Kapitel

Der Romamarkt

NETFEED/NACHRICHTEN:

Multimilliardär macht Kaufangebot für das Marsprojekt

(Bild: Krellor auf einer Medienkonferenz in Monte Carlo)

Off-Stimme: Nachdem er vor wenigen Monaten erst den Bankrott seines Nanotechnikkonzerns erklären mußte, hat der Großindustrielle Uberto Krellor jetzt zur allgemeinen Verblüffung angeboten, das lahmliegende Mars Base Construction Project in Bausch und Bogen aufzukaufen, vorausgesetzt die UN räumen ihm langfristige Verwertungsrechte auf den Mars ein, vor allem Schürfrechte und Eigentumsrechte an terraformierten Siedlungsarealen. Gerüchten nach soll Krellor als Strohmann einer Interessengruppe von Finanziers handeln, die in der Vergangenheit von der Beteiligung am MBC-Projekt ausgeschlossen wurden, weil die UN die vollständige Privatisierung der Marskolonisierung verhindern wollten.

Krellor: »Die Öffentlichkeit ist es leid, daß die Regierungen mit ihren Sperenzchen weiterhin Steuergelder verschleudern. Man sollte einen Geschäftsmann an die Sache ranlassen, jemanden, der es gewohnt ist, Risiken einzugehen. Wenn ich Erfolg habe, wird das ein Triumph für die gesamte Menschheit sein …«

 

 

> Sam Fredericks hatte einiges gesehen, seit sie sich in diesem Netzwerk aufhielt. Nach dem blutigen Höhepunkt des Trojanischen Krieges, einer Schlacht zwischen ägyptischen Göttern und Sphinxen und einem Angriff riesiger fleischfressender Salatzangen hätten normale Wunder sie eigentlich anöden müssen, aber dennoch fand sie es einigermaßen beeindruckend, wie beim Gang über den Fluß das andere Ufer auf einmal nicht mehr wiederzuerkennen war.

Der Fluß selbst – tintenschwarz unter dem dunklen Abendhimmel, weiß durchschossen, wo er an Felsen brandete – wirkte weitgehend unverändert. Unter günstigeren Umständen hätte sein sanftes Murmeln vielleicht romantisch und die steinerne Brücke unter ihren Füßen malerisch gewirkt. Als sich dann in der Flußmitte die Dunstschwaden verzogen, sah Sam, daß aus der Wiesenböschung, die sie beim Betreten der Brücke drüben gesehen hatten, ein nebelverhangener Waldrand mit steilen schwarzen Bergen im Hintergrund geworden war. Sie mußte zugeben, daß es ein ziemlich gekonnter Trick war.

Andererseits hatte sie von Tricks die Nase gestrichen voll.

»Wie?« flüsterte sie !Xabbu zu. Azador ging ein Stück vor ihnen wie ein Schlafwandler. »Wie hat er diese Brücke gefunden? Und woher hast du gewußt, daß er das schaffen würde? Wir sind vorher schon an dieser Stelle vorbeigekommen, und da war voll keine Brücke da.«

»Ich habe den Verdacht, daß wir nicht hier waren.« Ihr Freund überflog mit den Augen suchend die geschlossene Front uralter Bäume, vielleicht weil er hoffte, abermals eines von Renies Zeichen an einem Ast flattern zu sehen. »Nicht an dem Hier, wo es eine Brücke gibt, meine ich damit.« Er sah ihren Blick und lächelte. »Mir ist es auch ein Rätsel, Sam, aber ich glaube, Azador stammt ursprünglich aus diesem … Land des Andern, dieser selbständigen Schöpfung des Betriebssystems, und deshalb geschehen bei ihm Dinge, die bei uns nicht geschehen. Das ist meine Vermutung.«

»Soweit nicht schlecht, deine Vermutung«, mußte Sam zugeben.

Azador war bereits von der Brücke herunter und schritt jetzt zielstrebig die dunkle Uferböschung hinauf und auf die Bäume zu.

»Wir sollten anhalten«, rief !Xabbu ihm hinterher. »Es wird dunkel!« Azador ging nicht langsamer, drehte sich nicht einmal um. »Wir müssen ihn einholen«, sagte !Xabbu zu Sam. »Wenn wir ihn im Wald verlieren, finden wir ihn vielleicht nie wieder.«

Wo die Brücke sich sanft zum Ufer neigte, stieß sie auf eine derart mit Gras zugewachsene Straße, daß sie vom Fluß aus nicht zu erkennen gewesen war. Die von vielen alten und ein paar neuer aussehenden Spurrillen zerfurchte Piste führte im Bogen in den Wald hinein. Sam sah sich um. Der hinter ihnen herkommende Jongleur hatten den langsamen Schritt eines Mannes, der auf einen finsteren und unheimlichen Ort zugeht.

Sie holten Azador ein, als er gerade zwischen den Bäumen eintauchte.

»Ich denke, es ist Zeit, daß wir haltmachen«, sagte !Xabbu zu ihm. »Es wird dunkel, und wir sind müde.«

Azador drehte sich um und betrachtete ihn mit eigentümlich milden Augen. »Es ist gleich da vorne.«

»Was ist da vorne?«

»Da kommen Feuer, viele Feuer. Die Pferde werden gestriegelt sein und glänzen. Die ganze Schar wird aufs prächtigste herausgeputzt sein. Und singen!« Er schien mit jemand anders zu reden; sein Blick war schon wieder auf den gewundenen Weg durch den Wald gerichtet. »Schun! Horcht! Ich kann sie fast schon hören.«

Sam schluckte eine Frage herunter, die sie hatte stellen wollen. Sie hörte nichts als das samtige Streifen des Windes durch zahllose Kronen.

Auch Azador machte eine lauschende Miene, doch dann verdüsterte sich sein Blick ein wenig. »Nein, doch nicht. Wir sind wohl noch nicht nahe genug.«

Sam war todmüde, und ihr taten die Füße weh. Einen ganzen anstrengenden Tag lang hatten sie nach der Brücke gesucht, und jetzt, wo sie hinübergegangen waren, wollte sie ganz bestimmt nicht auch noch den Abend hinter Azador herlaufen, während dieser hier in der Wildnis nach magischen Elfen oder Waldmusikanten oder sonstwas suchte. Sie wollte ihm das gerade klarmachen, als etwas in seinen Augen, ein gehetztes und doch sehnsuchtsvolles Flackern, das sie vorher noch nicht bei ihm gesehen hatte, ihr den Mund verschloß.

