Kapitel

Atembeschwerden

NETFEED/INTERAKTIV:

GCN, Hr. 5.5 (Eu, NAm) – »How to Kill Your Teacher« (»Wir bringen unsern Lehrer um«)

(Bild: Looshus und Kantee lesen die »Rolle des wirklichen Lebens«)

Off-Stimme: Looshus (Ufour Halloran) und Kantee (Brandywine Garcia) haben herausgefunden, daß Direktor Übelfleisch (Richard Raymond Balthazar) der wiedergeborene Prophet des Kults der Kosmischen Wahrheit ist und ein blutiges Opfer sämtlicher Schulinsassen plant, um so das Ende der Welt herbeizuführen. Gesucht 4 Aufsichtsschüler, 7 Kultmitglieder. Flak an: GCN.HOW2KL.CAST

 

 

> Genau besehen gaben sie ein sehr kleines Häuflein ab, all die Dinge, die sie gekauft hatte, all die Dinge, die sie auf dieser letzten und merkwürdigsten Fahrt eines Lebens vieler Fahrten und vieler Merkwürdigkeiten mitnehmen wollte.

Die neue Telematikbuchse war selbstverständlich klein, trotz der zusätzlichen Reichweite nicht größer als die Standardversion. Sie hatte dafür einen ansehnlichen Teil ihres Bankguthabens hinlegen müssen, aber der Verkäufer hatte geschworen, daß sie damit auf eine Entfernung von mehreren Meilen den Kontakt mit ihrem hypermodernen Dao-Ming-Pad halten konnte – »auch mitten in einem benutzungsintensiven Telekomgebiet während eines starken Gewitters«, wie er ihr jovial versichert hatte. Mit Gewittern hatte Olga noch keine Erfahrung gemacht, obwohl sie mittlerweile lange genug in der Nähe des Golfs von Mexiko war, um zu wissen, daß es selbst an einem klaren Tag jederzeit blitzen konnte, aber sie ging davon aus, daß eine Insel mit eigener Armee und Luftwaffe wohl als »benutzungsintensives Telekomgebiet« gelten konnte.

Neben der Buchse lag eine kleine, aber extrem starke LED-Taschenlampe, ein High-Tech-Accessoir, das normalerweise an Geschäftsleute mit zuviel Geld verkauft wurde und das trotz seines dramatischen Namens – irgend etwas wie »SpyLite« oder »SpaceLight«, sie wußte es nicht mehr genau – wohl selten für dramatischere Zwecke gebraucht wurde, als auf dem dunklen Parkplatz einen hingefallenen Schlüssel zu finden. Im selben Geschäft hatte sie außerdem ein Allzweckwerkzeug namens »OmniTool« gekauft, sich dann aber umentschieden und es gegen das vertrautere Schweizer Offiziersmesser umgetauscht. Sie hatte sich schon immer eines anschaffen wollen, hatte sich Dutzende Male überlegt, was für ein praktisches Gerät es für eine alleinlebende Frau doch wäre, aber aus irgendeinem Grund war es immer bei dem Vorsatz geblieben. Die Tatsache, daß sie endlich eines gekauft hatte, ein Spitzenmodell mit allen möglichen versteckten Extras und eingebauter Mikroelektronik, hatte zu allem anderen gepaßt. Ihr Leben hatte sich verändert. Sie war nicht mehr die gleiche Olga Pirofsky.

Ja, was nahm man denn sonst noch mit, wenn man sich in eines der größten und bestbewachten Unternehmen der Welt einschleichen wollte? Sie stellte sich vor, daß sie sich noch viele andere Dinge hätte zulegen können, Pistolen und Schneidbrenner und Sondierungsgeräte, aber das schmeckte ihr alles zu sehr nach jungenhaften Kriegsspielen. Außerdem war sie sich ziemlich sicher, daß man sie an irgendeinem Punkt festnehmen würde, und eine Tasche voll Plastikbomben oder Kletterhaken würde es nicht besonders glaubwürdig erscheinen lassen, daß sie ihre Reisegruppe verloren hatte.

Aus dem Grund war es nur ein kleines Häufchen, was sie an Hilfsmitteln mit hinter die feindlichen Linien nehmen wollte: die neue Buchse, das Messer, die Taschenlampe und den einzigen gefühlsbeladenen Gegenstand, den sie nicht mit dem Rest ihres alten Lebens in Juniper Bay zurückgelassen hatte.

Der weiße Plastikkringel würde mit Sicherheit bei niemandem Verdacht erregen. Olgas Nachname mit der Initiale des Vornamens, geschrieben vor Jahrzehnten von einer Krankenschwester, die gut und gern tot sein mochte, war mittlerweile beinahe verblaßt. Olga selbst hatte das Armband seinerzeit zerschnitten, um es abzukommen, es aber niemals weggeworfen, und in der obersten Schublade ihrer Kommode hatte es all die Jahre über die Form ihres Handgelenks beibehalten. Oft hatte sie kurz davor gestanden, es in den Müll zu werfen, doch die O. Pirofsky, die dieses Krankenhausarmband getragen hatte, war ein anderer Mensch gewesen, und das kleine, weißgraue Kunststoffteil war ihre einzige greifbare Verbindung zu jener Olga, einem Mädchen, das das Leben noch vor sich hatte, einer jungen Frau, deren Verlobter Aleksander noch lebendig war, quicklebendig, einer jungen Frau kurz vor der Geburt …

Es klopfte mehrmals energisch an die Tür ihres Motelzimmers. Erschrocken ließ Olga das Armband auf das Häuflein von Gegenständen auf ihrem Bett fallen. Nach kurzem Zögern trat sie an die Tür und blickte durch den Fischaugenspion. Eine schwarze Frau und ein weißer Mann standen draußen, beide dunkel gekleidet.

Sie lehnte sich atemlos an die Tür. Ihr Herz raste ohne ersichtlichen Grund. Das mußten Missionare sein, die ganze Region wimmelte von diesen Leuten, die nichts Besseres zu tun hatten, als in der größten Bullenhitze dick angezogen herumzuspazieren und anderen weismachen zu wollen, daß sie an einen noch heißeren Ort kämen, wenn sie sich nicht zum Glauben der Werber bekehrten.

Wieder ertönte das Klopfen, und diesmal so nachdrücklich, daß sie alle Überlegungen, es zu ignorieren, vergaß. Sie warf ihren Motelbademantel über die Dinge auf dem Bett, wobei es sie trotz ihrer Angst störte, daß diese Leute jetzt denken würden, sie sei so eine Person, die gewöhnlich ihre Sachen über das ganze Zimmer verteilte.

