe Elfen sein können, bildschöne Zauberwesen, wie einem der Netzmärchen ihrer Kindheit entsprungen. Geister vielleicht. Was sie auch sein mochten, sie gaben ihr endlich ein Gefühl der Erleichterung und des Friedens. Sie hätte sie gern genommen und an sich gezogen, aber sie waren alle empfindlich wie Schmetterlingsflügel, wie eine zitternde Pusteblume: Ein fester Griff hätte sie zerstört.

Als sie irgendwann doch aus diesem endlos scheinenden Traum auftauchte, war Sam Fredericks’ erster bewußter Gedanke – wie bei jedem Erwachen seit jenem Tag –, daß Orlando tot war. Er war nicht mehr nur vom Tod gezeichnet (ein alltäglicher Schatten, vor dem sie die Augen zu verschließen gelernt hatte), er war tot. Fort. Er kam nicht wieder, nie mehr. Keine neuen Geschichten, keine neuen Erinnerungen. Kein Orlando mehr.

Diesmal aber währte die tiefe Traurigkeit nur, bis sie die Augen aufschlug und das silberdurchwobene Nichts erblickte, das sie umgab. Die Überraschung verwandelte sich in Entsetzen, als !Xabbu ihr beherrscht, doch mit erschütterter Miene erzählte, daß Renie verschwunden war.

 

»Aber was ist passiert? Das scännt so mega mega megamäßig.« Wenigstens eine Stunde schien vergangen zu sein, und nichts hatte sich verändert. Sam hatte nicht zu denen gehört, die in der wetterlosen, statischen Welt gewesen waren, der Renie den Namen »Flickenland« gegeben hatte; für sie war das erstaunlichste an diesem umhüllenden silbergrauen Dunst die schlichte Tatsache seiner offenbar unbegrenzten und unveränderlichen Beständigkeit. »Ist Renie noch weiter oben auf dem Berg? Und wo ist der Berg überhaupt?«

»Ich weiß darauf keine Antwort, Fredericks«, sagte !Xabbu.

»Sam. Sag Sam zu mir, bitte!« Sie hatte keine Kraft mehr zu planen, zu handeln. Orlando war gestorben. In der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft im Netzwerk hatte Sam Fredericks sich nicht gestattet, ernsthaft an die Möglichkeit zu denken, daß eine solche Zeit kommen könnte, eine Zeit, in der sie ohne ihn würde weiterziehen müssen. Wie hätte so etwas sein können? Und doch war es Wirklichkeit geworden. Die Welt ringsherum war genauso absonderlich und unbegreiflich wie zu der Zeit, als Orlando noch am Leben gewesen war, jetzt aber gab es keinen Orlando mehr, der sie antrieb, sie anmuffte, ihr dumme Witze erzählte, weil er wußte, wenn man eine zum Weitermachen bewegen wollte, war es genausogut, sie mit dummen Witzen zu ärgern wie sie mit guten zu amüsieren, und jedenfalls viel einfacher für den Witzeerzähler.

Sam fühlte einen inneren Knoten, ein schmerzhaftes Anschwellen des Herzens. Sie würde ihm nie wieder ihre banalen Feststellungen sagen können, deren vollendete Dämlichkeit ihn schier zum Wahnsinn getrieben hatte, weil er nie wußte, ob sie es ernst meinte oder nicht. Das Druckgefühl in ihr war wie etwas, das geboren werden mußte, aber nicht herauskommen wollte. Es war bestürzend, entdecken zu müssen, wie sehr man jemanden vermissen konnte, dessen wirkliches Gesicht man niemals gesehen hatte.

Was würde er jetzt sagen? überlegte sie. Jetzt, wo alles weg war, Renie verschwunden, sie selbst buchstäblich im Nichts versackt?

»Bis zum Hals im Fen-fen, und Tendenz steigend«, das hatte er einmal in Mittland zu ihr gesagt, als sie sich die Taschen mit Schätzen vollgestopft hatten und beim Umdrehen eine zwanzig Meter lange Schlange vor sich sahen, die gerade zum einzigen Ausgang der unterirdischen Höhle hereinkroch.

Genauso sieht’s jetzt mit mir aus, Gardino, dachte sie. Diesmal in echt. Und Tendenz steigend …

!Xabbu sah, daß ihr Tränen über die Backen kullerten, und er hockte sich neben sie und nahm sie fest in seine schlanken, starken Arme. Als sie sich vor Weinen kaum mehr halten konnte, tauchte eine hochgewachsene Gestalt aus dem Nebel auf.

»Ich wußte, daß sie die Brauchbarste von euch war«, sagte Jongleur verächtlich, »aber ich hätte nicht gedacht, daß ihr zwei in ihrer Abwesenheit so schnell schlappmachen würdet. Habt ihr denn überhaupt kein Rückgrat? Wir müssen weiter.«

Der steinern blickende Mann war Sam ein solcher Greuel, daß sie ihn nicht einmal anschauen konnte, aber !Xabbu neben ihr straffte sich. »Es ist Unsinn, loszugehen, wenn man keine Ahnung hat, wo man hingeht«, sagte der kleine Mann. »Hast du mit deiner Suche mehr Erfolg gehabt als ich?«

Jongleur atmete zischend aus, als ob er ein kleines Leck bekommen hätte. »Nein. Es gibt nichts. Wenn ich nicht sorgfältig auf meine Schritte geachtet hätte und auf demselben Weg zurückgekommen wäre, hättet ihr mich vielleicht nie wiedergesehen.«

»Das wäre wirklich ein Jammer gewesen«, rutschte es Sam heraus.

Jongleur ignorierte sie. »Genau das ist zweifellos eurer Gefährtin passiert. Sie muß nach dem Wechsel hierher an diesen rätselhaften Ort einen Erkundungsgang gemacht haben und findet jetzt nicht mehr zurück.«

»So etwas würde Renie nie tun«, erklärte !Xabbu bestimmt. »Dafür ist sie zu klug.«

Jongleur machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sei’s drum, sie ist weg, der Grund spielt keine Rolle. Und Klement auch.« Sein Lächeln war eisig. »Ich nehme an, wir können davon ausgehen, daß sie nicht zusammen durchgebrannt sind.«

!Xabbu stellte sich hin. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Jongleur, aber etwas an seiner Haltung veranlaßte den größeren Mann zurückzutreten. »Wenn du nichts Sinnvolles zu sagen hast, hörst du auf, von ihr zu reden. Sofort!«

Verärgert, aber von der Entschiedenheit des anderen überrumpelt blickte Jongleur auf ihn herab. »Nimm dich zusammen, Mann. Es war bloß eine Bemerkung…«

»Keine Bemerkungen mehr!« !Xabbu fixierte Jongleur, und während sie die beiden beobachtete, wurde es Sam auf einmal unangenehm bewußt, daß sie ohne !Xabbu mit diesem uralten Ungeheuer allein wäre. Jongleur hielt den Blick. Schließlich berührte !Xabbu sie sanft am Arm. »Er hat allerdings in einer Hinsicht recht, Sam. Wir können zwar noch ein Weilchen auf Renie warten, doch selbst wenn sie in der Nähe ist, kann es gut sein, daß wir sie nicht finden. Stimmen tragen hier nicht sehr weit. Sie könnte hundert Meter entfernt an uns vorbeigehen, und wir würden es nicht merken. Irgendwann müssen wir aufbrechen und hoffen, daß wir unterwegs auf sie stoßen.«