Der Wald war wirklichkeitsgetreuer als alles, was ihnen seit ihrer Ankunft auf dem schwarzen Berg begegnet war, auch wenn die Blätter der Bäume höher oben in dem abnehmenden Licht nicht scharf und einzeln umrissen waren, sondern zu einer vagen Masse verschwammen. Aber immerhin gingen sie über unverkennbares Gras, obwohl es dichter und rasenähnlicher war als der Bewuchs, den Sam in einem echten wilden Wald vermutet hätte, und es gab Moos auf den Steinen und den Baumstämmen. Das einzige, was ihr eindeutig falsch vorkam, war die Geräuschlosigkeit, das Fehlen von Windesrauschen, Vogelsang oder Grillenzirpen. Der Wald war so still wie eine leere Kirche.

Azador führte sie weiter und hatte dabei staunend die Hände ausgestreckt, als wollte er irgendwelche Dinge berühren, die er im Geiste vor sich sah. Er war völlig in einem Wachtraum versunken. Selbst Jongleur, der die Nachhut ihres kleinen Zuges bildete, schien von der Seltsamkeit ihres Waldgangs berührt zu sein und war gänzlich verstummt.

»Wo sind wir?« flüsterte Sam, doch !Xabbu war gerade mit großen Augen stehengeblieben. Ein helles Stück Stoff hing am Weg und bewegte sich in der schwachen Brise. »Chizz! Ist es von Renie?«

!Xabbus Gesicht wurde lang. »Das kann nicht sein. Die Farbe ist falsch, gelber als das, was du und sie anhaben, und das Stück ist zu groß.«

Azador hingegen schien der Stoffstreifen etwas zu sagen, denn er strich behutsam darüber und bog dann von der breiten Piste in den wegelosen Wald ab. Er schlug jetzt ein flottes Tempo an, so daß Sam und !Xabbu tüchtig ausschreiten mußten, um mitzuhalten.

An einem Strauch baumelte ein blutrotes Tuch: Azador ging nach links. Hundert Schritte weiter markierten zwei weiße Streifen den Rand einer Lichtung. Azador marschierte schnurstracks über die freie Fläche und tauchte gegenüber wieder in den Wald ein. An einem Hang kamen sie ins Freie und trafen erneut auf die Waldstraße oder eine andere, die genauso aussah, von vielen Radspuren aufgerissen.

Sie folgten dieser Piste bergab in einen Hain hochgewachsener Bäume mit knorrigen grauen Stämmen. Jetzt konnte Sam Rauch riechen. Im dichten Ring der Bäume, vor Blicken von außen verborgen, standen die Wagen.

Zuerst meinte Sam, sie wären auf einen etwas ungewöhnlichen Wanderzirkus gestoßen. Selbst in dem schwindenden Licht sahen die Wagen, zwanzig oder dreißig, phantastisch aus mit ihren vielen Farben in geradezu unglaublichen Kombinationen, mit Streifen und Wirbeln und Karos, behängt mit Federn und Troddeln und mit Messingbeschlägen an Rädern und Türen. So großartig war der Anblick, daß es eine Weile dauerte, bis sie merkte, daß etwas nicht stimmte.

»Aber … wo sind die Leute?«

Aufstöhnend eilte Azador auf die Lichtung und blickte wild in die Runde, als ob sich die Masse der Menschen und Pferde, die die Wagen an diesen Ort gebracht hatten, hinter einem Baum verstecken könnte. Sam und !Xabbu folgten ihm. Azador blieb stocksteif stehen, dann stürmte er los. Ein dünnes Rauchfähnchen stieg hinter einem der letzten Wagen auf, tief mitternachtsblau und mit weißen Sternen besprengt, so daß er im Vergleich zu den übrigen einen eher düsteren Eindruck machte.

Ein kleines Feuer brannte neben dem Wagen in einem Steinkreis. Eine kurze Treppe war zwischen den hohen Holzrädern heruntergeklappt worden. Auf der untersten Stufe saß eine Pfeife rauchende Gestalt mit einer Haube auf dem Kopf, die Sam zunächst für eine alte Frau hielt. Erst beim Näherkommen fiel ihr auf, daß die fremde Erscheinung außen an den Rändern schwach durchsichtig war.

Azador blieb vor der Gestalt stehen und ging vor ihr in die Hocke. »Wo sind sie hin?«

Die Frau blickte auf. Ein kalter Schauder überlief Sam. Was sie vom Gesicht der Frau erkennen konnte, war rauchig wie die grauen Schwaden, die sich über dem Feuer kräuselten, die Augen nur Lichtpunkte, klein, aber hell wie die Glut am Rande.

»Du bist zu uns zurückgekehrt, Azador.« Ihre Stimme war eigenartig volltönend, gar nicht so unkörperlich wie der Rest von ihr. »Zur Unzeit, mein Tschawo, mein Unglücksjunge. Dein Name erweist sich als wahr. Sie sind alle fort.«

»Fort?« Der Schmerz in seiner Stimme war förmlich mit Händen zu fassen. »Alle?«

»Alle. Die Mursche und ihre Majen, alle Kinder. Sie sind vor dem Auslöschen geflohen. Wie du siehst, waren einige so voller Furcht, daß sie sogar ihre Wordins hiergelassen haben.« Sie blickte auf die Wagen und schüttelte mißbilligend den Kopf. Azador war wie vom Donner gerührt. Ohne diese bunten, liebevoll hergerichteten Gefährte aufzubrechen, war sichtlich ein sehr unheilvolles Zeichen. »Und du kommst zu guter Letzt doch noch. Es war ein schwarzer Tag, als du fortgingst. Und jetzt ist der Tag deiner Rückkehr genauso schwarz.«

»Wo … wo sind sie hin, Stiefmutter?«

»Das Auslöschen kommt. Alle Roma sind zum Brunnen gezogen. Der Eine hat es befohlen. Sie hoffen, wenn sie dort hingelangen, wird die Schwarze Madonna zu ihnen sprechen, ihnen sagen, wie sie sich retten können.«

»Aber warum bist du noch da, Stiefmutter?«

»Ich konnte keine Ruhe finden, bis ich allen meinen Tschawos Bescheid gesagt hatte. Das war meine Aufgabe. Jetzt, wo du nach all diesen Jahren wieder da bist, ist meine Aufgabe erfüllt.« Sie erhob sich und stieg langsam zur Tür ihres Wagens hinauf. »Jetzt kann ich endlich fahren.«

»Aber wie komme ich zum Brunnen?« Azador war den Tränen nahe. »Ich kann mich an so wenig erinnern. Nimmst du mich mit?«

Sie schüttelte den Kopf; einen Moment lang war das Licht ihrer Augen verschleiert. »Ich fahre nicht dorthin. Meine Aufgabe ist erfüllt.« Sie wollte sich schon abwenden, da zögerte sie noch einmal. »Ich wußte von jeher, daß ein ungewöhnliches, ein unglückliches Schicksal dich erwartete, mein verlorener Tschawo. Bei deiner Geburt las ich die Blätter – o welch traurige Kunde! Er wird von eigener Hand umkommen, aber gegen seinen Willen, das sagten sie mir. Aber vielleicht kommt es doch noch anders. Jetzt, wo alles zu Ende geht, wo selbst der Eine stirbt, wer kann da sagen, was geschehen wird?«