Es war die schwarze Frau, die das Wort ergriff, als die Tür aufging. Sie lächelte Olga an, wenn auch ein wenig künstlich, und zog eine lange, flache Brieftasche aus ihrer Jacke. »Du bist Frau Pirofsky, ist das richtig, Ma’am?«

»Woher kennst du mich?«

»An der Rezeption hat man uns deinen Namen gegeben. Kein Grund zur Besorgnis, Ma’am, wir wollten uns nur kurz mit dir unterhalten.« Die Frau klappte die Brieftasche auf, und etwas, das aussah wie das Hologramm einer Polizeimarke, erschien. »Ich bin Wachfrau Upshaw, und das ist mein Kollege Wachmann Casaro. Wir hätten dir gern ein paar Fragen gestellt.«

»Seid ihr … von der Polizei?«

»Nein, Ma’am, wir sind vom Sicherheitsdienst der J Corporation

»Aber ich …« In ihrer Angst und Überraschung hatte sie sagen wollen, daß sie gar nicht mehr für die J Corporation arbeitete. Sie konnte die Bemerkung gerade noch hinunterschlucken, allerdings um den Preis, daß sie wie ein begriffsstutziges altes Weib aussah. Na ja, dachte sie, vielleicht ist das nicht der schlechteste Eindruck, den ich machen kann.

Wachmann Casaro hatte den Augenkontakt mit ihr nur kurz gehalten und bemühte sich im Gegensatz zu seiner Kollegin nicht um ein verbindliches Lächeln. Die stecknadelkopfgroßen schwarzen Löcher in seinen hellgrauen Pupillen spähten an ihr vorbei ins Zimmer, als wäre er ein Automat, der alles, was er sah, zur späteren eingehenden Untersuchung aufzeichnete. Olga fiel plötzlich ein, was ihre Großmutter öfter von der früheren polnischen Geheimpolizei erzählt hatte. »Sie haben dich nicht angeguckt, sondern durch dich durchgeguckt haben sie, selbst wenn sie mit dir geredet haben. Wie mit Röntgenaugen.«

»Was … was könnt ihr denn für Fragen an jemand wie mich haben?«

Wachfrau Upshaw schaltete wieder das Lächeln ein. »Wir machen nur unsere Arbeit, Ma’am. Uns ist zu Ohren gekommen, daß du dich an verschiedenen Orten nach dem J Corporation Campus erkundigt hast.«

»Campus?« Sie wurde das Gefühl nicht los, daß die beiden sie von der Sekunde an, wo sie bei Obolos Entertainment zur Tür hinaus war, verfolgt hatten, daß sie ihr jetzt nur eine hinterhältige Komödie vorspielten und sie jeden Moment auf den Boden werfen und ihr Handschellen anlegen würden.

»Die Gebäude, die Einrichtungen – so sagen wir dazu, Ma’am. Einige der Händler im Ort, na ja, sie informieren uns, wenn Leute Fragen stellen.« Sie zuckte mit den Achseln, und jetzt erst sah Olga, wie jung die Frau eigentlich war – Anfang zwanzig vielleicht. Dem bemüht korrekten Ton, in dem sie redete, hörte man an, daß sie ein wenig unsicher war. »Würdest du uns jetzt bitte erzählen, was dich hierherführt und wieso du dich für die J Corporation interessierst?«

Wachmann Casaro war endlich mit seiner ausgiebigen Inspektion all dessen fertig, was hinter Olga zu sehen war. Seine Augen begegneten ihren und blieben daran haften. Sie fühlte, wie ihr die Knie weich wurden. »Gewiß doch«, brachte sie heraus und schluckte. »Aber kommt doch bitte herein, sonst geht die ganze klimatisierte Luft raus.«

Die beiden wechselten einen fast unmerklichen Blick. »Gerne, Ma’am. Danke.«

 

Nachdem Olga unter dem Vorwand, den Bademantel ordentlich wegzuräumen, die Dinge vom Bett genommen und das Bündel in dem winzigen Bad auf der Ablage deponiert hatte, konnte sie sich ein wenig entspannen. Keiner der Gegenstände, die dort gelegen hatten, war illegal oder auch nur besonders verdächtig bei einer Person, die in der Netzunterhaltung tätig gewesen war, aber irgendwie wollte sie nicht, daß ihr Besitz einer Telematikbuchse, die soviel kostete wie ein Kleinwagen, zum Gesprächsthema wurde.

Jetzt, wo ihre anfängliche Furcht langsam nachließ, fand sie, daß das Ganze nicht schlimmer war, als es aussah. Sie hatte in einer Stadt, die mehr oder weniger dem Konzern gehörte, neugierige Fragen gestellt, und dieser Konzern war berühmt für seine Geheimhaltungspolitik. Und wenn die beiden ihren Namen an der Motelrezeption bekommen hatten, konnte sie nicht gut behaupten, jemand anders zu sein, nicht wahr? Irgendwo auf dieser Insel, vielleicht im schwarzen Turm selbst, befanden sich die Unterlagen der Angestellten Pirofsky, O.

»Ihr müßt wissen«, erzählte sie ihnen, »daß ich jahrelang für ein Tochterunternehmen der J Corporation gearbeitet habe – ihr kennt doch bestimmt Onkel Jingle, nicht? An der Sendung habe ich mitgewirkt.« Upshaw nickte und lächelte höflich. Casaro verzog keine Miene. »Und da ich gerade in der Gegend war – ich mache eine Autotour durch die Staaten, zur Feier meines Ruhestands sozusagen –, dachte ich, ich schaue einfach mal vorbei. Schließlich habe ich viele Jahre lang von hier mein Gehalt bezogen!«

Sie beantwortete noch ein paar Fragen, alle von Wachfrau Upshaw gestellt, und tat ihr Bestes, um den Eindruck zu erwecken, sie freue sich über die Abwechslung und sonne sich in der Wichtigkeit eines Besuchs von Sicherheitskräften. Sie bemühte sich um die Ungezwungenheit der unschuldigen Steuerzahlerin, die ihr bei Polizeikontrollen in Juniper Bay niemals schwergefallen war.

Du bist doch eine Schauspielerin, oder? Dann spiele!

Es schien zu klappen. Die Fragen wurden flüchtiger, und selbst Casaros durchbohrender Blick auf Olga und ihr Zimmer stumpfte zu gelangweilter Routine ab. Sie verspürte keinen Drang, sein Interesse neu zu entfachen. Sie fing an, ihnen eine wahre, aber weitschweifige und belanglose Geschichte über ihren Hund Mischa zu erzählen, und damit hatte sie es schließlich geschafft.