»Wir können nicht… einfach ohne sie gehen!«

Einen Moment lang geriet !Xabbus Fassung ins Wanken, und Sam erkannte die inneren Qualen, die er litt. »Wenn … ihr etwas zugestoßen ist …« Er stockte und äugte zu Jongleur hinüber, vor dem er seine Gefühle auf keinen Fall preisgeben wollte. »Wenn wir sie nicht finden, sind wir es ihr schuldig, weiterzugehen. Vergiß nicht, es war die Liebe zu ihrem Bruder, die sie hierhergeführt hat. Sie würde wollen, daß wir ihm zu helfen versuchen, auch ohne sie.«

Er sprach mit seiner normalen Ruhe, aber in den Worten schwang eine solche Trostlosigkeit, daß Sam zumute war, als ob ihr eigener Fluß des Leids auf einen anderen, mindestens genauso großen getroffen wäre – und wenn sie beide nicht sehr aufpaßten, konnten ihre vereinigten Wasser über die Ufer treten und alles überschwemmen.

 

Wegen der schlechten Sicht mußte sie sich ziemlich dicht bei Jongleur halten, während !Xabbu seine Arbeit machte, und sie konnte nur mit größter Anstrengung ihren Abscheu vor dem Mann bezähmen. Sein hochmütiges Gesicht schien aus Stein zu sein, eine Granitskulptur, wie Sams Vater in seinen krampfigsten und wütendsten Momenten, aber ohne den ausgleichenden Humor, den sie stets aus ihm herauskitzeln konnte. Sie mußte sich unwillkürlich fragen, wie jemand mit Jongleurs Reichtum und Macht sich in eine Bestie verwandeln und sich mit seiner Grausamkeit so viele Leben unterwerfen konnte … Wofür? Bloß um länger am Leben zu sein? Um noch jahrhundertelang diese kalte, freudlose Macht genießen zu können? Sie hatte ohnehin Schwierigkeiten zu verstehen, wieso alte Leute weiterleben wollten, auch wenn sie längst über den Punkt hinaus waren, wo sie noch irgend etwas machen konnten, wodurch das Leben für Sams Begriffe erst lebenswert wurde. Jemand wie Jongleur, der sich bereits durch das dritte Menschenalter schleppte, überstieg ihr Fassungsvermögen vollkommen.

Orlando hatte auch Angst vor dem Sterben gehabt, eine Riesenangst sogar, erkannte sie jetzt, und mit den ganzen Todessimulationen hatte er sich bloß unempfindlich für das Schicksal machen wollen, das so ungerecht früh auf ihn zukam. Doch selbst wenn er die Chance gehabt hätte, dem frühen Tod zu entkommen, hätte er dann, so wie dieser Mann hier, das Leben Unschuldiger geopfert, um sein eigenes zu erhalten? Das konnte sie nicht glauben. Sie glaubte es nicht. Nicht ihr Orlando, der genauso stark an die Aufgabe des Ringträgers geglaubt hatte, wie diese Leute im Kreis an Gott glaubten. Nicht Orlando Gardiner, der ihr erklärt hatte, daß es am meisten darauf ankam, ein wahrer Held zu sein, auch wenn nie jemand davon erfuhr. Er hatte wirklich geglaubt, daß es keine Rolle spielte, was sonst noch geschah oder was die Leute über einen dachten – wichtig war allein, daß man selbst wußte, wer man war.

Selbst ihr Vater hatte einmal, als sie sich mit ihrer Mutter wegen ihres Namens herumstritt, zu ihr gesagt: »Wenn du Sam sein willst, sei Sam, verdammt, sei so sehr Sam, wie du Sam sein kannst!« Seine finstere Miene hatte sich auf einmal in ein Lachen aufgelöst. »Das sollte mal jemand in ein Kinderbuch schreiben!«

Plötzlich wurde das Gefühl, ihren Vater und ihre schreckhafte, überfürsorgliche Mutter zu vermissen, so stark, daß es mindestens so weh tat wie der Schmerz über den Verlust Orlandos, und ein Schatten legte sich auf sie und drohte sie völlig zu erdrücken. Sam starrte den wenige Meter entfernt sitzenden Jongleur an und wußte nicht, ob es am Nebel lag oder an den Tränen in ihren Augen, daß er so undeutlich zu erkennen war, aber eines wußte sie: Was auch geschehen mochte, sie wollte niemals so sein wie er, haßerfüllt und versteinert und allein …

Eine Bewegung riß sie aus ihren Gedanken. !Xabbus kleine Gestalt erschien aus dem Grau. Behutsam, als täte ihm alles weh, setzte er sich neben sie.

»Und?« bäffte Jongleur.

!Xabbu beachtete ihn gar nicht. Er nahm Sams Hand – sie hatte sich noch nicht ganz an seine häufigen freundschaftlichen Berührungen gewöhnt, fand sie aber eher wohltuend – und fragte, wie sie sich fühle.

»Besser, glaub ich.« Sie lächelte ein wenig und merkte, daß es von Herzen kam. »Hat’s was gebracht?«

Er erwiderte ihr Lächeln matt. »Wie ich oft zu Renie sage, die Fähigkeiten, die ich besitze, kann man nicht einfach an- und abstellen. Aber ich denke, ich sehe etwas klarer, ja, ein bißchen vielleicht.«

Jongleur gab ein leises Schnauben von sich. »Jeder andere Mann meiner Generation fände es zum Schreien komisch, daß ich mein Leben zwei Afrikanern anvertraue und einer Kreolin, wenn ich bei diesem Mädchen richtig vermute – und eine Afrikanerin haben wir schon verloren.« Er verdrehte die Augen. »Aber ich bin noch nie engstirnig gewesen. Wenn dir irgendein Instinkt einen Weg zeigt, wie man hier wegkommt, dann, zum Donnerwetter, heraus damit!«

!Xabbu warf ihm einen scharfen Blick echter Abneigung zu, eine der heftigsten Reaktionen, die Sam bis dahin bei ihm erlebt hatte. »Es ist kein ›Instinkt‹, nicht in dem Sinne, wie du meinst. Alles, was ich an Orientierungsvermögen besitze, habe ich gelernt, als ich bei der Familie meines Vaters in die Schule ging. Ich habe dort noch andere Dinge gelernt, die dir anscheinend genauso fremd sind, Güte und klares Denken zum Beispiel.« Er kehrte Jongleur, der zwischen Empörung und säuerlicher Belustigung schwankte, den Rücken zu. »Es tut mir leid, daß ich dich mit diesem Mann allein gelassen habe, Sam, aber ich mußte weit genug weggehen, daß ich euch beide nicht mehr sehen, ja nicht einmal mehr atmen hören konnte. Alles in diesem Netzwerk ist merkwürdiger als in der wirklichen Welt. Es war schon vorher schwierig, sich darin zurechtzufinden, aber in dieser Umgebung hier ist es noch schwieriger – bis vor kurzem hätte ich behauptet, daß außer uns nicht das geringste wahrzunehmen ist. Und vielleicht stimmt das ja sogar. Es könnte sein, daß ich mir wie ein Verhungernder, der Wild zu wittern hofft, etwas eingeredet habe, das gar nicht der Wahrheit entspricht.«