»Aber wie gelange ich zum Brunnen?« fragte Azador abermals. »Ich weiß es nicht mehr.«

»Von allen Roma wirst gerade du, der du aus der Welt deiner Vorväter in eine ungewisse Fremde fortzogst, den Weg zu finden wissen. Nicht in der Welt, sondern durch sie hindurch. Nach innen. Zu dem Ort, wo du mit dem Einen Fühlung hast, so wie wir alle.« Das Mienenspiel in dem rauchigen Gesicht war unmöglich zu deuten, doch aus den folgenden Worten meinte Sam beinahe ein Lächeln herauszuhören. »Vielleicht wirst du sogar vor deinen ganzen andern Leuten dort ankommen. Das würde dem Unglücklichen ähnlich sehen, was? Nach den andern aufzubrechen, aber beim Auslöschen der erste zu sein?« Mit einem Nicken trat sie in die Dunkelheit ihres Wagens. Azador rappelte sich schwerfällig auf, eine Hand nach der Stelle ausgestreckt, wo seine sogenannte Stiefmutter eben noch gestanden hatte, doch das Feuer flackerte und der Wagen entschwand, bis nur noch die an der Seite aufgemalten hellen Sterne in der Luft hingen wie die verlöschende Figur eines Feuerwerkskörpers. Dann waren auch die Sterne fort.

Azador warf sich auf die Erde und schluchzte laut. Sam tastete nach !Xabbus Hand und faßte sie. Sie begriff nicht, was gerade geschehen war, aber sie wußte, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlte.

 

Azador war offensichtlich fürs erste nicht zu gebrauchen. Sam hatte sich aufgerafft, !Xabbu beim Holzsammeln zu helfen – wenigstens das Lagerfeuer der Stiefmutter war dageblieben –, als ihr auffiel, daß Jongleur fort war.

»Verdumpft!« sagte sie. »Er hat gewartet, bis wir abgelenkt waren, und uns dann sitzenlassen.«

»Vielleicht.« !Xabbu klang skeptisch. »Gehen wir nachschauen.«

Sie fanden den alten Mann am Rande der Lichtung an einem Baum sitzen, kalt und starr wie eine Statue. Er saß so unbewegt da, daß Sam im ersten Moment, bevor er ihnen einen ausdruckslosen Blick zuwarf, an einen Schlaganfall dachte. Sie war ein wenig enttäuscht, daß dem nicht so war, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß sein Verhalten den ganzen Tag über schon etwas merkwürdig gewesen war.

»Was machst du da?« fragte sie scharf. »Du könntest uns wenigstens mit dem Lagerfeuer helfen und so.«

»Niemand hat mich darum gebeten.« Jongleur erhob sich steif und schritt auf den Feuerschein zu, der an den Stämmen der Bäume flackerte. »Ist dieses Ding fort?«

»Die Stiefmutter, wie Azador sie nannte? Ja, die ist fort«, antwortete !Xabbu. »Weißt du, was das war?«

»Nein. Aber ich kann es mir denken. Eine Funktion des Betriebssystems, die Anleitung und Beistand geben soll. Eine verschrobene Version der Hilfen, die wir in viele unserer Simulationswelten eingebaut haben.«

»Wie Orlandos Schildkröte«, erinnerte sich Sam. Sie setzte an, !Xabbu zu erklären, was es damit auf sich hatte, aber merkte plötzlich, daß sie vor dem Alten nicht über ihren toten Freund sprechen wollte.

Bloß weil mir Azador ein bißchen leid tut, muß das noch lange nicht für diesen alten Mörder gelten.

»Meinst du, es hat mit der Stimme des Einen gesprochen?« wollte !Xabbu weiter wissen. Als er Jongleurs verdrießlichen Blick sah, korrigierte er sich. »Mit der Stimme des Betriebssystems?«

»Vielleicht.« Trotz seiner finsteren Miene hatte der alte Mann nur wenig von seiner sonstigen Bissigkeit, ja er machte geradezu einen angegriffenen Eindruck. Hatte Azadors Jammer sogar Jongleurs Herz berührt, das Sam sich wie ein Brikett vorstellte, klein, schwarz und hart? Sie konnte es nicht recht glauben.

Azador blickte nicht auf, als sie sich zu ihm ans Feuer setzten, und reagierte auch nicht auf Sams und !Xabbus Fragen. Der Mond war am Himmel aufgegangen und hing jetzt eingerahmt zwischen den schwarzen Silhouetten der Bäume, dahinter klein, aber hell die Sterne.

Sam nickte immer wieder vor Müdigkeit ein und überlegte gerade, ob es zu horrormäßig wäre, in einem der leeren Wagen zu schlafen, als Azador plötzlich zu reden anfing.

»Ich … ich erinnere mich nicht an alles«, sagte er langsam. »Aber als ich die Brücke fand, stieg vieles wieder in mir hoch, so als hätte ich den Umschlag eines Buches gesehen, das ich als Kind gelesen, aber längst vergessen hatte.

Ich erinnere mich, daß ich hier in diesen Wäldern aufgewachsen bin. Aber ich zog auch mit meiner Familie durch alle Länder. Auf der Suche nach Arbeit überquerten wir die Flüsse, stellten unsere Wagen am Rande von Dörfern und Städten auf. Wir machten alles, was gerade anfiel. Wir hatten genug zum Leben. Und wenn wir uns hier versammelten, auf dem Romamarkt, dann wurde getanzt und gelacht und gefeiert, daß alle Roma wieder beisammen waren.« In der Erinnerung an bessere Zeiten leuchtete sein Gesicht auf, verdunkelte sich aber gleich wieder. »Doch ich fühlte mich niemals voll zugehörig, konnte mich nie damit abfinden, daß dies mein ganzes Leben sein sollte. Ich war selbst dann unglücklich, wenn ich glücklich war. ›Azador‹ nannten mich alle Roma. Das ist ein altes spanisches Zigeunerwort. Es bedeutet einen, der Unglück bringt. Dennoch waren sie freundlich zu mir, meine Angehörigen, meine Leute. Sie wußten, es war Schicksal, das ich so geworden war, nicht meine Schuld.«

»Wie heißt du richtig?« fragte !Xabbu sanft.

»Ich … ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern.«

Selbst Jongleur lauschte konzentriert, seine raubvogelartigen Züge wirkten gespannt.