»Tut uns sehr leid, aber wir müssen jetzt weiter, Frau Pirofsky«, sagte Upshaw und erhob sich. »Und entschuldige bitte nochmals die Störung.«

Von leiser Selbstzufriedenheit erfüllt erlaubte sie sich eine winzig kleine Provokation. »Ach, vielleicht kannst du mir das sagen, weil ich es nicht ganz sicher herausfinden konnte. Gibt es nicht irgendeine Art von Führung über … den Campus, wie du es nanntest? Nachdem ich mir diesen weiten Weg gemacht habe, würde ich ihn nur ungern bloß aus der Ferne sehen.«

Casaro schnaubte und trat aus der Tür, um draußen auf dem Motelparkplatz unter dem heißen grauen Himmel auf seine Kollegin zu warten.

Upshaw schüttelte den Kopf. Zum erstenmal war ihr Lächeln ehrlich, ein amüsiertes Grinsen. »Nein, Ma’am. Nein, ich fürchte, so etwas gibt es nicht. Die Art von Unternehmen sind wir leider nicht.«

 

 

> Jeremiah war oben im Schlafbereich damit beschäftigt, den Verband an Del Rays Kopfwunde zu wechseln, deshalb vertrat Joseph ihn als offizieller Beobachter der Überwachungsmonitore. Die Männer über ihnen waren alle im Bild einer Kamera; sie befanden sich immer noch an derselben Stelle neben der Fahrstuhltür. Im Augenblick ruhten sie sich aus und rauchten, aber staubige Betonbrocken lagen rings verstreut, und der Mann, der sich im Loch auf seine Spitzhacke stützte, stand einen guten halben Meter tiefer als seine Kameraden.

Vermutlich, dachte sich Joseph, sollten er und seine Gefährten wenigstens dafür dankbar sein, daß sie hier mitten im entlegenen Gebirge waren, sonst hätten sich die Männer dort oben wahrscheinlich schon längst Preßlufthämmer und einen Kompressor besorgt.

»Feige Schweine«, murmelte er vor sich hin. Was an ihrem Tun eigentlich so feige war, konnte er nicht genau festmachen, aber zu warten fiel schwer, zumal wenn man aller Wahrscheinlichkeit nach darauf wartete, umgebracht zu werden.

Er blickte nach unten, wo die stummen V-Tanks standen. Seltsame Vorstellung, daß Renie so nahe war. Und ihr Freund auch, beide im Dunkeln eingeschlossen wie so Ölsardinen in Dosen. Sie fehlte ihm.

Der Gedanke war so überraschend, daß er einen Moment dabei verweilen und noch einmal nachfühlen mußte. Ja, es stimmte, sie fehlte ihm. Er hatte nicht nur Angst um sie, wollte sie nicht nur vor den gefährlichen Männern beschützen, wie es seine väterliche Pflicht war – nein, er wollte, sie wäre da, und er könnte mit ihr reden.

Das war etwas, worüber er noch nie viel nachgedacht hatte, und er hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren. Irgendwie hing das alles mit Renies Mutter zusammen, aber nicht mit der schrecklichen Hilflosigkeit, die er bei ihrem Tod empfunden hatte, so wie er sie jetzt empfand, wo er nicht wußte, wie er Renie beschützen sollte. Ihm fehlte einfach ein Mensch, der sich etwas aus ihm machte. Ihm fehlte die Gesellschaft von jemandem, der seine kleinen Späßchen verstand. Eigentlich mochte Renie sie gar nicht besonders, und manchmal tat sie so, als wären es gar keine Späßchen, als würde er sich einfach dumm oder schwierig anstellen, aber es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sie damit genauso erheitern können wie einst ihre Mutter.

Aber wenn er jetzt darüber nachdachte, schien das ziemlich lange her zu sein. Nicht viele Späßchen in den letzten paar Jahren, wenigstens keine, über die man lachen konnte.

Sie konnte selber recht witzig sein, wenn sie wollte, aber auch von ihr, hatte Joseph den Eindruck, war seit geraumer Zeit nicht mehr viel in der Richtung gekommen. Irgendwie war sie so ernst geworden. Bitter geradezu. Weil ihre Mama tot war? Weil ihr Vater nicht arbeiten konnte, mit seinem kaputten Rücken? Das war doch kein Grund, den Humor zu verlieren. Gerade dann brauchte man ihn am allermeisten, da war sich Long Joseph todsicher. Wenn er nicht ab und zu mit Walter und Dog einen trinken gegangen und ein bißchen lustig gewesen wäre, hätte er sich schon vor langem umgebracht.

Als sie klein war, ham wir immer geredet. Sie hat mir Fragen gestellt, und wenn ich die Antwort nich gewußt hab, hab ich mir irgend ’nen Quatsch ausgedacht, um sie zum Lachen zu bringen. Er hatte dieses Lachen schon lange nicht mehr gesehen, das überraschte Lachen, bei dem ihr ganzes Gesicht aufleuchtete. Sie war so ein ernstes kleines Mädchen gewesen, daß er und ihre Mutter sie manchmal damit aufgezogen hatten.

Komm wieder, kleines Mädchen. Er starrte den stummen Tank an, dann wandte er sich aufs neue dem Monitor zu. Die Pause war vorbei: Drei Männer buddelten jetzt in dem Loch im Betonboden, und Staubwolken stiegen auf, daß sie aussahen wie Teufel im Rauch der Höllenfeuer. Joseph hatte ein ganz komisches Gefühl, als ob er weinen müßte. Er langte nach seiner letzten, zur Neige gehenden Flasche Wein und nahm einen Schluck. Komm doch bald wieder und lach mit mir…

Das Klingeln des Fons erschreckte ihn so sehr, daß er beinahe die kostbare Plastikflasche mit offenem Verschluß fallen gelassen hätte.

Einen Moment lang starrte er den Apparat an, als wäre das Ding eine schwarze Mamba. Jeremiah war oben, aber er mußte das Klingeln hören, schließlich waren alle umlaufenden Etagen bis zu der hohen Decke offen, so daß man sich in dem Laborkomplex wie in einem großen Bahnhofswartesaal fühlte.

Vielleicht laß ich lieber die Finger davon, bis er runterkommt, dachte Joseph, doch die Vorstellung, sich vor einem antiquierten Telefon zu fürchten, war zuviel. Beim nächsten Klingeln stand er auf und riß es von seiner leicht ramponierten Metallgabel.