»Du denkst, du hast… etwas gewittert?«

»Nicht ganz, Sam. Lange saß ich einfach da und bemühte mich, wie gesagt, die Geräusche und Gerüche von dir und … und diesem Mann zu vergessen. Eine Zeitlang hatte ich die Hoffnung, Renie in der Ferne rufen zu hören.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Schließlich aber ließ ich davon ab und … machte mich auf. Das ist nichts Mystisches«, beeilte er sich zu versichern, wobei er sich über die Schulter zu Jongleur umguckte. »Es ist eher die Fähigkeit, wahrhaft zu hören, zu riechen, zu sehen. Die Menschen in der Stadtwelt erfahren das selten, weil alles, was sie brauchen, prompt und unmittelbar zu ihnen kommt, wie aus der Pistole geschossen.« Sein Gesicht wurde ernst, während er nach den richtigen Worten suchte. »Nach einer Weile begann ich etwas zu fühlen. Vielleicht ist das ein wenig so, wie Martine Dinge wahrnimmt – es dauert etwas, bis man die Muster hier versteht –, aber wahrscheinlich lag es schlicht daran, daß ich schließlich die nötige Stille hatte und … wie soll ich sagen? Die Alleinheit? Jedenfalls konnte ich irgendwann hören.« Er drückte Sam wieder die Hand und stand auf. »In die Richtung«, sagte er und deutete auf einen Abschnitt der schimmernden Leere, der sich durch nichts von den anderen unterschied. »Es kann sein, daß ich mich selbst betrüge, aber ich fühle, daß dort etwas ist, in dieser Richtung.«

»Etwas?« Jongleurs Stimme war beherrscht, aber Sam konnte die Gereiztheit durchhören. Mit einemmal kam ihr die Erkenntnis, wie sehr es an einem Mann seines Schlages nagen mußte, überhaupt von jemandem abhängig zu sein, erst recht von einem, der für seine Begriffe kaum mehr als ein primitiver Wilder war.

Wie alt ist er eigentlich wirklich? überlegte Sam, und es schauderte sie beinahe. Zweihundert Jahre? Hatten sie damals, als er jung war, vielleicht noch Sklaven oder so?

»Was ich spüre, ist… etwas«, antwortete !Xabbu. »Es gibt kein anderes Wort dafür. Ich rede nicht so, um dich zu provozieren. Es könnte eine Verdichtung sein oder eine stärkere Bewegung oder eine weit entfernte Unruhe in einem Zustand, der hier geordneter erscheint, oder … so etwas. Wie der Hauch einer vom Wind fast ganz verwehten Spur im Sand. Mag sein, daß es nur eine Illusion ist. Aber dorthin werde ich gehen, und ich denke, Sam wird mit mir kommen.«

»Aber voll.« Was wäre schon die Alternative? In alle Ewigkeit hier in diesem Nebel zu warten und darauf zu hoffen, daß irgendwoher Hilfe kam? Das hätten Orlando oder Renie niemals getan.

Jongleur musterte !Xabbu durchdringend. Diesmal brauchte Sam keine besondere Eingebung, um die Gedanken des Mannes zu lesen. Er versuchte, sich darüber klarzuwerden, ob !Xabbu ihn vielleicht anlog oder ob er verrückt war oder ob er sich einfach irrte. Sam hätte mit einem Ekel wie Jongleur niemals Mitleid haben können, aber sie konnte sich beinahe vorstellen, wie es sein mußte, immer alles und jeden zu verdächtigen. Es war eine häßliche, bedrückende Vorstellung.

»Na gut, geh voran.« Selbst nackt gebärdete sich Jongleur wie ein König, der einem Bauern eine Gunst gewährt. »Alles ist besser als das hier.«

 

 

> Beim dritten Mal hätte Renie fast nicht mehr zurückgefunden. Es war krank, den debilen Ricardo Klement als Orientierungspunkt zu nehmen, und noch kränker, regelrecht Freude und Erleichterung zu empfinden, als sie den Umriß seiner sitzenden Gestalt aus dem Nichts auftauchen sah.

Und wenn er sich nun bewegt hat? fragte sie sich. Ich habe ihn zwar wiedergefunden, aber es wäre dann nicht dieselbe Stelle, an die ich zurückkomme. Möglicherweise waren !Xabbu und Sam schon vorher hier, und jetzt suchen sie am alten Platz nach mir…

Bei alledem ging sie von der Voraussetzung aus, daß ihre beiden Freunde noch am Leben waren, daß sie nicht einfach vom Netzwerk beziehungsweise von diesem verrückten Teilbereich hier geschluckt oder gedrezzt worden waren. Aber bei dieser Möglichkeit mochte sie nicht lange verweilen.

Und noch viel länger herumirren mochte sie auch nicht. Es war sowieso egal – das ununterbrochene, eintönige Grau nahm kein Ende, der verschleierte Boden, flach wie eine Tischplatte, ging einfach immer weiter, überall herrschten Stille und Leere. Sie konnte sich aussuchen, ob sie irgendwo bleiben oder sich ständig weiterbewegen wollte.

Daß Klement sich freute, sie zu sehen, konnte man nicht gerade sagen – er hob bei ihrer Rückkehr leicht den Kopf –, aber ohne Frage registrierte er, daß sie da war: Seine Augen verfolgten sie, und er veränderte ganz geringfügig seine Position, als sie sich ein paar Meter entfernt hinsetzte, wie um zwischen ihnen Raum für ein Lagerfeuer zu lassen, falls es in dieser Welt ein Lagerfeuer oder überhaupt irgend etwas gegeben hätte.

Renie hätte einen Arm für ein Lagerfeuer gegeben. Sie hätte noch ein Glied und vielleicht ein paar Organe dazugetan, wenn !Xabbu und Sam mit ihr an diesem Feuer gesessen hätten.

Ich hätte nicht das Schicksal herausfordern sollen mit meinem ständigen Räsonieren darüber, wie wenige von uns noch übrig sind. Jetzt ist niemand mehr übrig. Nur noch ich. Und … das da.

Ricardo Klement erwiderte ihren Blick so regungslos, daß sie den Eindruck hatte, ein Bild in einem Museum anzuschauen. Das letzte, was man erwarten würde, war, daß dieses Bild zu sprechen anfing.

»Was … bist du?« fragte Klement.

Renie zuckte überrascht zusammen. Sie mußte sich fassen, ehe sie antworten konnte. »Was ich bin?« Das Sprechen fiel ihr schwer, so heiser war ihre Stimme vom Schreien nach ihren verschollenen Gefährten. »Was meinst du damit? Ich bin eine Frau. Ich bin eine Afrikanerin. Ich bin eine, der du und dein Klüngel reicher Freunde … Leid zugefügt habt.« Sie hatte keine Worte, um ihren Kummer über Stephen auszudrücken, obwohl die Hilflosigkeit der letzten Stunden diesen Kummer eher noch verschlimmert hatte.