Abrupt setzte Azador sich gerade hin, und Zorn umwölkte sein Gesicht. »Das ist alles, was ich euch sagen kann. Warum quält ihr mich so? Ich wollte nicht hierher zurückkommen. Jetzt habe ich wieder alles verloren, was ich schon einmal verloren hatte.«

»Sie sagte, du könntest ihnen folgen«, bemerkte Sam. »Deine Stiefmutter. Sie sagte, sie wären unterwegs zu … was war es noch? Ein Brunnen?«

»Sie machen eine Pilgerfahrt zur Schwarzen Kali«, erwiderte Azador mit einem verächtlichen Lachen. »Aber genausogut könnten sie zu den Sternen geflogen sein. Ich weiß keinen andern Weg dorthin als zu Fuß. Wir sind weit vom Zentrum entfernt, wo sich der Brunnen befindet – wir müßten Fluß um Fluß überqueren. Bevor wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt hätten, wäre die Welt verschwunden.«

»Und sonst erinnerst du dich an nichts mehr?« !Xabbu beugte sich vor. »Ich lernte dich sehr fern von hier kennen, in einem ganz anderen Teil des Netzwerks. Du mußt weite Strecken zurückgelegt haben, um dorthin zu gelangen. Wie hast du das gemacht?«

Azador schüttelte den Kopf. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich habe hier gelebt. Dann bin ich in andere Länder gezogen. Jetzt bin ich wieder da … und meine Leute sind fort.« Er sprang so ungestüm auf, daß Blätter und Reisig in das Feuer flogen und es aufflackerte. »Ich gehe schlafen. Wenn der Eine Mitleid hat, wache ich nicht wieder auf.«

Er schritt davon. Sie hörten die lederne Aufhängung des Wagens knarren, den er bestieg.

»Hat … hat seine Stiefmutter nicht was davon gesagt, er könnte sich umbringen?« fragte Sam besorgt. »Ich meine, sollten wir ihn allein lassen?«

»Azador wird nicht Selbstmord begehen«, meinte Jongleur lakonisch. »Ich kenne die Sorte.« Auch er erhob sich und verschwand zwischen den Wagen.

Sam und !Xabbu sahen sich über das Lagerfeuer hinweg an. »Ist das bloß meine Einbildung«, fragte Sam, »oder schnellt der Scänfaktor grade wirklich total in die Höhe, irgendwie?«

»Ich verstehe dich nicht, Sam.«

»Ich meine, wird alles immer verrückter?«

»Nein, ich glaube nicht, daß du dir das einbildest.« !Xabbu schüttelte den Kopf. »Ich bin selbst durcheinander und besorgt, aber ich habe auch Hoffnung. Wenn alle zu einem Ort hingezogen werden, den man den Brunnen nennt, dann wird sich vielleicht auch Renie dorthin aufmachen.«

»Aber wir wissen nicht, wie man dort hinkommt. Azador meinte, bis wir zu Fuß dort angelangt wären, hätte sich die Welt längst verflüchtigt.«

!Xabbu nickte traurig, aber rang sich dann ein Lächeln ab, auch wenn es ihn sichtlich Anstrengung kostete. »Aber noch ist es nicht soweit, Sam Fredericks. Und so lange können wir noch hoffen.« Er klopfte ihr sacht auf den Oberarm. »Geh jetzt schlafen. Wenn du dich in den Wagen da legst, kann ich ihn vom Feuer aus sehen. Ich möchte nachdenken.«

»Aber …«

»Schlaf. Hoffnung ist immer.«

 

Als Sam aus unruhigem Schlaf erwachte, war die Welt düster und nebelig.

Im Traum hatten ihre Eltern ihr erklärt, Orlando könne nicht mit auf den Campingausflug kommen, weil er tot sei, und obwohl er direkt daneben stand und ein trauriges Gesicht machte, paßte er nicht ins Auto, weil sein Thargorkörper zu groß war. Sam war wütend gewesen und hatte sich geschämt, aber Orlando hatte nur gelächelt und die Augen verdreht – »Eltern!« sollte das heißen – und war dann verschwunden.

Sie setzte sich auf, wischte sich ein paar Tränen weg und stolperte aus dem Wagen. Von Tageslicht konnte keine Rede sein.

»!Xabbu!« Ihr Echo kam zu ihr zurück. »!Xabbu! Wo bist du?«

Zu ihrer unendlichen Erleichterung kam er sofort um die Ecke des Wagens. »Sam, ist etwas mit dir?«

»Nein, chizz. Ich wußte bloß nicht, wo du warst. Wie spät ist es?«

Er zuckte mit den Achseln. »Wer kann das hier schon sagen? Aber die Nacht ist vergangen, und heller wird der Morgen nicht werden, wie es aussieht.«

Sie warf einen Blick auf das nasse Gras, die weißen Nebelschleier zwischen den Bäumen, und erschauerte. »Es geht alles den Bach runter, was?«

»Ich weiß es nicht, Sam. Es kommt mir sehr merkwürdig vor, daß eine Simulation sich so verhält. Aber ermutigend finde ich es gewiß nicht.«

»Wo sind die andern?«

»Azador ist in aller Frühe weggegangen, aber inzwischen zurückgekommen. Jetzt sitzt er dort auf der Wiese und weigert sich, mit mir zu reden. Jongleur macht gerade einen Spaziergang.« !Xabbu sah müde aus. Sam fragte sich, ob er überhaupt geschlafen hatte, doch bevor sie ihn fragen konnte, tauchte eine lange, hagere und weitgehend nackte Gestalt aus dem grauen Dunst am Rand der Lichtung auf.

»Wir können hier nicht länger warten«, verkündete Jongleur, noch bevor er bei ihnen war. »Wir brechen sofort auf.«

In der wirklichen Welt, dachte Sam säuerlich, begann der Tag mit einem Frühstück. In dieser Welt begann er damit, daß ein zweihundert Jahre alter Massenmörder einem Befehle entgegenbellte, bevor man richtig die Augen aufhatte. »Ach ja? Und wohin, bitteschön?«

Jongleur beachtete sie gar nicht. »Azador kann uns zum Betriebssystem bringen«, erklärte er !Xabbu. »Das hast du selbst gesagt.«

!Xabbu schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Das … die Stiefmutter sagte das zu ihm. Aber er glaubte es nicht.«

»Dann bringen wir ihn dazu, es zu glauben.«

»Willst du ihn foltern oder sowas?« wollte Sam wissen. »Ihn irgendwie zwingen?«

»Ich denke, ich kann ihm helfen, den Weg zu finden«, entgegnete Jongleur kühl. »Folter ist nicht nötig.«

»Ach, du wirst ihm zeigen, wie er es zu machen hat?«

»Sam«, sagte !Xabbu leise.

