Kapitel

Die Höhle des Löwen

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Sekte gegen Marker-Gen für ihren Messias

(Bild: Zentrale der Astralen Weisheit in Quito, Ecuador)

Off-Stimme: Die religiöse Sekte, die sich »Astrale Weisheit« nennt, will vor Gericht eine Ausnahme von den UN-Bestimmungen für Marker-Gene in menschlichen Klonen erstreiten. Die Glaubensgemeinschaft beabsichtigt, ihren verstorbenen Führer Leonardo Rivas Maldonado in geklonter Form zu neuem Leben zu erwecken, behauptet jedoch, die Marker-Gene, welche die UN zur Unterscheidung der Klone von den Originalen zwingend vorschreiben, verletzten ihre religiösen Rechte.

(Bild: Maria Rocafuerte, Sprecherin der Astralen Weisheit)

Rocafuerte: »Wie können wir unsern liebreichen Meister in einem Körper wiedererschaffen, der von einem nicht zu ihm gehörigen Gen verunreinigt ist? Wir versuchen, das Gefäß der Lebendigen Weisheit neu hervorzubringen, damit wir in diesen letzten Tagen der Welt eine Führung haben, aber die Behörden verlangen, daß wir dieses Gefäß nach religionsfeindlichen Zwangsbestimmungen verändern.«

 

 

> Das ist ganz schlimm, das ist ganz schlimm, war das einzige, was Christabel denken konnte.

Das Armeefahrzeug holperte auf den Bürgersteig und hielt vor der Einfahrt an, damit der Soldat, der am Steuer saß, irgend etwas mit dem großen Metallkasten dort machen konnte. Eine Frau in Badeanzug und Morgenmantel, die gerade einen Kinderwagen an dem Gebäude vorbeischob, versuchte, durch die Fenster des Fahrzeugs hineinzulugen, aber allem Anschein nach konnte sie Christabel durch die Scheibe gar nicht sehen. Nach ein paar Sekunden gab die Frau es auf. Der Wagen rollte die Rampe hinunter ins Dunkel.

Christabel merkte, daß sie einen Laut von sich gegeben haben mußte, denn ihr Papi beugte sich zu ihr hinüber und sagte: »Es ist nur eine Garage, Liebes. Hab keine Angst. Nur die Garage von einem Hotel.«

Sie waren für ihr Gefühl ziemlich lange gefahren, aus der Stadt hinaus in eine Gegend, wo es mehr Hügel als Häuser gab. Deshalb hatte sie das Hotel schon eine ganze Weile vorher gesehen – ein großes, breites, weißes Gebäude, das hoch in die Luft emporragte, mit wehenden Fahnen vor dem Eingang. Es sah richtig freundlich aus, aber Christabel war dennoch mulmig zumute.

Der jüngere Soldat, der ihnen gegenüber saß, sah Christabel an, und einen Augenblick lang dachte sie, er werde etwas sagen, vielleicht etwas Nettes, doch dann wurde sein Mund hart und schmal, und er blickte zur Seite. Captain Parkins, der ebenfalls gegenüber saß, machte ein leidendes Gesicht, als ob er Bauchschmerzen hätte.

Wo ist Mami? fragte sie sich. Warum ist sie mit unserm Van weggefahren? Warum hat sie nicht auf uns gewartet?

Damit das mit Herrn Sellars geheim bleibt, begriff Christabel plötzlich. Daß ihr Papi und ihre Mami – und dieser Herr Ramsey, der auf einmal dazugekommen war – jetzt über ihn Bescheid wußten, hieß noch lange nicht, daß das für alle anderen auch galt.

Und als der Wagen endgültig anhielt, wurde ihr noch etwas klar, das sie vorher gar nicht bedacht hatte. Das heißt, Captain Parkins weiß auch nichts von Herrn Sellars, davon, daß er mit uns und mit diesem gräßlichen Jungen im Wagen gefahren ist. Keiner der Armeemänner weiß etwas davon. Deshalb sagt Papi ständig, daß ich mit niemand reden soll.

Sie mußte die Luft anhalten, weil das Herzflattern auf einmal ganz doll wurde. Sie hatte das nicht verstanden. Sie hatte gedacht, daß Papi Captain Parkins böse war, weil der ihm das Wegfahren von der Arbeit nicht gönnte. Jetzt wußte sie, daß er ihm gar nicht böse war, sondern daß er ein Geheimnis hatte. Ein Geheimnis, das sie verraten hätte, wenn einer der Armeemänner sie gefragt hätte.