»Wer is da?«

Zuerst herrschte Schweigen am anderen Ende. Als sich jemand meldete, klang die Stimme gespenstisch verzerrt. »Ist das Joseph?«

Ein Schauder fuhr ihm durch die Glieder, ehe er sich erinnerte. Aber er wollte sichergehen. »Erst sagst du mir, wer du bist.«

»Hier spricht Sellars. Herr Dako hat dir bestimmt von mir erzählt.«

Joseph wollte nicht, daß Jeremiah ins Spiel kam. Er, Joseph, hatte den Anruf angenommen, er war jetzt in dieser Notsituation zuständig. »Was willst du?«

»Helfen, hoffe ich. Ich gehe davon aus, daß es ihnen noch nicht gelungen ist, durchzubrechen.«

»Sie probieren’s. Sie probieren’s echt heftig.«

In der anschließenden Stille beschlich Joseph die Befürchtung, daß er irgend etwas falsch gemacht und ihren Schutzpatron verprellt hatte. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Sellars schließlich. »Und viele Ideen auch nicht, muß ich gestehen. Die gepanzerten Fahrstuhltüren habt ihr zubekommen?«

»Ja. Aber die Kerle da hacken sich durch den Boden. Harn mit ’ner Granate angefangen, glaub ich, und sind jetzt mit Pickeln und Schaufeln zugange. Wollen direkt durch den Beton durch.«

»Das ist gar nicht gut. Habt ihr die Monitore zum Laufen gebracht?«

»Ich hab die Kerle im Moment im Auge. Sie buddeln wie Hunde nach ’nem Knochen.« Jeremiah war angekommen, einen besorgten Blick im Gesicht. Joseph winkte ab: alles unter Kontrolle.

Sellars seufzte. »Meinst du, du könntest mich an euer Überwachungssystem anschließen? Auf die Art hätte ich eine genauere Vorstellung davon, was vor sich geht.«

»Meinst du die Kameras und so?« Josephs Kompetenz war auf einmal unter schwerem Beschuß. »Dich anschließen? An die?«

»Das müßten wir eigentlich schaffen, selbst mit den alten Geräten, die ihr dort habt.« Ein eigenartiges keuchendes Lachen ertönte. »Ich bin selber ein ziemlich altes Gerät. Ja, ich denke, ich kann dich dirigieren.«

Joseph war verunsichert. Jede Zelle in seinem Körper forderte ihn auf, Verantwortung zu übernehmen, von Nutzen zu sein, aber er wußte, daß Jeremiah viel mehr Zeit an den Apparaten zugebracht hatte als er. Wenn er ehrlich sein wollte, mußte er zugeben, daß er sich bisher nicht im geringsten mit den Monitoren beschäftigt hatte. Mit echtem Bedauern sagte er: »Ich geb dich an Jeremiah weiter.« Doch bevor er das Handtuch warf, mußte er wenigstens noch einmal den Zuständigen markieren. »Es is dieser Sellars«, flüsterte er, während er den Hörer weiterreichte. »Wir sollen ihn an die Bilddinger anschließen.«

Jeremiah blickte ihn befremdet an, dann beugte er sich vor und drückte einen Knopf auf der Bedienerkonsole. »Ich habe dich auf Lautsprecher gestellt, Herr Sellars«, sagte er laut und hängte den Hörer auf. »Auf die Art können wir dich beide hören.«

Joseph war verdutzt. Spielte Jeremiah den Freundlichen, als ob er es mit einem kleinen Jungen zu tun hätte? Oder behandelte er ihn als seinesgleichen? Joseph wollte grummeln, aber verspürte wider Willen eine gewisse Befriedigung.

»Gut.« Sellars’ kratzige Stimme klang jetzt über den kleinen Lautsprecher noch unheimlicher. »Ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen, aber könntet ihr mich zuerst einmal mit euren Monitoren verschalten?« Er gab Jeremiah eine Reihe von Instruktionen, denen Joseph nicht ganz folgen konnte, was ihm abermals die Petersilie verhagelte. Wer war denn hier eigentlich der Mechaniker in der Gruppe? Bestimmt nicht Jeremiah, eine Art besseres Dienstmädchen für eine reiche alte weiße Pute. Bestimmt nicht Del Ray, ein zu groß gewordener Schulbub, der feine Anzüge trug und hinter einem Schreibtisch hockte.

Bis Joseph schließlich die souveräne Gelassenheit aufbrachte, die unabsichtliche Beleidigung abzuschütteln, hatte Jeremiah anscheinend getan, was Sellars wollte.

»Ich sehe drei arbeiten und einen mit Gewehr, der aufpaßt«, sagte die blecherne Stimme. »Sind das alle?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Jeremiah.

Joseph zog nachdenklich die Stirn kraus. Als er und Del Ray hier eingestiegen waren, hatten sie … wie viele gesehen? »Fünf«, sagte er plötzlich. »Die sind zu fünft.«

»Also ist einer irgendwo anders«, grübelte Sellars. »Den dürfen wir nicht vergessen. Aber erst müssen wir uns um die andern kümmern, die graben. Wie dick sind die Decken, wißt ihr das? Wartet, ich müßte Zugriff auf die Pläne haben.«

Etliche Sekunden lang war der Lautsprecher stumm. Josephs Gedanken wanderten gerade traurig zu dem kleinen Rest Wein zurück, den er übriggelassen hatte, als die Stimme sich wieder meldete. »Ungefähr zwei Meter dick dort, wo sie arbeiten, neben dem Aufzugschacht. Was bedeutet, daß sie schätzungsweise ein Viertel geschafft haben.« Er gab ein eigenartiges Geräusch von sich, vielleicht ein Zischen der Anspannung. »Es ist schwerer Beton, aber in höchstens einem Tag sind sie durch.«

»Wir haben nur einen Revolver, Herr Sellars«, sagte Jeremiah. »Zwei Kugeln. Wir werden nicht gegen sie kämpfen können, wenn sie durch sind.«

»Dann müssen wir zusehen, daß wir sie daran hindern«, erwiderte Sellars. »Ich wünschte, diese Basis wäre noch ein bißchen älter, dann könnte ich vielleicht etwas an den Heizungen verstellen und Kohlenmonoxid in die oberen Räume leiten.«

Joseph konnte sich immerhin noch soweit an seine Zeit als Bauelektriker erinnern, daß ihm dieses Kohlenzeugs nicht ganz unbekannt war. »Genau, umbringen die Schweine! Vergiften! Das wäre prima.«

Jeremiah verzog das Gesicht. »Sie kaltblütig ermorden?«

»Es geht ohnehin nicht«, beruhigte Sellars ihn. »Wenigstens wüßte ich im Moment nicht wie, wir müssen also keine Moraldebatte führen. Aber du mußt dir darüber im klaren sein, daß das keine kleinen Gauner sind, Herr Dako. Das sind Mörder, vielleicht dieselben Männer, die deine frühere Arbeitgeberin auf dem Gewissen haben.«

»Woher weißt du davon?« fragte Jeremiah verwundert. »Hat Renie dir das erzählt?«

»Und außerdem haben sie noch jemanden umgebracht, den Joseph kennt«, sagte Sellars, ohne auf Jeremiahs Frage einzugehen. »Den jungen Informatiker, bei dem ihr in Durban wart.«

Joseph mußte einen Moment überlegen. »Den Dicken? Den Elefanten?«

»O Gott, das ist nicht wahr!« rief Del Ray, der mittlerweile von seinem Krankenlager aufgestanden und dazugekommen war.