»Deine Manieren sind typisch für deine Generation. Mit anderen Worten, nicht vorhanden.« Jongleur blickte verstohlen zu Azador hinüber, der ein paar Meter entfernt saß und trostlos den Wald anstarrte. Er senkte die Stimme. »Ja, das werde ich. Ich habe dieses System gebaut, und mittlerweile sind mir ein paar Dinge über diese Hinterwelt hier klargeworden.« Er wandte sich wieder !Xabbu zu. »Azador ist ein Konstrukt, ein Spielzeug des Betriebssystems, wie diese ganze Welt. Das hast du bewiesen – alle Achtung.« Unangenehmerweise versuchte er zu lächeln. Sam mußte an Krokodile denken. »Er muß in sich irgendeine direkte Verbindung haben, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist. ›Zu dem Ort, wo du mit dem Einen Fühlung hast, so wie wir alle‹, hat das Stiefmutter-Programm gesagt. Habe ich recht?«

!Xabbu sah ihn eindringlich an, dann senkte er den Blick. »Und wie sollen wir vorgehen?«

»Wir müssen den nächsten Fluß finden. Dort sind die Übergangspunkte, die Verbindungen, wie die Gateways, die wir in das Gralssystem eingebaut haben. Das übrige könnt ihr mir überlassen.«

»Woher weißt du überhaupt, was die Stiefmutter gesagt hat?« fragte Sam plötzlich. »Du hast das gar nicht mitgekriegt. Du hattest dich irgendwohin verdrückt.«

Jongleurs Gesicht war eine Maske.

»Du hast schon mit Azador geredet, stimmt’s?« beantwortete sie ihre eigene Frage. »Voll ihm ins Ohr geblasen und so.«

»Er traut euch nicht«, sagte Jongleur ruhig. »Er ist unglücklich, und er denkt, daß ihr ihn gezwungen habt, hierherzukommen.«

»Ach, und du bist jetzt sein Freund? Er will alle Gralstypen umbringen. Hast du erwähnt, daß du ein klein bißchen was mit denen zu tun hast?«

!Xabbu legte ihr eine Hand auf den Arm. Weiter hinten auf der diesigen Wiese hatte Azador sich umgedreht und sah zu ihnen hinüber. »Leise, Sam, bitte.«

Jongleur sah aus, als wollte er ihr eine geharnischte Antwort geben, doch dann legte sich sein aufbrausender Zorn wieder oder wurde unterdrückt. »Ist es wichtig, was er von mir halten würde, wenn er Bescheid wüßte? Wir brauchen ihn. Dieser Teil des Netzwerks – vielleicht das ganze Ding – liegt gewissermaßen in den letzten Zügen. Vorher hast du einmal gesagt, ich wäre nutzlos, Mädchen. Na schön, vielleicht war ich das bis jetzt, auch wenn eure abwesende Freundin sich vielleicht daran erinnern würde, daß ich ihr auf dem Berg das Leben gerettet habe. Aber jetzt kann ich etwas Nützliches tun.« Er durchbohrte sie mit seinem kalten, starren Blick. »Es wird niemandem schaden, wenn ich es versuche, höchstens deinem Stolz.«

Perplex starrte Sam ihn ihrerseits an. Jongleurs steife Art war irgendwie merkwürdig, er wirkte beinahe verunsichert. Seit wir Azador hierher gefolgt sind, ist er so komisch, dachte sie. Einmal mehr fragte sie sich, ob er tatsächlich so etwas wie menschliche Züge entwickelte.

Sie bezweifelte es, doch trotz ihrer Abneigung und ihres Mißtrauens gegen den Mann konnte sie ihm nicht widersprechen. »Ich nehme mal an, wir müssen … irgendwas machen.« Sie warf !Xabbu einen Blick zu, doch der kleine Mann reagierte nur mit einem kurzen Nicken.

»Gut.« Jongleur klatschte in die Hände. Das Echo hallte über die verhangene Lichtung. »Dann sollten wir uns auf den Weg machen.«

»Eins noch«, sagte Sam. »Da in dem Wagen, wo ich geschlafen hab, liegen Kleidungsstücke rum. Wenn es hier so dunkel bleibt, wird es auch kalt sein, deshalb will ich mir vorher noch was zum Anziehen suchen.«

Jongleur lächelte diesmal nicht, wofür Sam dankbar war, aber er nickte zustimmend. »Solange wir rasch machen, ist das eine gute Idee.« Er sah auf seinen notdürftigen Sarong aus Schilfhalmen und Blättern herab. »Einen Körper zu haben, verliert langsam seinen Neuheitswert. Es wird mir leid, mich von Ästen und Dornen zerkratzen zu lassen. Ich werde mich auch bekleiden.«

 

Die Sachen in Sams Wagen waren bunt, geradezu schrill, doch in einem der anderen Wagen entdeckte Felix Jongleur einen alten, etwas abgetragenen schwarzen Anzug und ein kragenloses weißes Hemd. Sam fand, er sah aus wie ein Prediger oder ein Leichenbestatter aus einem Netzwestern.

Um sich der Allgemeinheit anzuschließen, hatte !Xabbu seinerseits den kurzen geflochtenen Schurz gegen eine Hose eingetauscht, die geringfügig dunkler war als seine goldbraune Haut, aber es dabei belassen.

Sam betrachtete die blaue Seidenhose und das Rüschenhemd, die sie sich ausgesucht hatte, das Beste, was sie hatte finden können, auch wenn sie so etwas zuhause um keinen Preis der Welt angezogen hätte. Wie die letzten Nachzügler der traurigsten, pannigsten Parade der Welt, so sehen wir aus.

Eine leise Unterredung mit Jongleur hatte Azador anscheinend bewogen, sich dem Plan des alten Mannes zu fügen. Ungeachtet der Gefühle, die der Ort in ihm ausgelöst hatte, sah er sich nicht einmal mehr um, als er an der Spitze des kleinen Zuges die Lichtung und den Kreis der bunten Wagen hinter sich ließ. Sam warf noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die gespenstischen Gefährte, die über dem verschleierten Gras zu schweben schienen. Es war angenehm gewesen, in einem Bett zu schlafen, auch wenn es klein und eng gewesen war. Sie fragte sich, ob sie noch jemals Gelegenheit dazu bekommen würde.

Sie folgten Azador auf einem langen, gewundenen Fußweg durch den Wald, bis es schließlich weit nach Mittag war beziehungsweise gewesen wäre, falls es so etwas wie einen Mittag gegeben hätte. Das schwache, diffuse Licht verlor sich im dämmerigen Halbdunkel des Waldes. Ein paar winzige Lichtpünktchen, die an sterbende Glühwürmchen erinnerten, pulsten in den Wipfeln, aber hellten die graue, kalte Welt in keiner Weise auf.

Sam hatte es mittlerweile so satt, durch den feuchten, düsteren Wald zu stapfen, daß sie am liebsten geschrien hätte, und sei es bloß, um ein anderes Geräusch zu hören als tropfendes Wasser oder schlurfende Schritte. Plötzlich blieb Azador stehen.