Klement glotzte. Etwas arbeitete sichtlich in ihm, aber es war ganz tief unten. »Das ist … ein langer Name«, sagte er schließlich. »Er ist … lang.«

»Name?« Du liebes Lieschen, dachte sie, diese Zeremonie hat ihm wirklich ordentlich das Gehirn zermatscht. »Das ist nicht mein Name, das ist …« Sie hielt inne und holte tief Luft. »Mein Name …?« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm den sagen wollte, auch wenn sie die Anonymität schon lange aufgegeben hatte. Mochte mit seinem Gehirn passiert sein, was wollte, etwas ärgerte sie an der Art, wie dieser Kerl hier einen auf kindliche Unschuld machte. Bedeutete diese zunehmende Gesprächsbereitschaft, daß der alte Ricardo Klement langsam zum Vorschein kam oder daß die neue, gestörte Version besser mit ihren Fähigkeiten umzugehen lernte?

»Mein Name ist Renie«, sagte sie schließlich.

Klement erwiderte nichts, aber stierte sie dennoch weiter an, so als wollte er den frisch abgespeicherten Namen mit einem genauen optischen Eindruck verbinden.

Renie seufzte. Dieser Schwachkopf war das geringste ihrer Probleme. Nach ungefähr einem halben Tag in der Leere hatte sich nichts verändert. Sie hatte geschrien, bis ihre Stimme nur noch ein Röcheln war, sie war Dutzende von kleinen Runden gegangen, alles ohne Ergebnis. Es gab nichts, was man als Landschaft bezeichnen konnte, keinerlei Orientierungspunkte, kein gerichtetes Licht, keine anderen Geräusche als die, die sie selbst machte. Aber wenn ich hier bleibe, komme ich hier um. Oder Stephens Herz wird zuletzt versagen, und er stirbt in diesem Krankenhausbett, und dann ist es ganz egal, was aus mir wird. Da sie nur den undurchdringlichen Dunstschleier vor Augen hatte, stellte sie sich immer wieder Stephens liebes Gesicht vor, doch es war das kranke Gesicht, das vor ihr auftauchte, die toten Augen und die aschgraue Haut, das schlaffe Kinn vom Atemgerät gestützt. Er vertrocknet, schrumpft ein. Wie ein aus dem Wasser gezogener und an Land geworfener Fisch. Lieber Gott, bitte laß mich Stephen noch einmal anders sehen als so.

Aber wenn sie nichts zuwege brachte, wozu war sie dann gut? Eine Renie im Nichts, ohne praktische Handlungsmöglichkeiten, war für sie eine unmögliche, unannehmbare Vorstellung. Aber was sollte sie tun? Sie hatte keine Hilfsmittel, nichts als das Feuerzeug, und obwohl sie mehrmals versuchte, ein Gateway zu öffnen, war und blieb es hartnäckig inaktiv.

»Wo … ist dieser … Ort?« fragte Klement.

Renie fluchte im stillen, dann fand sie, daß sie sich wenigstens dieses kleine Vergnügen gönnen sollte, und fluchte noch einmal laut. Sie würde mit seinen sporadischen Einwürfen leben müssen, wie es schien.

»Weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts. Jongleur hat ja gesagt, daß wir uns nicht im Netzwerk befinden, und das hier … das ist noch weniger im Netzwerk, nehm ich mal an.« Sie sah ihn scharf an. »Du begreifst nichts von alledem, stimmt’s?«

»Das ist auch ein langer Name. Namen von Orten … wenn man sie sagt … sind gewöhnlich nicht so lang.«

Sie winkte müde ab. Da war er ihr vorher lieber gewesen, schien es ihr allmählich, als er noch nichts anderes sagen konnte als »Ich bin Ricardo Klement«.

Renie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem drängenden Problem ihrer Ortlosigkeit zu und verbrachte ungefähr eine Viertelstunde damit, im Kopf alles durchzugehen, was seit ihrer letzten gemeinsamen Rast mit !Xabbu und den anderen geschehen war, kam aber auf nichts, worauf sie eine Theorie über das Wie und Warum ihrer Trennung hätte gründen können. Das allgegenwärtige seidige Grau glich sehr der silbernen Wolkendecke, die sie von der Bergspitze aus gesehen hatten, aber das erklärte nicht, wie der Berg verschwunden war oder wo ihre Gefährten steckten. Sie war einfach eingeschlafen und dann unter diesen veränderten Umständen aufgewacht. Konnte der seltsame Traum etwas damit zu tun haben? Sie versuchte sich an die Einzelheiten zu erinnern, das tosende Chaos, die lange Finsternis, zuletzt das tröstliche Erscheinen jener hauchfeinen Wesenheiten, aber das alles kam ihr bereits vage und fern vor. Auf jeden Fall wurde dadurch nichts klarer.

Es war ein Rätsel. Ein Rätsel wie in einem guten alten Krimi, wo keiner sich vorstellen konnte, wie der Mörder es geschafft hatte, in ein verschlossenes Zimmer hineinzukommen. Aber hier war die Frage umgekehrt, nicht Wie komme ich in ein verschlossenes Zimmer hinein?, sondern: Wie komme ich aus dem totalen Nichts hinaus … irgendwohin?

Das einzige, was sie besaß, waren die Kleidungsfetzen, die sie sich aus Orlandos Chiton gemacht hatte, und das Feuerzeug. Aber mit dem Feuerzeug ließ sich kein Gateway mehr aufrufen, was im Augenblick das Naheliegendste gewesen wäre. Konnte es ihr noch irgendwie anders helfen?

Wenn ich eine Zigarette hätte, könnte ich sie damit anzünden, dachte sie mürrisch.

Plötzlich kam ihr eine Idee. Die bleiche Nebelwelt ringsumher, unnatürlich und anscheinend endlos, konnte sie der Weiße Ozean sein, von dem Paul Jonas und andere gesprochen hatten? Die Kinder des Netzwerks hatten ihn als etwas Mythisches beschrieben, ein Meer, das man überfahren mußte, um in eine Art Gelobtes Land zu kommen. Sollte das heißen, daß es auf der anderen Seite dieser Leere etwas gab? Das war ein ermutigender Gedanke. Doch selbst wenn es so war, hatte sie deswegen noch lange keine Ahnung, wie man dort hingelangte.

Sie zog das Feuerzeug zwischen ihren Brüsten hervor und hielt es hoch. So sehr sie, !Xabbu und Martine vor dem Verlassen der Hauswelt daran herumgedoktert hatten, von seinen wahren Möglichkeiten hatten sie sehr wenig in Erfahrung gebracht – etwa wie eine Gruppe Außerirdischer, die auf ein Auto gestoßen war und nach langem Herumhantieren herausgefunden hatte, wie man die Scheinwerfer anstellt. Durch weiteres Experimentieren konnte sie möglicherweise mehr entdecken, vielleicht sogar einen Ausweg aus ihrem derzeitigen Dilemma, aber durfte sie das wagen? Sie hatte über Jongleurs panische Reaktion die Nase gerümpft, aber größtenteils deshalb, weil der Mann ihr so zuwider war. Als Dreads Stimme summend aus dem Feuerzeug gekommen war, aus einem Ding, das sie eben noch an ihrer nackten Haut gehabt hatte, war ihr zumute gewesen, als ob Insekten auf ihr krabbelten. Konnte sie es wirklich riskieren, das in das Gerät eingebaute Kommunikationsgear auszuprobieren und ihm damit eventuell ihren Standort zu verraten? Der einzige Mensch außer Dread, der ihres Wissens auf das Kommunikationsband zugriff, war Martine, und sie hatte sich nicht so angehört, als ob sie imstande wäre, irgend jemandem zu helfen.