»Leider doch. Sie haben ihn in den Kopf geschossen und sein Wohngebäude in Brand gesteckt.« Sellars sprach jetzt sehr hastig, als ob eine Uhr in seinem Kopf laut tickte. »Und sie werden auch euch bedenkenlos umbringen, wenn ihnen danach ist … und ich vermute sehr, ihnen wird danach sein.«

Vor seinem inneren Auge sah Joseph die mit Geräten vollgestopfte Fabriketage brennen. Sein anfänglicher faszinierter Grusel gerann zu einem ganz anderen Gefühl, als ihm die Keckheit des Elefanten wieder ins Gedächtnis kam, sein Stolz auf seine erstklassige technische Ausstattung.

Ungerecht. Das is ungerecht. Er hat uns doch bloß geholfen, weil Del Ray ihn drum gebeten hat.

»Was sollen wir dann tun?« fragte Jeremiah. »Darauf warten, daß sie durchbrechen und uns ermorden?«

»Die Polizei!« Joseph fühlte, wie der Zorn in ihm anschwoll. »Warum rufen wir nich einfach wen zur Hilfe – die Armee? Melden ihnen, daß ein paar Männer uns hier in ihrem Stützpunkt umbringen wollen?«

»Weil ihr selber von der Polizei gesucht werdet«, erwiderte Sellars mit seiner elektronisch verzerrten Stimme. »Dafür hat die Bruderschaft gesorgt. Wißt ihr nicht mehr, was passierte, als Herr Dako eine seiner Karten benutzen wollte?«

»Woher weißt du das alles?« fragte Jeremiah abermals. »Bei unserem ersten Gespräch habe ich dir nichts davon erzählt.«

»Laß gut sein.« Ihr unsichtbarer Helfer klang erschöpft. »Wie gesagt, ich habe wenig Zeit und noch anderswo viel zu tun. Wenn ihr die Polizei verständigt, wird es Stunden dauern, bis ein ausreichend großes und ausgerüstetes Kommando dort oben bei euch in den Bergen eintrifft. Und gesetzt den Fall, sie schaffen es und können Klekker und seine Killer vertreiben oder festnehmen, was passiert dann mit euch? Vor allen Dingen, was passiert mit Renie und !Xabbu? Wenn ihr drei verhaftet seid, werden sie entweder allein und unbeaufsichtigt in dem leeren Stützpunkt zurückbleiben, dem dann vielleicht noch der Strom abgedreht wird, oder falls ihr sie meldet, werden sie abgeschaltet und weggebracht. Und meine Vermutung wäre, daß sie dann in dem bekannten Koma liegen. Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt herauszuholen, könnte sogar tödlich sein.«

Die Vorstellung, daß der Strom plötzlich weg sein könnte und daß Renie dann in der Finsternis des Tanks aufwachte und verzweifelt aus diesem komischen Gelee herauszukommen versuchte, war noch grauenhafter als der Gedanke, daß sie in einem Krankenhaus lag, genauso starr und reaktionslos wie ihr Bruder. Joseph knallte die flache Hand auf den Tisch. »Kommt nich in Frage. Ich laß mein Mädel nich hier hängen.«

»Dann müssen wir uns eine andere Lösung ausdenken«, meinte Sellars. »Und zwar rasch. Ich habe derzeit alle Hände voll zu tun, überall Brände zu bekämpfen, und sobald ich einen gelöscht habe, brechen dafür zwei neue aus.« In der eintretenden Stille hörte man nur das Sprachverzerrungsgear des geheimnisvollen Mannes summen. »Moment mal. Das könnte es sein.«

»Was? Was könnte was sein?« fragte Jeremiah.

»Laß mich nochmal einen Blick auf die Pläne werfen«, erwiderte Sellars. »Wenn ich recht habe, müssen wir schnell machen – dann habt ihr alle viel zu tun. Und es ist riskant.«

 

»Am Anfang nur ein kleiner Haufen«, mahnte Sellars. »Beschränkt euch auf die Sachen, von denen ihr wißt, daß sie brennen: Papier, Kleidungsstücke.«

Joseph blickte auf den riesigen Haufen Zeug, den sie in den vergangenen anderthalb Stunden unter Sellars’ Leitung zusammengetragen hatten. Papier, Trockentücher und Lappen konnte er verstehen, auch die staubigen Militärbettlaken, die sie sich in ihren ersten Tagen aus dem Materiallager geholt hatten, aber was in aller Welt sollten sie mit den Rädern der ganzen Bürostühle anfangen? Mit Gummimatten? Teppichböden?

»Ich will es noch einmal überprüfen, bevor wir zur Tat schreiten und dann nicht mehr zurück können«, sagte Sellars. »Anders als eure Feinde habt ihr keinen Zugang zu frischer Luft.« Als ob ein Geist einen Schalter betätigt hätte, erhob sich im Luftkanal in der Wand ein rasselnder Ton. Er wurde höher, schwoll zu einem schrillen Heulen an, dann sank er wieder ab. »Gut. Jetzt kann jemand das Feuer anzünden.«

Del Ray, der trotz seines Zustandes mithalf, sah erst Jeremiah, dann Joseph an. »Anzünden? Wie denn?«

Müdigkeit sprach aus Sellars’ Stimme. »Gibt es nichts, was ihr nehmen könntet? Der Stützpunkt ist alt, bestimmt hat jemand ein Feuerzeug liegenlassen, irgend etwas?«

Joseph und die anderen schauten sich um, als ob so ein Etwas auf magische Art erscheinen könnte.

»Im Notstarter für den Generator ist noch ein bißchen Benzin«, meinte Jeremiah. »Ein Funke würde schon ausreichen. Einen Funken müßten wir doch zustande bringen, oder?«

»Ich nehme an, daß ihr in die Drähte in der Monitorkonsole schneiden könnt«, sagte Sellars. »Das sind die einzigen, an die ihr ohne weiteres herankommt…«

»Momentchen!« Joseph richtete sich auf. »Ich weiß was. Long Joseph wird das Kind schon schaukeln.« Er drehte sich um und eilte in den Raum, in dem er schlief.

Er hatte Renies Sachen in einen Kasten getan, um sie ordentlich für sie aufzuheben, bis sie wieder aus dem Tank kam. Er durchwühlte die Taschen und entdeckte zu seiner großen Freude ihre Zigaretten. Doch trotz allem Suchen konnte er kein Feuerzeug finden. Sein Hochgefühl verging.

»Scheiße«, sagte er und ließ die Sachen zurück in den Kasten fallen. Er starrte die Zigaretten an und fragte sich dumpf, wie Renie wohl ohne sie zurechtkam. Konnte man in dieser Computerwelt, wo sie war, rauchen?