»Da ist der Fluß«, sagte er apathisch und deutete bergab auf eine Schneise zwischen den Bäumen. Das graue Wasser glänzte nicht und sah eher wie ein breiter Bleistiftstrich aus als wie das muntere Flüßchen, das sie vorher gesehen hatten. »Doch selbst wenn ich die Brücke finde, wird sie uns nur ins nächste Land bringen, noch weit entfernt von dem Zentrum, wo der Brunnen ist.«

»Ich vermute einmal, daß wir weit vom Romamarkt entfernt waren, als du die letzte Brücke gefunden hast«, bemerkte Jongleur. »Nicht in dem Land daneben. Habe ich recht?«

Azador blickte verwirrt. »Kann sein. Ich weiß nicht.«

»Du hast den Romamarkt gefunden, weil du dort hinwolltest. Genauso wie du seinerzeit einen Weg aus diesen Welten hinaus gefunden hast, nicht wahr?«

Azador schwankte. Er hielt sich die Hände vors Gesicht. »Es fällt mir zu schwer, mich zu erinnern. Ich habe alles vergessen.«

Jongleur nahm ihn am Arm. »Ich werde allein mit ihm sprechen«, erklärte er Sam und !Xabbu. Der alte Mann zog Azador am Hang entlang außer Hörweite und beugte sich dann dicht an ihn heran, als wollte er ein bockendes Kind zur Aufmerksamkeit zwingen. Sam dachte schon, Jongleur würde gleich den Zigeuner am Kinn nehmen, um zu verhindern, daß er den Kopf wegdrehte.

»Wieso kann er nicht vor uns reden? Ich traue ihm nicht. Du etwa?«

»Natürlich traue ich ihm nicht«, erwiderte !Xabbu. »Aber er ist irgendwie anders. Hast du das bemerkt?«

Das mußte Sam zugeben. Sie beobachteten, wie Jongleur seinen Appell beendete und mit Azador zu ihnen zurückkam.

»Jetzt werden wir die Brücke finden«, erklärte er lapidar. Azador wirkte resigniert und erschöpft, wie einer, der jeden Widerstand aufgegeben hatte, weil er wußte, daß er nicht gewinnen konnte. Er beäugte Sam und !Xabbu flüchtig, als ob er sie noch nie zuvor gesehen hätte, dann drehte er sich um und schritt den steilen, bewaldeten Hang hinunter.

»Was hast du ihm gesagt?« erkundigte sich Sam schwer atmend.

»Wie er denken soll.« Jongleur führte das nicht näher aus.

Als sie tiefer am Hang zwischen den Bäumen hervorkamen, lag der Fluß direkt unter ihnen. Azador stand mit schlaff herabhängenden Armen da, den Blick starr auf eine Brücke gerichtet.

»Block mich kreuzweise«, keuchte Sam. »Er hat’s geschafft.«

Es war eine überdachte, ziemlich morsch wirkende Holzbrücke, ein wenig wie eine Bretterbude, die man absurd in die Länge gezogen hatte, damit sie den dunklen, ruhigen Fluß überspannte. Sam konnte zwar durch den über dem Wasser lagernden Nebel gerade noch die Stelle erkennen, wo die Brücke das andere Ufer berührte, aber sie saß mittlerweile nicht mehr der Illusion auf, daß die Überquerung sie in die hügelige Waldgegend dort drüben führen würde, ein Spiegelbild der Landschaft, in der sie sich befanden.

Als sie neben Azador traten, stellten sie fest, daß er die Augen geschlossen hatte.

»Ich will da nicht rüber«, sagte er leise.

»Unsinn«, meinte Jongleur. »Du willst doch deine Leute finden, nicht wahr? Du willst tun, was der Eine dir befohlen hat.«

»Mich erwartet dort das Ende«, klagte Azador. »Wie es mir prophezeit ist. Ich kann es fühlen.«

»Du fühlst deine eigene Furcht«, widersprach Jongleur. »Man erreicht nichts im Leben, wenn man nicht seine Furcht überwindet.« Er zögerte, dann legte er Azador die Hand auf den Arm – abermals eine nachgerade menschliche Geste, die Sam fast genauso überraschte wie den Zigeuner. »Komm. Wir brauchen dich alle. Ich bin sicher, deine Leute brauchen dich auch.«

»Aber …«

»Selbst der Tod läßt sich überlisten«, sagte Jongleur. »Habe ich dir das nicht erklärt?«

Azador wurde schwankend. Sam sah förmlich, wie er innerlich einknickte. Sie wußte nicht, ob sie wollte, daß er nachgab, oder nicht.

»Na schön«, sagte er bedrückt. »Ich werde hinübergehen.«

»Sehr tapfer.« Jongleur drückte ihm den Arm. Der Alte machte einen erregten, geradezu fiebrigen Eindruck, aber Sam konnte sich nicht vorstellen, warum. Ihr Mißtrauen flammte wieder auf, doch da trat er bereits zusammen mit Azador auf die Brücke.

Sam und !Xabbu folgten wenige Schritte hinter ihnen. Unter der Überdachung war es so finster, daß das diesige Zwielicht draußen ihnen im Vergleich wie die helle Mittagssonne erschien. Beklommen strebte Sam dem grauen Lichtpunkt entgegen, der in der Ferne vor ihnen hing, der Ausgang der Brücke am anderen Ende. Ihre Schritte hallten in dem engen Raum. Die Bodenbretter knarrten unter ihr.

»Wart mal«, sagte sie. »Wenn das da das Licht am andern Ende ist, wieso sehen wir dann Jongleur und Azador nicht vor uns …? !Xabbu?« Sie blieb stehen. »!Xabbu

Selbst der Lichtpunkt verdüsterte sich jetzt, als ob vom Fluß Nebel hereintrieb und den überdachten Raum füllte. Sams Herz machte einen Sprung. Sie fuhr herum, aber auch hinter ihr war kein Licht mehr zu sehen. »!Xabbu? Wo bist du?«

Sie hörte nur noch das Klopfen ihres Herzens und das leise Knarren der Bohlen unter ihren Füßen. Die Dunkelheit war so drückend, so stark, daß Sam sich von ihr umfangen fühlte wie von einem lebendigen Wesen. Sie streckte die Hände nach den Seitenwänden der Brücke aus, doch ihre Finger fühlten nur kalte Luft. Entsetzt ging sie weiter vorwärts, oder was sie für vorwärts hielt, zuerst langsam, doch schon bald gab sie die Vorsicht auf, und aus dem Gehen wurde ein Zuckeltrab und dann ein halsbrecherischer Lauf.

Sie rannte direkt in eine eisige Umklammerung hinein, die so stark war, daß sie körperlich weh tat.