Und selbst wenn ich zu ihr durchkäme. Was würde ich ihr sagen? »Martine, komm mich finden, ich bin mitten in so einer grauen Soße.«

In dem reflexhaften Bestreben, einen günstigen Einfallswinkel für ein gar nicht scheinendes Licht zu finden, hielt sie das Feuerzeug hoch und drehte es. Sie betrachtete das schnörkelige Y, umschlungen von erhabenem Ranken- und Blattwerk, als wäre es eine Statue in einem vergessenen Garten. Was hatte Jongleur gesagt, wie der Mistkerl hieß? Yacoubian. Derselbe, der Orlando de facto umgebracht hatte. Sie unterdrückte ein zorniges Aufwallen in der Brust. Ich hoffe, T4bs Hand in seinem Kopf hat ihm höllisch weh getan. Ich hoffe, er hat immer noch Schmerzen, und sie hören nie mehr auf.

Sie überlegte kurz, ob wohl auch Yacoubian insgeheim das Kommunikationsband des Gerätes abhorchte und nur darauf wartete, daß sie sich meldete. Der Gedanke war unangenehm, aber die Vorstellung, daß Dread irgendwo hockte und wie eine Katze darauf lauerte, daß eine der Mäuse ihre Barthaare zeigte, war viel schlimmer.

Lauernd, grinsend, lauschend…

Da kam ihr ein Gedanke. Renie sprang auf, um einen gewissen Abstand zwischen sich und Klement zu schaffen, zögerte dann aber aus einem unbestimmten Gefühl der Loyalität heraus und erklärte: »Ich gehe nur ein kleines Stück weg. Ich brauche Ruhe. Sag nichts, kein Wort. Ich bin gleich wieder da.«

Er blickte ihr hinterher, gleichgültig wie eine malmende Kuh.

Als sie weit genug weg war, so daß sie noch seine verschwommene Silhouette sehen konnte, aber sich halbwegs ungestört fühlte, hielt sie das Feuerzeug wieder hoch. In der, Hauswelt hatten sie entdeckt, wie man das Kommunikationsband aktiviert, aber sie war sich nicht sicher, daß sie die Sequenz noch zusammenbrachte. Sie starrte mit dumpfer Furcht darauf, berührte dann aber doch die Punkte in der erinnerten Reihenfolge. Nichts Schlimmes geschah daraufhin, aber auch nichts Gutes. Das Feuerzeug blieb tot und stumm. Ihre Umgebung war unverändert.

Mit angehaltenem Atem legte sie es sich vorsichtig ans Ohr, dann hielt sie es mit ausgestrecktem Arm vor sich und beschrieb langsam einen Bogen damit. Sie hörte nichts als Stille. Sie atmete aus und lauschte aufs neue. Als sie ihr Ergebnis bestätigt fand, drehte sie sich ein wenig nach rechts und wiederholte die Übung.

Als wenn’s eine Wünschelrute wäre, sagte sie sich halb belustigt und halb verlegen. Wenn ich das je einem erklären soll, denke ich mir lieber was aus, das sich ein wenig wissenschaftlicher anhört.

Aber sie handelte nicht allein aus Aberglaube und Verzweiflung, und als sie in dem Kreis, den sie langsam beschrieb, fast halb herum war, hörte sie etwas. Es war so schwach, daß es ihr nur als eine geringfügig lautere Stille auf dem Kommunikationsband erschien, aber sie meinte sicher, ein minimales Zischen zu hören, ein Geräusch, das, einerlei wie leise, vorher nicht dagewesen war.

Sie drehte sich mit dem Feuerzeug ein bißchen weiter, bis der Geräuscheindruck wieder fort war, und vollendete dann den Kreis, um ganz sicherzugehen. Als sie in dieselbe Richtung blickte wie vorher, stellte sich auch das Geräusch wieder ein.

Bevor sie ihr Leben auf etwas setzte, wollte sie aber so sicher wie nur irgend möglich sein. Mit einem Blick zurück vergewisserte sie sich, daß Klement immer noch dort saß, wo sie ihn zurückgelassen hatte, ein nahezu unsichtbarer, unförmiger Schatten in vielleicht fünfzehn Meter Entfernung, dann zog sie ihr Oberteil aus und warf es ein Stück weit in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Sie schloß die Augen, wirbelte mehrmals im Kreis herum, bis sie die Orientierung verloren hatte, und begann dann wieder mit der langsamen Rotation, das Feuerzeug als Kompaßnadel vor sich. Als sie das sichere Gefühl hatte, das leise Murmeln wieder zu hören, schlug sie die Augen auf.

Das helle Kleidungsstück lag direkt vor ihr.

»Sehr gut!« Sie war zufrieden mit sich, aber noch zufriedener bei dem Gedanken, daß sie wieder etwas hatte, worauf sie ihre Kräfte konzentrieren konnte. Sie band ihr Oberteil um und wollte schon losgehen, als ihr Blick noch einmal auf Klement fiel. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er saß so still, daß man meinen konnte, er werde sich nie wieder bewegen.

Ich sollte den dreckigen Mörder einfach hier hocken lassen, dachte sie bei sich. Wahrscheinlich werde ich mich später verfluchen, wenn ich’s nicht tue. Doch die Vorstellung, den geradezu kindlichen Idioten in diesem tödlichen Nichts allein zu lassen, kam ihr plötzlich nicht richtig vor, obwohl sie nicht sagen konnte, warum.

Renie schrie: »Ich geh jetzt in die Richtung. Ich komm nicht wieder. Wenn du mir folgen willst, dann mach’s lieber gleich.«

Überzeugt, etwas unsäglich Dummes getan zu haben, aber dennoch mit einem leichteren Herzen machte sie sich auf, der Ursache des Flüsterns nachzugehen.

 

 

> Durch das endlose Silbergrau zu stapfen, fand Sam, war irgendwie noch schlimmer, als bloß darin zu sitzen. Das Gelatsche war schlimm genug – Sport, bei dem es um etwas ging, mochte sie gern, aber aus Laufen und Wandern, wo man die Beine nur um der Bewegung willen bewegte, hatte sie sich noch nie etwas gemacht. Doch daß es keine Landschaftsformen und kein Wetter gab und daß das ortlose Licht sich nie veränderte, ließ das Ganze wie eine Folter mit dem erklärten Ziel erscheinen, Sam Fredericks zum Wahnsinn zu treiben. Zum erstenmal seit dem Eintritt ins Netzwerk ging ihr das Essen wirklich ab, nicht zur Stillung eines etwaigen Hungers, sondern zur Einteilung der verfließenden Zeit.

Kein Wasser, kein Essen, keine Rast. Nach schätzungsweise zwei Stunden wurde das zu einem unablässigen Singsang in ihrem Kopf, einer Art Werbeslogan für ein ausgesucht sadistisches Urlaubsangebot. Es war zudem leicht übertrieben, denn sie legten durchaus Ruhepausen ein, vor allem damit !Xabbu auf das rätselhafte vage Signal lauschen konnte, an dem er sich orientierte, aber die Pausen waren auch nicht viel besser als das Gehen. Jedesmal blieb sie eine Zeitlang mit einem stummen Jongleur allein, was ein wenig so war, als hätte man einen unfreundlichen Hund im Zimmer: Auch wenn keine direkte Bedrohung erfolgte, lag die Möglichkeit immer in der Luft. Derart auf sich selbst zurückgeworfen fiel es Sam schwer, an etwas anderes zu denken als an Orlando und ihre Eltern, alle unerreichbar fern, und nicht den Glauben daran zu verlieren, daß ihre Mutter und ihr Vater im Unterschied zu Orlando noch am Leben waren und sie die beiden eines Tages wiedersehen würde.