Wenn nich, geht sie bestimmt die Wände hoch, dachte er. Andererseits bin ich in der wirklichen Welt und krieg keinen Wein, also wer is jetzt schlimmer dran?

»Gute Idee«, sagte jemand in der Tür.

Joseph blickte auf und sah Del Ray. »Kein Feuerzeug, keine Streichhölzer.«

Der jüngere Mann war einen Moment perplex, dann lächelte er. »Ist nicht nötig. Die sind selbstentzündend.«

Joseph gaffte das Zigarettenpäckchen an, und in seine Erleichterung mischte sich ein leises ärgerliches Bedauern, daß er sich von einem, der so alt war wie seine Tochter, so etwas Wichtiges sagen lassen mußte. Er holte tief Luft und schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge gelegen hatte. Er warf Del Ray die Zigaretten zu und folgte ihm zu dem improvisierten Scheiterhaufen.

Kaum war der Zündstreifen gezogen, glomm das Ende der Zigarette auf. Del Ray warf sie auf die kniehoch aufgehäuften Papiere und Lappen. Gelbe Flämmchen züngelten auf, und nach einer halben Minute brannte ein ansehnliches Feuer. Als Joseph und die anderen mehr von den leicht brennbaren Sachen obendrauf warfen, stieg eine zusehends größer werdende Rauchwolke auf. Der Summton des Entlüfters wurde tiefer, und der Rauch wurde zur Wandöffnung hingesaugt.

»Langsam.« Sellars’ körperlose Stimme war über das Prasseln des Feuers hinweg schwer zu verstehen. »Es muß erst sehr heiß brennen, bevor ihr Kunststoff oder Gummi drauftun könnt.«

Joseph begab sich zu den Monitoren. Die Männer oben neben dem Fahrstuhlschacht hackten und schaufelten mit unvermindertem Eifer und waren jetzt fast bis zur Taille in dem Loch versunken. Der Weiße, der den Fortgang ihrer Arbeit beobachtete, hatte eine Zigarre im Mundwinkel.

»Du wirst deinen Rauch noch kriegen, du häßlicher Vogel«, zischte Joseph, bevor er zu den anderen zurückging und wieder mithalf.

Nach zwanzig Minuten waren die Flammen so hoch wie Long Joseph und das ganze Feuer mehrere Meter breit, und nur der Entlüfter, der inzwischen wie ein startendes kleines Flugzeug brüllte, verhinderte, daß sie an den grauen Rauchwolken erstickten.

»Jetzt die Pfannen mit Öl«, wies Sellars sie an. »Und dann können langsam die Gummimatten kommen.«

Jeremiah und Joseph griffen sich jeder einen Besenstiel und schoben damit die Bratpfannen voll Maschinenöl ins Innere der Feuersbrunst. Del Ray warf einen Großteil der Sachen, die sie beiseitegelegt hatten, auf den Haufen. Der Rauch und auch die Flammen selbst veränderten die Farbe: Die aufwallende und in den Luftschlitz gesaugte Wolke war jetzt gewitterschwarz, und selbst durch den feuchten Lappen hindurch, den er sich über Mund und Nase gebunden hatte, wurde Joseph von dem Geruch leicht dun. Auch seine Augen brannten; die Schutzbrillen, die sie in einem Schrank gefunden hatten, waren uralt und paßten schlecht. Er trat zurück und sah zu, wie Jeremiah und Del Ray die letzten Kisten mit Kunststoff und Gummi auf den brennenden Berg schleuderten. Die Flammen schlugen so heftig, daß die drei über die große Fläche zurückgetrieben wurden, die sie auf dem Betonboden freigeräumt hatten, und dabei in einem fort husten mußten.

Ohne das Saugdings da, dachte Joseph, während die dicken, pechschwarzen Wolken, die eher feststofflich als gasförmig wirkten, im Luftkanal verschwanden, würden wir alle krepieren. Plötzlich begriff er, was Sellars vorher mit ›riskant‹ gemeint hatte. Wenn der Strom ausfiel, wenn die heiße schwarze Wolke die Entlüftungsanlage irgendwie abwürgte, würde der ganze Qualm zu ihnen zurückkommen. Dann hatten sie die Wahl, entweder zu ersticken oder die gepanzerten Fahrstuhltüren zu öffnen und vor die Gewehrmündungen der Killer zu stolpern.

Die schwarze Masse überstieg langsam die Leistungskraft des Entlüfters, sie schlug nach hinten um und verbreiterte sich wie eine Gewitterwolke. In Joseph stieg die Angst auf.

»Wo is der verdammte Kerl?« rief er. Jeremiah und Del Ray waren zu sehr mit Husten beschäftigt, um ihm zu antworten. In einem Anfall von ungewöhnlicher Weitsicht drehte Joseph sich um und prägte sich den Standort der V-Tanks ein, damit er sie finden und die darin Eingeschlossenen herauslassen konnte, falls der Strom ausging. Nachdem seine Gedanken die ganze Zeit nur ums Feuermachen gekreist waren, wurden sie jetzt verworren und panisch. »Sellars oder wie du heißt! Was machst du, Mann? Wir ersticken hier!«

»Entschuldigt«, summte die Stimme. »Ich mußte den Feueralarm desaktivieren. Ich bin jetzt soweit.«

Du hast leicht reden, dachte Joseph. Du mußt nich hier unten um Atem ringen.

Er und die anderen versammelten sich keuchend um den Monitor. Das Röhren des Entlüfters blieb konstant, aber es gab eine Folge von fernen Gongtönen, als ob jemand mit einem Hammer auf ein Metallrohr schlug. Im nächsten Moment fühlte Joseph, wie sich der Druck im Raum veränderte, nicht so stark, daß ihm die Ohren knackten, aber doch deutlich spürbar. Die schwarze Rauchsäule schwankte und krümmte sich wieder zur Wand hin. Auch der übrige Qualm, den der Entlüfter vorher nicht bewältigt hatte, wurde langsam davon angesaugt, als ob der Berg selbst einatmen würde.

»Seht«, sagte Sellars.

Zunächst blieb die Szene am Monitor unverändert: Die Spitzhacken gingen weiter auf und nieder, und der weiße Mann mit der Zigarre - Klekker hatte Sellars das Burenschwein genannt, den Namen wollte Joseph sich merken – beugte sich herunter und sagte etwas. Da hob Klekker den Kopf wie ein Tier, das in der Ferne einen Schuß hört. Gleich darauf wurde das Bild dunkel. Im ersten Moment dachte Joseph tatsächlich, der Monitor sei ausgefallen.