»Alles in Ordnung, Liebes?« fragte ihr Vater. Die Wagentüren zischten auf, und einer der Soldaten sprang hinaus. »Laß dir beim Aussteigen von dem Mann helfen.«

Herr Ramsey beugte sich an ihr Ohr. »Ich bin dicht hinter dir, Christabel. Dein Papi und ich werden dafür sorgen, daß nichts passiert.«

Aber Christabel war dabei, etwas Unheimliches über Erwachsene zu lernen. Manchmal sagten sie, alles würde gut werden, dabei wußten sie gar nicht, ob alles gut werden würde. Sie sagten es einfach. Obwohl in Wirklichkeit schlimme Sachen passieren konnten, sogar kleinen Kindern.

Vor allem kleinen Kindern.

»Sehr praktisch«, sagte Captain Parkins, als die Tür in der Garagenwand aufglitt, aber er hörte sich nicht vergnügt an. »Unser Privatfahrstuhl in die Höhle des Löwen.«

Eine Höhle? Von einem Löwen? Christabel fing an zu weinen. In der Schule hatten sie letztens erst die Geschichte von Daniel in der Löwengrube besprochen. Der Kurzfilm, den sie dazu im SchulNetz geguckt hatten, war zwar nicht sehr blutig gewesen, erst am Schluß ein bißchen, aber vor der dunklen Grube mit der gefährlichen Bestie drin hatte ihr schrecklich gegraust, und auch wenn Daniel heil davongekommen war, glaubte sie nicht, daß sie das genauso fertigbringen würde. Sie würde vor Schreck sterben, wenn sie den Löwen nur sah.

Ihr Vater legte ihr die Hand auf den Hinterkopf und wuschelte ihre Haare. »Du mußt nicht weinen, Schätzchen. Es wird bestimmt alles gut. Ron, muß sie wirklich mitkommen? Können wir das hier nicht verschieben, bis ich ihre Mutter erreicht habe oder jemanden, der sie hinbringen kann?«

Christabel klammerte sich fest an die Hand ihres Papis. Captain Parkins zog langsam die Schultern hoch und ließ sie schwer wieder fallen. »Ich hab meine Befehle, Mike.«

Mit ihr, ihrem Vater, Herrn Ramsey, Captain Parkins und den beiden anderen Soldaten war es eng und heiß im Aufzug, aber trotzdem wollte Christabel nicht, daß die Fahrt nach oben aufhörte, wollte nicht wissen, wie eine Löwenhöhle aussah, nicht einmal in so einem schicken Gebäude. Als die Tür ping machte und aufging, fing sie wieder an zu weinen.

Der Raum dahinter war völlig anders, als sie erwartet hatte, überhaupt nicht dunkel und feucht und unheimlich wie in dem SchulNetz-Film über Daniel. Captain Parkins hatte vorher das Gebäude als Hotel bezeichnet, und genauso sah es aus, wie ein riesengroßes Hotelzimmer, weitläufig wie ihr Rasen daheim vor dem Haus, mit einem hellblauen Teppichboden, drei Couchen und Tischen und einer totalen Bildschirmwand an einer Seite, einer Küche am anderen Ende und Türen in den übrigen Wänden. Auf einem der Tische stand sogar eine Blumenvase. Das einzige, was genauso schlimm war, wie sie es sich gedacht hatte, war der Schrank von einem Mann mit dunkler Brille, der an der Tür auf sie wartete. Ein anderer Mann, der ziemlich genauso aussah, saß auf einer der Couchen und erhob sich jetzt. Sie hatten beide komische schwarze Anzüge an, hauteng und ein bißchen glänzig, und beide hatten so Dinger um Brust und Hüften geschnallt, die Schußwaffen zu sein schienen oder noch schlimmere Sachen, komplizierter und gruseliger.

»Ausweis«, sagte der Mann an der Tür mit schleppendem Tonfall.

»Und wer zum Teufel bist du?« wollte Captain Parkins wissen. Zum erstenmal sah seine Leidensmiene nach etwas anderem aus, nach Zorn oder vielleicht sogar nach Angst.