Felix Jongleur marschierte mit der zähen Entschlossenheit eines fanatischen Pilgers. Sam war jung und kräftig, und sie vermutete, daß er Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten, doch er ließ sich nicht das geringste anmerken. Im Gegenteil, wenn sie anhielten, damit !Xabbu, metaphorisch gesprochen, den Wind schnuppern konnte, gebärdete er sich betont ungeduldig. Bei einem weniger abstoßenden Mann wäre das Durchhaltevermögen vielleicht bewundernswert gewesen, aber in Sams Augen vergrößerte es nur seine Distanz von den normalen Menschen. Sie schluckte ihre müden Klagen herunter, um vor ihm ja keine Schwäche zu zeigen.

Wenn Felix Jongleur sich anstrengen mußte, um mit Sam mitzukommen, mußte !Xabbu sich offensichtlich zügeln, um sie nicht beide abzuhängen. Nachdem sie ihn längere Zeit im Paviansim erlebt hatte, gewöhnte sie sich jetzt erst langsam an die Veränderung. In mancher Hinsicht kam ihr !Xabbu in seinem wirklichkeitsgetreuen Körper phantastischer vor als in der Gestalt eines Affen. Ungeachtet seiner zierlichen Statur – er war kleiner und dünner als Sam, die selbst schlank und nur normal groß war – schien er nie zu ermüden und bewegte sich mit einer traumwandlerischen Sicherheit und Gewandtheit.

»Wo kommen Buschleute eigentlich her?« fragte sie unvermittelt. Als !Xabbu nicht sofort antwortete, beschlich sie eine peinliche Befürchtung. »O Mann, ist das etwa eine voll unhöfliche Frage?«

Seine Schlitzaugen waren normalerweise so schmal, daß man kaum die braune Iris sehen konnte, doch mitunter gingen sie vor Überraschung oder Belustigung plötzlich weit auf – welche der beiden Reaktionen ihre zweite Frage ausgelöst hatte, konnte sie nicht sagen. »Nein, nein. Sie ist nicht unhöflich, Sam. Ich denke nur über die Antwort nach.« Er deutete auf seine Brust. »Ich für mein Teil komme aus einem kleinen Land, das Botswana heißt, aber die Menschen meines Blutes sind über das ganze südliche Afrika versprengt. Oder meinst du ursprünglich?«

»Ich denke, ja.« Sie schloß zu ihm auf und paßte ihren Schritt seinem an. Sie wollte nicht, daß Jongleur an dem Gespräch teilhatte.

»Das weiß niemand mit Sicherheit. In der Schule wurde mir erzählt, daß wir vor langer, langer Zeit aus dem Norden des Kontinents nach Süden wanderten, vor hunderttausend Jahren vielleicht. Aber es gibt auch andere Theorien.«

»Kannst du deshalb ewig gehen, irgendwie? Weil du ein Buschmann bist?«

Er lächelte. »Vermutlich. Ich wuchs in zwei Traditionen auf, und in beiden war das Leben schwer, aber die Leute von meines Vaters Seite – die nomadischen Jäger vom ganz alten Schlag – gingen und liefen manchmal tagelang auf der Spur eines Wildes. Ich bin nicht so stark, wie sie waren, glaube ich, aber ich mußte hart werden, als ich bei ihnen lebte.«

»Waren? Willst du damit sagen, es gibt sie nicht mehr?«

Etwas wie ein Schatten huschte an diesem schattenlosen Ort über sein braunes Gesicht. »Ich konnte sie nicht finden, als ich vor einigen Jahren noch einmal nach ihnen schauen wollte. Es waren ohnehin nur noch wenige übrig, und die Kalahari ist rauh. Es könnte sein, daß es keine Menschen mehr gibt, die nach der alten Art leben.«

»Verdumpft! Dann bist du quasi… der letzte Buschmann.« Noch während sie es aussprach, merkte sie, was für ein schreckliches Schicksal das wäre.

!Xabbu bemühte sich tapfer, wieder zu lächeln. »Ich sehe mich nicht so, Sam. Zum einen habe ich die ursprüngliche Lebensweise nur als Besucher kennengelernt. Ich war nur wenige Jahre bei ihnen. Aber es könnte durchaus sein, daß niemand mehr die althergebrachte Art so lernt wie ich damals – ja, das ist wohl so.« Er war eine Weile geistesabwesend. In der Stille konnte Sam hinter sich Jongleurs angestrengtes, gleichmäßiges Schnaufen hören. »Es ist nicht verwunderlich. Es ist ein Leben, das mir lieb und teuer ist, aber ich glaube nicht, daß viele meiner Meinung wären. Wenn du zu dem Stamm gehören würdest, Sam, würdest du es sehr hart finden.«

Etwas in der Art, wie er das sagte, rührte Sam das Herz – er wirkte bedürftig, was sie bei ihm noch nie zuvor erlebt hatte. Vielleicht lag es an Renies Verschwinden. »Erzähl mir davon«, sagte sie. »Müßte ich Löwen mit dem Speer jagen oder sowas?«

Er lachte. »Nein. Im Delta, wo die Leute meiner Mutter leben, fischen sie manchmal mit Speeren, aber in der Wüste werden große Tiere mit Pfeil und Bogen erlegt. Ich kenne niemanden, der schon einmal einen Löwen getötet hat, und wenige, die je einen gesehen haben – auch sie sterben aus. Nein, wir schießen mit Giftpfeilen und verfolgen dann das Tier, bis es am Gift gestorben ist.«

Sie fand das ein wenig unfair, aber verkniff sich die Bemerkung. »Machen Mädchen das auch?«

!Xabbu schüttelte den Kopf. »Nein, wenigstens nicht bei den Leuten meines Vaters. Und selbst Männer gehen nur hin und wieder auf Großwildjagd. Meistens fangen sie kleinere Tiere. Die Frauen haben andere Pflichten. Wenn du eine von meinem Stamm wärst, ein unverheiratetes Mädchen wie du, dann würdest du dich mit um die Kinder kümmern, sie beaufsichtigen, Spiele mit ihnen machen …«

»Das klingt nicht schlecht. Was hätte ich an?« Sie sah auf ihren improvisierten Bikini herab, eine traurige Erinnerung an den toten Orlando. »Sowas wie das?«

»Nein, nein, Sam. Die Sonne hätte dich am ersten Tag verbrannt. Du würdest einen Karoß tragen, einen Überwurf aus Antilopenfell, an dem noch der Schwanz dran ist. Und neben der Beaufsichtigung der Kinder würdest du den anderen Frauen helfen, nach Wildmelonen und Wurzelknollen und Insektenlarven zu graben, Sachen, die du, glaube ich, nicht so gern essen würdest. Aber in der Kalahari läßt man nichts verkommen. Wir nehmen unsere Bogen nicht nur zum Schießen, sondern auch um Musik damit zu machen. Und unsere Daumenharfen«, er mimte das Spielen eines kleinen, mit den Daumen gezupften Instruments, »nehmen wir auch zum Seileflechten. Alles wird möglichst vielseitig verwendet. Nichts bleibt ungenutzt.«