Auf dem winzigen Bildschirm, ohne Ton, wirkte das Ganze völlig unwirklich. Mit einemmal sprangen die Männer auf dem nachtfinsteren Bild wie von der Tarantel gestochen aus der Grube. Einer sackte auf die Knie und erbrach sich würgend, doch bevor Joseph erkennen konnte, was mit ihm geschah, wurde der Monitor fast vollkommen schwarz.

Sämtliche Bildschirme der Etage verdüsterten sich von dem Rauch, der aus der Wandöffnung neben dem Fahrstuhl quoll. Joseph erhaschte nur kurze Blicke auf die Männer, wie sie stolperten, hinfielen, auf allen vieren zum Ausgang krabbelten.

»Verreckt, ihr Schweine!« schrie er. »Mein Haus abbrennen, was? ’nen armen Computerfutzi erschießen, den ihr nich mal kennt? Ersticken sollt ihr alle und verrecken!«

Aber soweit sie erkennen konnten, verreckten sie nicht, wenigstens nicht alle. Die Monitore übertrugen ihre Flucht ins nächste Geschoß und ihre verzweifelten Versuche, die Tür hinter sich dichtzumachen, doch Sellars leitete die Gase und den Qualm anscheinend auch auf diese Ebene, denn die Gangster waren abermals gezwungen zu fliehen.

Vier von ihnen kamen schließlich zum großen Tor des Stützpunkts hinaus. Die Außenkamera daneben zeigte, wie die kleinen, stummen Gestalten an die Luft taumelten und zu Boden fielen wie Schiffbrüchige, die wider Erwarten doch noch das Land erreicht hatten.

»Vier«, zählte Del Ray. »Einer von ihnen hat es also nicht geschafft. Das ist immerhin etwas.«

»Die übrigen werden ziemlich lange nicht mehr auf die Ebene zurückkönnen, wo sie gegraben haben«, meinte Sellars. Er klang nicht gerade freudig, aber eine gewisse grimmige Befriedigung schwang in seiner Stimme. »Sie hatten vorher alle Türen aufgemacht und festgestellt, wahrscheinlich um sicherzugehen, daß wir sie nirgends einsperren können, aber ich habe die Lüftung auf dem Geschoß ausgeschaltet, und bis die Gase verflogen sind, wird eine ganze Weile dauern.«

»Ich wünschte, sie wärn alle umgekommen«, sagte Joseph.

Jeremiah schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Ein schrecklicher Tod.«

»Was meinst du, was sie mit uns vorhaben?« fauchte Joseph giftig. »Uns zu ’nem Braai einladen? Steaks grillen, paar Bierchen köpfen?«

»Ich muß mich jetzt bis auf weiteres verabschieden«, verkündete Sellars. »Aber ich melde mich wieder. Ein paar Tage Atempause müßtet ihr gewonnen haben.«

Nachdem der Lautsprecher verstummt war, nahm Joseph das feuchte Tuch vom Mund, legte es aber gleich wieder vor.

»Atempause, pfff«, krächzte er. »Er soll mal dafür sorgen, daß die Luft hier drin besser wird.«

»Die Lüftung arbeitet noch«, sagte Del Ray. »Ich denke, die Luft wird besser werden. Aber wir sollten das Feuer ausmachen.« Er griff sich einen der Feuerlöscher, die sie vorsorglich bereitgestellt hatten.

Joseph tat es ihm umgehend nach. »Wie sieht’s bei Renie und dem kleinen Mann aus?« rief er nach hinten zu Jeremiah.

Jeremiah Dako schob kurz die Schutzbrille hoch, um die Anzeigen auf der Konsole ablesen zu können. »Alles gleichbleibend. Sie atmen bessere Luft als wir.«

»So, und was machen wir jetzt?« fragte Joseph, während er einen großen Feuerlöscher vom Boden aufhob. Rauch ringelte sich um seine Schuhe, aber der größte Teil der Wolke wurde weiter in den Luftschacht gesaugt, dessen Gitter samt der Wand darum vollkommen verrußt war.

»Was wir die ganze Zeit schon machen«, entgegnete Jeremiah. »Warten.«

»Scheiße«, sagte Joseph. Er spritzte einen weichen Schaumstrahl auf die Flammen. »Hab ich das vielleicht satt. Wieso kann dieser Sellars den ganzen Berg hier aufn Kopf stellen, aber mir nich mal ’ne verdammte Flasche Wein schicken?«

 

 

> Es war natürlich ein Traum. Keiner von denen, die ihr Leben aus dem Gleis geworfen hatten, nicht die Rückkehr der Kinder nach langem Stillschweigen, sondern nur ein ganz normaler Traum.

Es war Nacht, und Aleksander stand bei ihr in Juniper Bay vor der Haustür. Er wollte, daß sie ihn einließ, weil er etwas vergessen hatte, doch obwohl sie im fahlen Licht der Straßenlaterne seinen Schattenriß sehen konnte – im Traum war ein Fenster neben der Tür –, war sie sich unsicher. Immer wieder rief er ihren Namen, nicht als ob er Schmerzen hätte oder wütend wäre, sondern mit seiner üblichen ungestümen Geschäftigkeit, diesem Gebaren, daß er etwas Wichtiges zu tun hatte, aber von einer trödeligen Welt mit ihren tausend banalen Hindernissen davon abgehalten wurde.

Er konnte oder wollte ihr nicht sagen, was er vergessen hatte. Durch ihre Unschlüssigkeit in helle Aufregung versetzt durchstöberte sie Schubläden und Schränke, um nur ja dieses wichtige Ding zu finden, das seine Weiterreise – wohin? – verzögerte, aber nirgends, wo sie suchte, konnte sie etwas finden, das ihr so aussah.

Als sie aufwachte, plapperte der Wandbildschirm und war die Lücke zwischen den Motelvorhängen stockdunkel. Sie war mitten am Nachmittag auf dem Bett eingeschlafen, und jetzt erhellte nur noch das Licht vom Bildschirm das Zimmer. Achtlos war sie eingenickt, ohne die Vorhänge ganz zuzuziehen. Jedermann hätte sie durchs Fenster beobachten können.

Aber wer wollte das schon?

Sie stand auf und machte die Vorhänge zu, dann begab sie sich zurück zur warmen Mulde des Bettes. Als sie sich hinsetzte und sich damit abzufinden suchte, daß sie nun einmal wach war, fehlte ihr plötzlich etwas. Es dauerte ein Weilchen, bis sie merkte, daß es Mischa war, der sich zuhause neben ihr zusammengerollt hätte oder eher noch auf ihrem Schoß. Immer hatte er sich mit seinem ganzen kleinen Körper vertrauensvoll auf sie gebettet.

Nie wieder. Tränen traten ihr in die Augen.