»Ausweis«, wiederholte der Schrank mit der Vollsichtbrille unbeeindruckt, als wäre er eine der Schaufensterreklamen im Seawall Center. Die zu Captain Parkins gehörenden Soldaten veränderten leicht die Haltung. Christabel sah, daß der eine die Hand sinken ließ, dorthin wo seine Waffe steckte. Ihr Herz begann ganz, ganz schnell zu schlagen.

»Immer langsam«, sagte ihr Papi, »wir sollten hier nicht…«

Eine der Türen am hinteren Ende des großen Raumes ging auf. Ein Mann mit Schnurrbart und kurzen grauen Haaren kam heraus. Christabel konnte erkennen, daß hinter ihm noch einmal so ein großer Raum war, mit einem Bett, einem Schreibtisch und einem breiten Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren. Der Mann trug einen Bademantel und einen gestreiften Pyjama. Er rauchte eine Zigarre. Im ersten Moment dachte Christabel, sie hätte ihn schon mal im Netz gesehen, weil er ihr selbst in dem ulkigen Aufzug so bekannt vorkam.

»In Ordnung, Doyle«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart. »Ich kenne Captain Parkins. Und Major Sorensen auch, o ja!«

Der erste Mann im schwarzen Glänzianzug schritt durch das Zimmer zur nächsten Couch. Er und der andere setzten sich zusammen hin, ohne ein Wort zu sagen, aber etwas an ihnen ließ Christabel an einen Kettenhund denken, der sich schlafend stellte, bis ein Kind nahe genug kam, daß er es anspringen konnte.

»Und ich erinnere mich sogar an dich, Herzchen.« Der Mann mit dem Schnurrbart beugte sich lächelnd vor und tätschelte Christabel den Kopf. Da fiel er ihr wieder ein, der braungebrannte Mann im Büro ihres Papis. »Was machst du denn hier, Kleines?« Die Hand ihres Vaters schloß sich fester um ihre, damit sie sich nicht von ihm losmachte, aber auch, damit sie nichts sagte.

Immer noch lächelnd richtete der Mann sich auf, doch als er weiterredete, war seine Stimme kalt, als ob jemand den Gefrierschrank aufgemacht hätte und Christabel jetzt der Eishauch ins Gesicht wehte. »Was macht dieses Kind hier, Parkins?«

»Ver-Verzeihung, General.« Captain Parkins hatte Schweißflecken in den Achselhöhlen, die größer geworden waren, seit sie den Fahrstuhl verlassen hatten. »Es war eine schwierige Situation – die Mutter des Mädchens war gerade einkaufen gefahren und nicht auffindbar, und da du gesagt hattest, es sollte informell sein …«

Der General lachte schnaubend. »Sicher, informell. Aber von einem gottverdammten Familienausflug war nicht die Rede, oder? Was denkst du dir – daß wir hier mit Vater und Tochter Sackhüpfen veranstalten? Hmmm? Captain Parkins, bist du der Meinung, daß das hier ein Picknick im Grünen werden soll?«

»Nein, Sir.«

Herr Ramsey räusperte sich. »General… Yacoubian?«

Der Angesprochene drehte langsam den Blick in seine Richtung. »Und weißt du was?« sagte er mit eisiger Ruhe. »Dich, Bürger, kenne ich definitiv nicht. Wie wär’s, wenn du gleich wieder in den Fahrstuhl abdackelst und aus meiner Suite verschwindest?«

»Ich bin Anwalt, General. Major Sorensen ist mein Mandant.«

»Tatsächlich? Das höre ich zum erstenmal, daß ein Offizier einen Rechtsvertreter zu einem zwanglosen Gespräch mit einem Vorgesetzten mitbringt.«

Diesmal war es Ramsey, der lächelte, wenn auch nur leicht. »Du definierst das Wort ›zwanglos‹ offenbar recht frei, General.«

»Ich bin Brigadegeneral, Freundchen. Ich sage, wie etwas ist, und dann ist es auch so. Merk dir das!« Er wandte sich Parkins zu. »Gut, Captain, deine Aufgabe ist erfüllt. Du kannst deine Männer nehmen und abschieben – ihr werdet ja wohl noch was anderes zu tun haben. Ich übernehme jetzt den Fall.«