Sie versuchte sich das vorzustellen. »Den Teil finde ich gut. Aber ich weiß nicht, ob ich gern Insektenlarven essen würde.«

»Und Ameiseneier«, erklärte er ernst. »Die essen wir auch.«

»Igitt! Das sagst du nur so!«

»Nein, ich schwöre es«, versicherte er, doch er mußte wieder lächeln. »Sam, ich bange um dieses Leben, und Ameiseneier würden mir sehr fehlen, wenn ich nie wieder welche essen dürfte, doch ich weiß, daß diese Art zu leben den meisten Menschen nicht gefallen würde.«

»Es hört sich so hart an.«

»Das ist es.« Er nickte, auf einmal ein wenig distanziert, ein wenig traurig. »Das ist es.«

 

Der endlose Marsch fand schließlich ein vorläufiges Ende. Jongleur humpelte, obwohl er nicht zugeben wollte, daß er Schmerzen litt. Sam, die ebenfalls wunde Füße hatte und erschöpft war, mußte ihren Stolz fahrenlassen und zu bedenken geben, daß sie vielleicht langsam rasten sollten.

Sie war inzwischen außerordentlich geübt darin, ohne Kissen oder Decke zu schlafen – die vielen Ritte ins Hinterland, die Pithlit mit Thargor unternommen hatte, waren eine gute Schulung gewesen –, und der unsichtbare Boden war nicht härter als mancher andere Schlafplatz, aber trotz ihrer Erschöpfung konnte sie keine Ruhe finden. Die Träume von Dunkelheit und Einsamkeit kehrten wieder, nicht ganz so plastisch wie zuvor, aber deutlich genug, daß sie mehrmals wach wurde. Beim letztenmal kniete !Xabbu neben ihr in dem morgengrauen Licht ohne Morgen und blickte sie besorgt an.

»Du hast aufgeschrien«, sagte er. »Du meintest, die Vögel würden nicht zu dir kommen …?«

Sam konnte sich an keine Vögel erinnern – die Einzelheiten des Traumes verblaßten bereits –, aber sie erinnerte sich, wie einsam sie gewesen war und wie sehr sie sich nach Gesellschaft gesehnt hatte, nach mitmenschlicher Wärme in dem langen, kalten Dunkel. Als sie es ihm erzählte, sah er sie befremdet an.

»Genauso etwas habe ich auch geträumt«, sagte er. Er schaute sich zu Felix Jongleur um, der gerade unter kleinen Zuckungen und leisem Wimmern aus den Tiefen des Schlafs aufstieg. !Xabbu ging zu ihm und rüttelte ihn wach.

»Was willst du?« fauchte Jongleur, aber Sam meinte, in seinen Worten einen schwachen und ängstlichen Ton zu hören.

»Meine Freundin und ich haben den gleichen Traum gehabt«, teilte !Xabbu ihm mit. »Sage uns, was du geträumt hast.«

Jongleur fuhr zurück, als hätte er sich verbrannt. »Ich werde dir gar nichts sagen. Faß mich nicht an!«

!Xabbu blickte ihn durchdringend an. »Das könnte wichtig für uns sein. Wir sind hier alle zusammen gefangen.«

»Was in meinem Kopf vorgeht, ist allein meine Sache«, versetzte Jongleur scharf. »Es geht dich nichts an – und auch sonst niemanden!« Er stellte sich mit geballten Fäusten und bleichem Gesicht drohend vor ihn hin. Sam kam mit einemmal der Gedanke, wie seltsam es war, daß sie alle so lebensechte Gestalten hatten, daß alles so sehr der realen Welt glich und gleichzeitig doch vollkommen irreal war.

»Dann behalte es«, sagte !Xabbu wegwerfend. »Behalte deine Geheimnisse.«

»Ein Mann ohne Geheimnisse ist gar kein Mann«, gab Jongleur giftig zurück.

»Tschi-sin«, sagte Sam. »Voll scännuliert, der Typ. Laß ihn, !Xabbu. Gehen wir weiter.« Aber im stillen wunderte sie sich über den Wandel von Jongleurs normalerweiser eiskalter Miene. Einen Moment lang hatte er ausgesehen wie von Dämonen gehetzt.

Die Vorstellung, den gleichen Traum gehabt zu haben wie er, ließ ihr auch im Gehen keine Ruhe. »Wie kann das sein?« fragte sie ihn. »Ich meine, daß wir dieselben Dinge sehen, ist eine Sache, denn die Bilder werden uns alle vom System in den Kopf gepumpt. Aber man kann doch nicht Gedanken und Träume und so ’nen Fen-fen in einen reinpumpen.« Sie runzelte die Stirn. »Oder?«

!Xabbu zuckte mit den Achseln. »Seit wir uns in diesem Netzwerk befinden, gibt es nichts als Fragen.« Er wandte sich an Jongleur. »Wenn du nicht über Träume sprechen willst, sag uns wenigstens, wie es kommt, daß wir gegen unseren Willen in diesem Netzwerk festgehalten werden? Du bezeichnest dich als Herrn des Systems, als Gott sogar, aber jetzt sitzt du genauso hier fest. Wie ist so etwas möglich? Mit deinen ganzen teuren Apparaturen bist du ja vielleicht auf einen durch die Leitungen fließenden Denkstrom reduziert – aber ich? Ich habe nicht einmal eine Neurokanüle oder wie das heißt. Das System hat keinen direkten Kontakt zu meinem Gehirn.«

»Es besteht immer ein direkter Kontakt zwischen der Außenwelt und dem Gehirn«, erwiderte Jongleur barsch. »Ständig. Gerade du mit deinem Gerede von alten Stammesbräuchen und naturnahem Leben solltest wissen, daß das seit Anbeginn der Zeit so ist. Wir könnten nicht sehen, wenn nicht das Licht Meldungen an das Gehirn übertrüge, und nicht hören, wenn nicht Schallwellen ihm Muster eingeben würden.« Er grinste süffisant. »So geht das die ganze Zeit, das ganze Leben lang. Was du meinst, ist, daß kein direkter elektronischer Kontakt zwischen deinem Gehirn und diesem Netzwerk besteht, daß es keinen unmittelbaren Anschluß gibt. Und das ist in dieser Situation bedeutungslos.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte !Xabbu geduldig. Sam hatte gedacht, er habe den älteren Mann aus Verärgerung reizen wollen, doch jetzt hatte sie den Eindruck, daß er auf etwas anderes hinauswollte. »Willst du damit sagen, daß es noch andere Wege gibt, wie man meinem Gehirn Gedanken einpflanzen kann?«

Jongleur schnaubte. »Wenn du denkst, du könntest mir mit diesem kindischen Katechismus die Geheimnisse meines teuren Betriebssystems abluchsen, dann irrst du dich. Aber jedes Schulkind, selbst eines aus dem hintersten Afrika, sollte eigentlich erraten können, wodurch wir online gehalten werden. Bist du in der Zwischenzeit einmal offline gewesen?«

»Ich«, warf Sam ein. Die Erinnerung daran war furchtbar.