Eine Furcht, die nicht ihre eigene war, packte sie wie eine dunkle Riesenfaust. Im Bruchteil einer Sekunde fraß sich die tödliche Kälte in sie hinein, betäubte ihren Körper, löschte ihn aus, bis nichts mehr davon übrig war als ein winziges Flämmchen, ein Gedanke, ein Hauch, der sich verzweifelt gegen das alles erstickende Nichts wehrte.

Das hab ich doch schon mal erlebt – in diesem Tempel in der Wüste. Aber ich hatte vergessen, wie … wie furchtbar das war …!

Sie war nicht allein. In irgendeiner Weise fühlte sie !Xabbu und sogar Jongleur, als ob sie beide in der Dunkelheit durch einen wackelnden, versagenden Stromkreis mit ihr verbunden wären, fühlte, wie !Xabbu in der Leere versank, wie Jongleur aufschrie und nach der Schwärze faßte, als wollte er sie in eine besser begreifbare Form ziehen, doch es war nur ein kurzes Aufblitzen. Dann waren die anderen fort, und sie blieb allein als verlöschendes Fünkchen zurück.

Laß mich gehen, dachte sie, aber es schien nichts zu geben, das sie hören konnte oder hören wollte.

Die Kraft, die sie festhielt, drückte mit aller Macht zu, und die Leere hüllte sie ein und zog sie nach unten …

 

Es war der Park bei ihrem alten Haus, den sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, aber die Schaukeln und das Klettergerüst waren ihr immer noch so vertraut wie ihre eigenen Hände. Sie saß am Rand des Spielbereichs im hellen Sonnenschein auf dem Rasen, scharrte mit den nackten Füßen im Sand und guckte sich die Muster an, die dabei entstanden, die Rindenmulchstückchen, die aus den Sandwellen herausschauten wie Treibholz auf einem gefrorenen Meer.

Orlando saß neben ihr. Nicht der Barbarenheld Orlando, auch nicht der grotesk verhutzelte Kranke, der ihr manchmal in ihren dunkleren Phantasien erschienen war, nachdem sie von seiner Krankheit erfahren hatte, sondern der Orlando, den sie sich früher einmal vorgestellt hatte, der dunkelhaarige Junge mit dem dünnen, aufgeweckten Gesicht.

»Er will dich nicht«, sagte Orlando. »Eigentlich ist ihm mittlerweile so ziemlich alles egal.«

Sam starrte ihn an und versuchte sich zu erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war. Das einzige, was sie einigermaßen sicher wußte, war, daß Orlando tot war, und den Umstand anzusprechen, kam ihr nicht sehr nett vor.

»Ich denke, wenn du kannst, solltest du lieber abhauen«, fuhr er fort, bückte sich dann und rupfte einen langen Grashalm ab.

»Abhauen…?«

»Von dort, wo du jetzt bist. Er will dich nicht, Sam. Er versteht dich nicht. Ich glaube, er hat längst jeden Versuch aufgegeben.«

Der Boden bebte, nur ein wenig, aber Sam spürte es im Gesäß, als ob jemand der Welt einen kräftigen Schlag versetzt hätte, aber weit weg von ihnen. »Ich habe Angst«, sagte sie.

»Kein Wunder.« Er lächelte. Es war genau das schiefe Grinsen, das er in ihrer Vorstellung immer gehabt hatte. »Hätte ich auch, wenn ich noch leben würde.«

»Dann weißt du, daß …?«

Er hielt den Grashalm zwischen den Fingern hoch und blies ihn fort. »Ich bin nicht wirklich hier, Sam. Wenn es so wäre, würde ich dich ›Fredericks‹ nennen, nicht wahr?« Er lachte. Ihrem liebevoll-mitleidigen Blick entging nicht, daß sein Hemd verkehrt zugeknöpft war. »Du redest quasi nur mit dir selbst.«

»Aber wieso weiß ich, was … was er denkt?«

»Weil du in ihm drin bist, du Oberscänner. Du bist in seinen Gedanken drin, könnte man vermutlich sagen, ganz tief. In seinen Träumen. Und im Moment ist das kein besonders lauschiges Plätzchen.«

Der Boden bebte wieder, stärker, rüttelnder als vorher, als ob ein Wesen unter ihnen entdeckt hätte, daß es eingesperrt war, und sich gegen seine Fesseln aufbäumte. Die Ringe am Klettergerüst begannen langsam zu schaukeln.

»Aber ich weiß nicht, wie ich abhauen soll!« rief sie. »Ich kann doch nichts machen!«

»Man kann immer was machen.« Diesmal war das Lächeln traurig. »Selbst wenn es nicht ausreicht.« Er stand auf und klopfte sich die Knie seiner Hose ab. »Ich muß jetzt gehen.«

»Sag mir, was ich machen soll!«

»Ich weiß nichts, was du nicht auch weißt«, erklärte er, dann drehte er sich um und schritt über die Wiese davon, eine weite grüne Fläche, ungleich viel weiter als in ihrer Erinnerung. Im Nu war der schlaksige Junge so klein geworden, daß es ihr vorkam, als könnte sie ihn in eine Hand nehmen.

»Aber ich weiß gar nichts!« rief sie ihm hinterher.

Orlando drehte sich um. Es war dunkel geworden, weil die Sonne sich hinter den Wolken verzogen hatte, und er war undeutlich zu erkennen. »Er hat Angst«, rief er zurück. Wieder ging ein Stoß durch die Erde, so daß Sam leicht in die Höhe hüpfte, aber Orlando wankte nicht. »Er hat echt Angst. Vergiß das nicht.«

Sam wollte hinter ihm hereilen, aber auf einmal begann die Erde sich unter ihren Füßen aufzuwölben, und sie verlor das Gleichgewicht. Einen Moment lang meinte sie, sie hätte sich wieder gefangen, könnte ihn doch noch einholen, bevor er weg war – sie war immer eine schnelle Läuferin gewesen, und Orlando war doch ein Krüppel, oder? –, da stieß ein riesiges schwarzes Ungetüm durch die zerbröckelnde Erdkruste empor wie ein Wal aus dem Meer, und Sam flog kopfüber in den klaffenden dunklen Abgrund.

 

Das hastige Kratzen, erkannte sie schließlich, war das Geräusch ihres eigenen hechelnden Atems. Sie fühlte Erde unter den Fingern, Erde am Gesicht. Sie wollte nicht die Augen aufmachen vor lauter Angst, sich einem Wesen gegenüber zu sehen, das so groß war wie die gesamte Schöpfung.

Erst das Schnaufen eines anderen Menschen direkt neben ihr gab ihr den Mut zu gucken.