»Sir?« Captain Parkins wirkte verwirrt. »Aber meine Männer, Sir … du sagtest, ich soll zwei MPs mitbringen …«

»Meinst du, Doyle und Pilger könnten nicht mit jeder Situation fertigwerden, die hier auftreten könnte?« Der General schüttelte den Kopf. »Diese Jungs verfügen über mehr Feuerstärke als ein ganzer Kampfhubschrauber.«

»Gehören sie auch der US Army an, General?« schaltete sich Ramsey wieder ein. »Nur fürs Protokoll?«

»Stell keine Fragen, Anwalt, und du kriegst keine Lügen zur Antwort«, versetzte der General mit einem leisen Lachen.

Die Hand ihres Papis zitterte auf Christabels Schulter, und das machte ihr beinahe mehr Angst als alles andere, was an diesem Tag passiert war. Endlich meldete auch er sich zu Wort. »General, es gibt wirklich keinen Grund, meine Tochter oder Herrn Ramsey in diese Sache hineinzuziehen …«

»Mike«, sagte Ramsey, »gib um Gottes willen nicht deine Rechte preis…«

»… darum bitte ich dich, sie einfach gehen zu lassen«, fuhr ihr Vater fort, ohne ihn zu beachten. »Du kannst sie ja Captain Parkins mitgeben, wenn du willst.«

Der General schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war sehr braun und sein Schnurrbart klein und adrett, aber er hatte so etwas Runzliges um die Augen, das Christabel an Bilder vom Weihnachtsmann erinnerte. Doch sie fand, daß er mehr wie ein umgekehrter Weihnachtsmann war, wie einer, der keine Geschenke bringt, wenn er durch den Schornstein kommt, sondern statt dessen kleine Jungen und Mädchen in seinem großen Sack mitnimmt. »Den Teufel werde ich tun«, erwiderte er. »Es interessiert mich sehr zu erfahren, was alle zu erzählen haben – auch das kleine Mädchen. Okay, Captain Parkins, du kannst dich mit deinen Männern verdrücken. Wir andern haben so dies und das zu besprechen.« Er beugte sich vor und drückte den goldenen Fahrstuhlknopf in seinem Täfelchen auf der Tapete.

»Wenn es dir nichts ausmacht, Sir«, sagte Captain Parkins nach kurzem Zögern, »bleibe ich da. Wenn dann Major Sorensen oder seine Tochter irgendwo hingebracht werden müssen, bin ich sofort verfügbar. Mike ist ein Freund von mir, Sir.« Er drehte sich rasch zu den beiden Soldaten um, die zwar sehr große Augen bekommen, aber bisher keinen Ton von sich gegeben hatten. »Du und Gentry, ihr geht runter und wartet im Wagen. Falls ich euch nicht mehr brauche, rufe ich kurz durch und sage Bescheid, daß ihr zum Stützpunkt zurückfahren könnt.«

Die Tür zischte auf. Einen Moment lang wechselten alle nur Blicke, die Soldaten, die Männer in Schwarz auf der Couch, Captain Parkins und Ramsey und ihr Papi und der General. Dann lächelte der General wieder. »Gut. Ihr habt gehört, was der Captain gesagt hat, Jungs.« Er winkte die Soldaten in den Fahrstuhl. Sie guckten immer noch entgeistert, während die Tür zuglitt. Christabel wußte nicht, warum, aber als sie die jungen Soldaten mit ihren glänzenden Helmen verschwinden sah, war ihr zumute wie am ersten Tag im Kindergarten, als ihre Mami sie schließlich allein gelassen hatte. Sie drückte wieder fest die Hand ihres Vaters.

»Macht es euch gemütlich«, sagte der General leutselig. »Ich muß noch eine ziemlich wichtige Konferenz zu Ende bringen, aber in ungefähr einer halben Stunde ist das erledigt, und dann werden wir alle einen ausgiebigen Schwatz halten.« Er wandte sich den beiden Männern in Schwarz zu. »Sorgt dafür, daß es unsern Gästen an nichts fehlt. Und daß sie unsere Gäste bleiben, bis ich wieder offline bin. Aber gütlich. Gütlich.«

Und damit schritt er auf das hintere Zimmer zu.