»Und was geschah?« Er durchbohrte sie mit einem grimmigen Blick, so daß er aussah wie ein Großvater aus der Hölle. »Los, sag schon! Was geschah?«

»Es … hat weh getan. Echt megaätzmäßig.«

Jongleur verdrehte die Augen. »Ich habe schon zehn Generationen Teenagerslang über mich ergehen lassen müssen. Das allein würde einem schwächeren Mann ein für allemal den Wunsch austreiben, so lange zu leben wie ich. Ja, es hat weh getan. Aber du warst nicht in der Lage, allein offline zu gehen, stimmt’s?«

»Stimmt«, gab Sam widerwillig zu. »Ich wurde ausgestöpselt. Im RL.«

»Ja, im ›realen Leben‹. Wie passend.« Jongleur bleckte die Zähne zu einem kalten Grinsen. »Weil du keine Möglichkeit finden konntest, es selber zu tun, genau wie ich jetzt keine finden kann. Und meinst du, das liegt daran, daß wir ins Paradies versetzt wurden, wie es uns nach der Ansicht dieser frömmelnden Schwachköpfe vom Kreis eines Tages widerfahren wird, in unverwesliche Körper, die von solchen Dingen wie Neurokanülen unbefleckt sind? Meinst du das etwa?«

»Nein.« Sam blickte ihn finster an. »Kannste nullen.«

»So, und warum wohl kannst du etwas nicht finden, von dem du genau weißt, daß es da ist? Denk nach, Kind!« Er wandte sich !Xabbu zu. »Was ist mit dir? Kannst du es nicht erraten?«

Der Buschmann erwiderte Jongleurs Blick mit unbewegter Miene. »Wenn wir es erraten könnten, hätten wir es schon getan und uns deinen Vortrag erspart, der nichts erklärt.«

Jongleur warf mit gespielter Verzweiflung die Hände in die Höhe. »Dann will ich euch nicht weiter langweilen. Löst eure Rätsel alleine.« Er verlangsamte seinen Schritt, bis er wieder ein Stück hinter ihnen war.

»Ich hasse ihn«, flüsterte Sam zornig.

»Vergeude nicht deine Kraft, und laß vor allem nicht zu, daß du dich vor lauter Wut in ihm täuschst. Er ist schlau – ich war dumm zu meinen, ich könnte ihn so leicht aus der Reserve locken. Er verfolgt ganz bestimmte Pläne, da bin ich sicher, und wird nicht ohne weiteres etwas preisgeben, das jemand anderem nützen könnte.«

Sam befingerte den abgebrochenen Schwertstumpf, der im Bund ihres Unterteils steckte. »Wie dem auch sei, ich hoffe, er gibt mir irgendwann eine Rechtfertigung, damit auf ihn loszugehen.«

!Xabbu drückte fest ihren Arm. »Kein Leichtsinn, Sam. Das sage ich dir als Freund. Renie würde dir dasselbe sagen, wenn sie hier wäre. Er ist ein gefährlicher Mensch.«

»Ich bin auch gefährlich«, murrte Sam, aber so leise, daß nicht einmal !Xabbu es hörte.

 

Sie hatten noch dreimal pausiert, um zu schlafen, als !Xabbu schließlich seine Entdeckung machte.

Sam und !Xabbu hatten jedesmal ähnliche Träume gehabt, wenn auch niemals genau dieselben. Jongleur gab im Schlaf weiterhin klagende Töne von sich, aber äußerte sich nicht dazu, wenn er wach war.

Aus dem müden Dahinstapfen durch das endlose Wolkengrau war selber ein deprimierender Albtraum geworden, und mehrmals glitt Sam in Halluzinationen ab. Einmal sah sie den Eingang ihrer Schule in West Virginia so deutlich, als ob sie auf der Treppe davorstände. Sie hob sogar die Hand, um die Tür aufzuziehen, war schon auf den Radau in den hallenden Gängen gefaßt, doch als sie sich besann, hatte sie die Hand ins Nichts ausgestreckt, und !Xabbu betrachtete sie sorgenvoll. Einige Male sah sie auch Orlando und ihre Eltern, ferne, aber unverwechselbare Gestalten. Einmal sah sie ihren Großvater beim Heckenschneiden.

Sogar !Xabbu wirkte bedrückt von der Monotonie und dem Stumpfsinn der bleichen Wolkenwelt, dem ewig gleichen sinnlosen Schritt-für-Schritt, und zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Als er daher mitten in einer seiner Orientierungen abrupt stehenblieb und die inzwischen sterbenslangweilig gewordene Routine des Drehens und Lauschens, Drehens und Lauschens unterbrach, dachte Sam, er hätte nun seinerseits eine Halluzination, eine Vision von Renie vielleicht oder von der Wüstenheimat seines Volkes.

»Ich kann es nicht glauben!« Überraschenderweise hatte er einen aufgeregten Ton in der Stimme wie schon seit einiger Zeit nicht mehr. »Es sei denn, ich verliere den Verstand.« Er lachte. »Kommt, hier lang.«

Jongleur, der sich mit dem Automatismus eines Traumwandlers fortbewegte, gehorchte widerspruchslos und setzte einen Fuß vor den anderen, als folgte er einer Bedienungsanleitung für Gehwerkzeuge. Sam beeilte sich, zu !Xabbu aufzuschließen.

»Was ist los?« fragte sie. »Hast du was gehört?«

»Du mußt still sein, Sam.«

»’tschuldigung.« Sie ließ sich ein Stück zurückfallen. Bitte, laß ihn recht haben, dachte sie, während sie die geschmeidige Spannung seines nackten Rückens betrachtete. Bitte, laß ihn etwas finden. Ich hasse dieses Grau. Ich hasse es so sehr…

Plötzlich hielt !Xabbu an und ging in die Hocke. Die silberne Leere umgab ihn unverändert und allem Anschein nach unveränderlich. Der kleine Mann bekam große Augen. Er streckte die Finger nach etwas Unsichtbarem aus und machte kleine Rührbewegungen dicht über dem Boden, bis Sam befürchtete, daß er tatsächlich den Verstand verloren hatte.

»Was machst du da?« Sie schrie es fast.

»Fühle, Sam, fühle!« Er zog sie zu sich herunter, faßte ihre Hand und hielt sie in das vollkommen leere Stück Nichts, das genauso aussah wie das ganze andere endlose Nichts ringsumher. »Da. Siehst du?«

Sie schüttelte zaghaft den Kopf. Jongleur war inzwischen zu ihnen gestoßen und blickte auf sie nieder, als wären sie Bettler, die er in seinem Rosengarten entdeckt hätte. »Ich sehe gar nichts«, jammerte sie.

»Entschuldige. Ich habe mich falsch ausgedrückt – es gibt nichts zu sehen. Aber vielleicht kannst du es fühlen oder hören …« Er nahm ihre beiden Hände und bewegte sie knapp über dem Boden behutsam hin und her. »Na?« Als sie wieder verneinen mußte, ließ er sie los. »Versuche es allein. Konzentriere dich.«

Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich fühlte sie es – eine unendlich zarte und geringe Kraftwirkung, ein schwacher, hautwarmer Luftstrom vielleicht oder eine so sachte Vibration, daß Sam sie kaum vom Pulsen des Blutes in ihren Fingern unterscheiden konnte. »Was … was ist das?«

»Ein Fluß«, sagte !Xabbu triumphierend. »Ich bin ganz sicher. Zumindest wird es einer werden.«

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
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