Sie lag auf dem Rücken unter einem Himmel, der mit seinem Violettgrau noch drückender und unheimlicher war als vorher über dem Wald. Der Boden unter ihr fühlte sich hart und tragfähig an. Sie befanden sich an einem Hang, umgeben von Erhebungen, die an den Zackenkranz des schwarzen Berges erinnerten, eine öde Landschaft ohne eine einzige Pflanze.

Sam setzte sich hin. !Xabbu lag neben ihr auf Händen und Knien, das Gesicht an die Erde gepreßt, der Brustkasten heftig pumpend wie bei einem Herzanfall, erstickte Keuchtöne in der Kehle. Sie kroch zu ihm und legte den Arm um ihn.

»!Xabbu, ich bin’s! Sam. Sag doch was!«

Das Keuchen beruhigte sich ein wenig. Sie fühlte seinen kompakten Körper zittern. Schließlich faßte er sich. Er wandte ihr sein tränennasses Gesicht zu, aber schien sie im ersten Moment nicht zu erkennen.

»Es tut mir so leid«, sagte er. »Ich habe dich im Stich gelassen. Ich bin ein Nichts.«

»Was redest du da? Wir leben!«

Er riß die Augen auf, schüttelte heftig den Kopf. »Sam?«

»Ja, Sam. Wir leben! O Gott, ich hätte nicht gedacht … ich wußte nicht … doch ich wußte, ich hatte es bloß vergessen, vielleicht wegen der Schmerzen oder so. Als ich mit Orlando in dem Tempel in der Wüste war, war es genauso …« Sie merkte, daß !Xabbu sie verwirrt ansah und daß sie dummes Zeug redete. »Schon gut. Ich freu mich bloß so, daß du da bist!« Sie drückte ihn fest an sich und setzte sich dann aufrecht hin. Sie hatte immer noch die geborgte bunte Zigeunertracht an, genau wie er. »Aber wo sind wir?«

Bevor er ihr antworten konnte, hörten sie von weiter unten am Hang einen Schrei. Sie sprangen auf und eilten den Rutsch aus dunkler, bröckelnder Erde hinunter. Hinter einer kleinen Bodenwelle fanden sie Felix Jongleur. Er lag mit fest zugepreßten Augen auf der Seite und wand sich wie eine mit Salz bestreute Schnecke.

»Nein«, japste der alte Mann, »laßt das …! Die Vögel … die Vögel werden …!«

!Xabbu legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. Auf die Berührung hin riß Jongleur sofort die Augen auf.

»Sie gehört mir!« schrie er und schlug unkontrolliert in !Xabbus und Sams Richtung. »Sie gehört …« Er verstummte, und sein Gesicht erschlaffte. Einen Moment lang blickte er die beiden schutzlos mit den Augen eines gehetzten, verzweifelten Tieres an. Dann war sofort die Maske da. »Rühr mich nicht an!« bäffte er. »Rühr mich nie wieder an …!«

»Ich habe ihn gefunden!« schrie Azador.

Sie drehten sich um. Weit vorgebeugt kam er den steilen Hang heraufgeeilt. Als er den Kopf hob, ließ ein überraschendes Lachen sein Gesicht erstrahlen. »Du hattest recht! Kommt und seht selbst!«

Sam blickte !Xabbu an, doch der zuckte bloß mit den Achseln und nickte. Während Jongleur sich noch ein wenig schwankend, aber mit eisiger Entschlossenheit aufrappelte, folgten sie Azador bergab.

Binnen weniger Minuten kamen sie an einen Platz, von dem aus sie einen Blick über die letzte kleine Erhebung hinaus auf den ganzen Talkessel hatten. Wie schon der Hügelring hatte er eine starke Ähnlichkeit mit dem Gipfel des schwarzen Berges, doch keine riesenhafte, gefesselte Gestalt beherrschte das Tal, sondern ein ungeheuer großer Krater, in dessen schwarzem Wasser gedämpfte Lichter schimmerten. Eine große Menge, zu weit weg, als daß man einzelne hätte erkennen können, drängte sich an seinem Rand.

»Was … was ist das?« fragte Sam schließlich.

»Das ist der Brunnen«, antwortete Azador triumphierend. Er trat zu Jongleur und schlug ihm so kräftig auf die Schulter, daß dieser beinahe umgekippt wäre. »Du hattest recht! Du bist ein sehr, sehr kluger Mann.«

Er streckte die Hand aus. »Seht ihr das ganze Volk dort unten? Alle Kinder des Einen haben sich versammelt. Die Roma werden auch dort sein. Meine Leute!«

Als ob damit seine Geduld erschöpft wäre, eilte Azador nach dieser Erklärung den Hang hinunter in die Ebene. Sam und die anderen starrten ihm fassungslos hinterher.

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
titlepage.xhtml
Otherland4_split_000.htm
Otherland4_split_001.htm
Otherland4_split_002.htm
Otherland4_split_003.htm
Otherland4_split_004.htm
Otherland4_split_005.htm
Otherland4_split_006.htm
Otherland4_split_007.htm
Otherland4_split_008.htm
Otherland4_split_009.htm
Otherland4_split_010.htm
Otherland4_split_011.htm
Otherland4_split_012.htm
Otherland4_split_013.htm
Otherland4_split_014.htm
Otherland4_split_015.htm
Otherland4_split_016.htm
Otherland4_split_017.htm
Otherland4_split_018.htm
Otherland4_split_019.htm
Otherland4_split_020.htm
Otherland4_split_021.htm
Otherland4_split_022.htm
Otherland4_split_023.htm
Otherland4_split_024.htm
Otherland4_split_025.htm
Otherland4_split_026.htm
Otherland4_split_027.htm
Otherland4_split_028.htm
Otherland4_split_029.htm
Otherland4_split_030.htm
Otherland4_split_031.htm
Otherland4_split_032.htm
Otherland4_split_033.htm
Otherland4_split_034.htm
Otherland4_split_035.htm
Otherland4_split_036.htm
Otherland4_split_037.htm
Otherland4_split_038.htm
Otherland4_split_039.htm
Otherland4_split_040.htm
Otherland4_split_041.htm
Otherland4_split_042.htm
Otherland4_split_043.htm
Otherland4_split_044.htm
Otherland4_split_045.htm
Otherland4_split_046.htm
Otherland4_split_047.htm
Otherland4_split_048.htm
Otherland4_split_049.htm
Otherland4_split_050.htm
Otherland4_split_051.htm
Otherland4_split_052.htm
Otherland4_split_053.htm
Otherland4_split_054.htm
Otherland4_split_055.htm
Otherland4_split_056.htm
Otherland4_split_057.htm
Otherland4_split_058.htm
Otherland4_split_059.htm
Otherland4_split_060.htm
Otherland4_split_061.htm
Otherland4_split_062.htm
Otherland4_split_063.htm
Otherland4_split_064.htm
Otherland4_split_065.htm
Otherland4_split_066.htm
Otherland4_split_067.htm