»General Yacoubian, Sir«, sagte Christabels Papi. »Ich möchte dich noch einmal fragen, ob meine Tochter und Herr Ramsey nicht vielleicht doch gehen können. Es wäre sehr viel einfacher für alle Beteiligten …«

Der General drehte sich um, und Christabel hatte den Eindruck, daß seine Augen hell und scharf waren wie bei einem Vogel. »Einfacher? An mir ist es nicht, hier irgendwas einfacher zu machen, Sorensen. Ich bin es nicht, der hier Fragen beantworten muß.« Er ging weiter, blieb stehen und drehte sich abermals um. »Jemand namens Duncan aus deinem Büro hat mir nämlich einen Antrag auf Laborarbeit übermittelt. Sowas hätte ich eigentlich automatisch bekommen müssen, aber aus irgendeinem Grund hast du ihn mir vorenthalten. Sehr interessante Lektüre, das muß ich sagen. Wissenschaftliche Analyse einer Brille, von dir in Auftrag gegeben. Eine überaus bemerkenswerte Brille übrigens. Na, klingelt’s bei dir?«

Captain Parkins schaute völlig verdattert drein, aber Christabels Papi wurde so blaß, als würde ihm sämtliches Blut abgezapft.

»Also spuckt keine großen Töne, und bleibt hübsch still sitzen, bis ich für euch Zeit habe.« Der General lächelte ein letztes Mal. »Du kannst auch ein Gebet sprechen, falls du eines kennst.« Damit trat er endgültig in das Nebenzimmer und schloß die Tür.

Ein langes Schweigen folgte. Schließlich sagte einer der schwarzgekleideten Männer, der namens Pilger: »Wenn das Kind Hunger hat, da drüben in der Minibar gibt’s Erdnüsse und Schokolade.« Dann wanderte sein Blick wieder zur Bildschirmwand zurück.

 

 

> Eine Sache ist, sagte sich Dulcy. daß ich ihn im Grunde gar nicht kenne.

Sie guckte sich die üblichen Verwaltungsebenen von Dreads System an, die in einem ähnlichen Stil gehalten waren wie seine Inneneinrichtung, spartanisch und farblos. Während ihr eigenes System nur so strotzte von überall herumfliegenden Notizen und unfertigen Projekten, dazu von massenhaft abstrusem Programmierkram – alles mögliche von längst veralteten Dienstprogrammen und Codeknackern, die sie nur für den Fall aufbewahrte, daß sie je wieder an ein entsprechendes System geriet, bis hin zu interessanten algorithmischen Darstellungen, die ihr in erster Linie eine ästhetische Befriedigung verschafften –, gab es bei Dread keinerlei Unordnung, nichts, was nicht absolut notwendig war, nichts, was den geringsten Hinweis auf seine Persönlichkeit gab.

Er ist hypervorsichtig. Einer von diesen analen Klemmtypen. Rollt wahrscheinlich alle seine Strümpfe auf die gleiche Art zusammen. Sie dagegen war ihre ganze Kindheit über der aggressiven Unkonventionalität ihrer Mutter ausgesetzt gewesen – morgens hatte die kleine Dulcinea Anwin für gewöhnlich nicht nur Teller mit vergammelnden Essenresten von der Dinnerparty des Vorabends wegräumen müssen, bevor sie sich auf der Küchentheke ihr Frühstück richten konnte, sondern hatte auch noch eine Runde durchs Haus gemacht, um die brennengelassenen Kerzen auszupusten und Gäste vor die Tür zu setzen, die an den unmöglichsten Orten eingeschlafen waren. Bei der Erinnerung daran wollte es ihr scheinen, als wäre ein strenger Ordnungssinn nicht die schlechteste Eigenschaft, die ein Mann haben konnte.

Nachdem sie das Haussystem ihres Projekts durchgecheckt und sich vergewissert hatte, daß es selbst mit den extremen Anforderungen, die Dread zur Zeit daran stellte, hervorragend fertig wurde, wollte sie gerade Dateien über einige Besonderheiten ihrer Expedition in das Gralssystem zur späteren näheren Betrachtung anlegen, als sie auf etwas Merkwürdiges stieß.