Im Hintergrund schwafelten immer noch die Nachrichten, Meldungen von plötzlicher Instabilität auf den Finanzmärkten, von merkwürdigen Gerüchten, vom mysteriösen Verstummen bedeutender Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Es war schwer, sich davon betroffen zu fühlen. Oder vielmehr, es war zu schwer, das wirklich aufmerksam zu verfolgen und an sich herankommen zu lassen, weil dann die Betroffenheit zu weh tat. Früher hatte sie jeden Abend die Nachrichten geguckt, aber die alltägliche Leier der Schreckensmeldungen hatte in ihr das Gefühl erzeugt, daß sie und die ganze menschliche Zivilisation auf dem Kamm einer ungeheuren Welle kippelten, daß jeden Augenblick das Ganze mit furchtbarer Gewalt herunterdonnern konnte.

Sie stellte den Bildschirm ab. Zeit zum Aufbruch. Die Wachleute, Firmenpolizisten oder was sie sonst waren, hatten ihr einen tüchtigen Schreck eingejagt, aber offensichtlich gingen sie bloß allen ungewöhnlichen Meldungen nach. Einigen Leuten war aufgefallen, daß sie Fragen stellte.

Schließlich könnte ich ja eine Terroristin sein, dachte sie. Das belustigte sie, doch dann erschien ihr diese Lustigkeit noch als zusätzliche Ironie. Aber ich bin eine Terroristin!

Der Drang, in der Einsamkeit ihres still gewordenen Zimmers laut loszulachen, kam ihr bedenklich vor. Der Gedanke an das, was vor ihr lag, machte ihr angst, das war die ganze Wahrheit. Olga war keine, die andere gern anlog, am allerwenigsten sich selbst.

Sicher, die Wachleute hatte sie angelogen, wenn auch nur durch Verschweigen. Und in gewisser Weise hatte sie sich auch Herrn Ramsey gegenüber unwahrhaftig verhalten, indem sie ihm eine schriftliche Mitteilung geschickt hatte, um sich seine Reaktion nicht anhören, sich nicht verteidigen zu müssen. Und genau wie sie befürchtet hatte, waren prompt seine Antworten eingetroffen, ein ganzer Chor von Protesten, die zu lesen sie nicht ertragen konnte.

Es war Zeit. Sie hatte vor, an dem abgelegenen Platz, den sie tief im Bayou gefunden hatte, ein paar Stunden in ihrem Mietwagen zu schlafen und dann, wenn der Wecker sie um Mitternacht aus dem Schlaf riß, in ihrem neugekauften Schlauchboot durch den Sumpf zu paddeln, um irgendwo bei dem Park anzulegen, der sich an einer Seite der künstlichen Insel entlangzog. Sie konnte nicht damit rechnen, daß es dort keine Wächter gab, aber bestimmt waren es an den Rändern des schwer zu durchdringenden Sumpfes weniger – hoffte sie.

Es war kein großartiger Plan, das war ihr klar, aber der beste, auf den sie hatte kommen können.

Das Pad blieb natürlich im Zimmer versteckt; sie hatte zwei Wochen im voraus bezahlt, so daß es dort wahrscheinlich länger unbemerkt bleiben würde als im Auto, das nach ein paar Tagen schon gefunden sein konnte. So konnte sie dem Gerät Berichte schicken und diese weiterleiten lassen, bis … bis irgend etwas geschah. Wenigstens wußte Herr Ramsey dann, was mit ihr passiert war. Vielleicht nützte ihm das etwas bei den anderen Sachen, die er unternahm, um den armen Kindern zu helfen.

Sie wußte, daß sie noch einmal alles kontrollieren sollte, aber der Gedanke an Catur Ramsey ließ sie nicht los. Sie klappte das Pad auf und blickte seine letzten drei Mitteilungen an, die mit ihrem Blinken und ihrer Kennzeichnung als »Dringend!« geradezu nach Beachtung schrien. Sie wußte, daß sie sich nur schlechter fühlen würde, wenn sie sie las, daß alle seine Argumente vernünftig waren, aber nichts ändern konnten. Beim Streiten zog sie immer den kürzeren. Aleksander hatte sie früher damit aufgezogen, indem er ihr die Zustimmung zu völlig absurden Sachen abgepreßt und sie dann ausgelacht und keinen Vorteil daraus gezogen hatte. »Du bist wie Wasser, Olja«, pflegte er dann zu sagen. »Immer gibst du nach.«

Was aber, wenn Ramsey ihr noch etwas anderes sagen wollte? Was, wenn er eine andere Art Vollmacht von ihr brauchte, um ihr Haus zu verkaufen? Was, wenn die Leute, die Mischa zu sich genommen hatten, den Namen des Tierarztes vergessen hatten und ihm nicht seine Medizin beschaffen konnten?

Sie wußte, daß das Ausflüchte waren, daß sie schlicht Angst vor der ihr bevorstehenden Fahrt hatte, aber jetzt konnte sie die Sorgen nicht mehr vertreiben. War das die Bedeutung des Traumes gewesen, in dem ihr lieber Aleksander so ungeduldig vor der Tür stand, wegfahren wollte, aber nicht konnte?

Sie machte einen letzten Gang durchs Zimmer, dann griff sie zum Pad. Sie hatte beschlossen, es ganz unten im Wandschrank zu verstecken, unter dem Bettzeug zum Wechseln. Es würde niemand im Zimmer sein, daher gab es keinen Grund, das Bett neu zu beziehen. Die unterbezahlten Reinigungskräfte des Motels würden sich schwerlich überflüssige Mehrarbeit machen.

Olga schob das Pad ganz nach hinten, dann trat sie an den Schreibtisch und schrieb eine Mitteilung auf den liebenswert altmodischen Notizblock – das einzige an dieser Absteige, das sie von dem guten Dutzend anderer unterschied, in denen sie auf ihrer Fahrt übernachtet hatte. Unter der Kopfzeile »Bayou Suites« notierte sie: »Ich werde dieses Pad abholen kommen. Wenn es aus dem Zimmer entfernt werden muß, hinterlaßt es bitte an der Motelrezeption oder setzt euch mit Rechtsanwalt C. Ramsey in Verbindung.« Sie fügte noch seine Adresse hinzu und unterschrieb.

Sie war bereits wieder am Schrank, als der Gedanke an den kleinen Mischa sie abermals befiel. Und wenn jetzt doch etwas passiert war? Wenn man ihm nicht seine Medizin verabreichte, bekam er wieder diese schrecklichen Anfälle. Sie hatte es ihnen mehrfach erklärt, seinen neuen Besitzern, aber wer wußte schon, wie sehr solche Leute achtgaben?

Armer kleiner Kerl! Ich habe ihn an Fremde weggegeben. Ihn im Stich gelassen.

Wieder bekam sie feuchte Augen. Still vor sich hinschimpfend setzte sich Olga aufs Bett, nahm das Pad auf den Schoß und fing an, Mitteilungen zu öffnen.

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
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