Es war eine Partition in Dreads eigenem System, eine Ausgliederung von Daten, aber das war nicht das Ungewöhnliche daran. Alle Systeme wurden aus Organisationsgründen unterteilt, und die meisten Leute, die viel direkt online arbeiteten, gestalteten ihre Systemenvironments genauso nach ihren individuellen Wünschen, wie sie ihre RL-Häuser einrichteten. Was sie von Dreads Ordnung gesehen hatte, war dagegen so unpersönlich, daß es sie beinahe beunruhigte: Zum Beispiel hatte er niemals eine der vorgegebenen Einstellungen, Namen oder Infrastrukturen des originalen Systempakets geändert. Es war ein bißchen so, als merkte man eines Tages, daß die Bilder auf dem Schreibtisch des Vorgesetzten noch die lächelnden Werbegesichter waren, die mit dem Rahmen verkauft worden waren. Nein, es war in keiner Weise ungewöhnlich, daß man seinen Speicher partitionierte. Aber das Interessante an dieser Partition war, daß sie unsichtbar war beziehungsweise sein sollte. Sie überprüfte die Verzeichnisse, aber es gab keinen Eintrag für den ziemlich umfangreichen geschützten Bereich, über den sie zufällig gestolpert war.

Eine kleine Geheimtür, dachte sie. Hallo, Mister Dread, du hast ja doch ein paar Sachen, die du gern für dich behalten würdest!

Es war irgendwie niedlich, wie wenn ein kleiner Junge sein Baumhaus versteckte. Für Mädchen verboten! Aber natürlich war Dread bei diesen Sachen ein Stümper und Dulcy ein Mädchen, vor dem sich nur außerordentlich schwer etwas verstecken ließ.

Sie zögerte, wenn auch nicht sehr lange, um sich davon zu überzeugen, daß sie es lassen sollte, daß ihr Boß nicht nur ein Recht auf sein Privatleben hatte, sondern zudem ein Mann war, der reichlich gefährliche Sachen für gefährliche Leute machte, Leute, denen ihre Sicherheit außerordentlich wichtig war. Aber Dulcy (die in solchen Streitgesprächen mit sich selbst fast immer den kürzeren zog) fand die Vorstellung leider eher stimulierend als abschreckend. Bewegte sie sich nicht selber in gefährlichen Kreisen? Hatte sie nicht vor wenigen Wochen erst einen Mann erschossen? Die Tatsache, daß sie regelmäßig Albträume deswegen hatte und jetzt wünschte, sie hätte eine Ausrede erfunden, um sich davor zu drücken – defekte Waffe, verriegeltes Türschloß, epileptischer Anfall –, bedeutete keineswegs, daß sie auf einmal mit den großen Jungs nicht mehr mithalten konnte.

Außerdem, sagte sie sich, ist es spannend, mal einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Zu sehen, womit er sich wirklich beschäftigt. Klar, kann sein, daß es bloß seine Konten sind. Wer ein solcher Pingel ist, dürfte es auch ziemlich genau damit nehmen, seine doppelte Buchführung zu vertuschen.

Aber das kleine bißchen Schnüffelarbeit, das sie sich gestattete, brachte nicht einmal ein Schlüsselloch zutage, von einem Schlüssel ganz zu schweigen. Falls es hinter der Tür irgend etwas Interessantes gab, würde sie es nicht so leicht herausfinden. Mit dem leisen Schamgefühl, das sie als junges Mädchen beim Durchstöbern der Schreibtischschubladen ihrer Mutter immer gehabt hatte, beseitigte sie alle Spuren ihrer Nachforschungen und ging aus dem System heraus.

 

Das Geheimfach ihres Auftraggebers piesackte sie eine halbe Stunde später immer noch, als sie vor seinem schlafenden Körper stand, der sich wie ein dunkler Edelstein in die weiße Polsterung des Komabettes schmiegte.

Es stimmt, ich weiß eigentlich gar nichts über ihn, dachte sie, während sie die schwerlidrigen Augen betrachtete, die winzigen Bewegungen der Iris zwischen den schwarzen Wimpern. Na ja, ich weiß, daß er nicht gerade der ausgeglichenste Mensch der Welt ist. Es war schwer, seine gelegentlichen Wutausbrüche zu vergessen. Aber er hat noch eine andere Seite, ruhig, wissend. Wie eine große Raubkatze oder ein Wolf. Dreads geballte Energie wirkte nicht ganz zivilisiert, da drängten sich einem Tiervergleiche auf.

Sie beobachtete gerade, wie seine kakaofarbene Haut den grellen Schein der Deckenbeleuchtung abtönte, als Dreads Augen urplötzlich aufgingen.

»Hallo, Süße«, sagte er grinsend. »Bißchen nervös heute, was?«

»Liebe Güte …!« Ihr blieb fast der Atem weg. »Du hättest mich vorher warnen können. Du hast dich fast vierundzwanzig Stunden nicht mehr gemeldet.«

»Viel zu tun«, sagte er. »Ziemlich was los.« Sein Grinsen wurde breiter. »Aber jetzt werde ich dir ein bißchen was zeigen. Komm zu mir.«

Es dauerte etwas, bis sie verstand, daß das keine Einladung war, zu ihm ins Komabett zu steigen – ein unangenehmer Gedanke, auch wenn die Gefühle, die der Mann in ihr auslöste, weniger ambivalent gewesen wären. Das leise Summen der Motoren und die ständige langsame Bewegung der Liegefläche ließen sie an ein Meerestier denken, vielleicht eine Auster ohne Schale. »Du meinst… im Netzwerk?«

»Klar, im Netzwerk. Du bist ein bißchen schwer von Kapee heute, Anwin.«

»Bloß ein paar tausend Dinge zu tun, sonst nichts, und nur zwei Stunden geschlafen.« Sie bemühte sich um einen unbekümmerten Ton, aber dieses locker flockige Teenagergefrotzel ging ihr langsam auf die Nerven. »Was soll ich tun …?«

»Du gehst rein wie ich und gleich auf volle Immersion, du wirst sie brauchen. Wenn du an den ersten Check kommst, ist dein Paßwort ›Nuba‹. N-U-B-A. Mehr nicht.«

»Was bedeutet das?«

Er schmunzelte wieder. »Das ist eins von unsern Aboworten, Süße. Kommt aus dem Norden, von Melville Island.«

»Und, ist es ein Schimpfwort oder sowas?«

»Nein, nein.« Er schloß die Augen, als wäre er schon am Wegträumen. »Einfach der Ausdruck für eine unverheiratete Frau. Das bist du doch, oder?« Er kicherte still belustigt vor sich hin. »Wir sehen uns, wenn du kommst.« Er erschlaffte sichtlich und sank in das System zurück wie ein ins Wasser eintauchender Schwimmer.

Sie merkte erst nach einer ganzen Weile, daß sie von dem Schreck seines plötzlichen Erwachens immer noch ein wenig zitterte. Als ob er mich beobachtet, dachte sie. Als ob er hinter mir steht, mich beobachtet und auf einen günstigen Moment wartet, »buh!« zu machen. Der Mistkerl.

Sie goß sich ein Glas Wein ein und trank es in zwei Zügen aus, bevor sie sich mit eingestecktem Faserkabel auf die Couch legte.

 

Dulcy hatte das Codewort kaum ausgesprochen, als das Nichts der ersten Systemebene schon abrupt Farbe und Tiefe gewann. Das Licht war im ersten Moment so blendend hell, daß sie sich fragte, ob sie direkt in die Sonne guckte. Dann schwang das mächtige Bronzetor vor ihr auf, und sie trat ein in das dunkle Innere.

Die Dunkelheit war nicht vollkommen: Ganz am hinteren Ende des Ganges waberte ein schwacher Schein, und sie ging darauf zu. Ein dumpfes Murmeln tönte ihr entgegen, ruhig und tief wie ein Ozean, der an einem Kieselstrand ausläuft. Als das Licht heller wurde und sie den großen Saal dahinter wahrnahm, einen düsteren Raum voll dichtgedrängter runder Gestalten, ähnlich einem Feld in die Erde eingesunkener Megalithen, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, in einen Traum hineingeraten zu sein. Ein Blick auf ihre nackten Beine und Füße, mit kräftigen Muskeln und dicken Ballen vom jahrelangen Tanzunterricht, sprach dagegen. Wer sah schon jemals im Traum seine eigenen Füße? Auch die Hände waren deutlich ihre eigenen, die Sommersprossen an den langen Fingern waren selbst in dem trüben Licht nicht zu übersehen.

Es ist ein Sim von … mir. begriff sie, während sie den großen Saal betrat.

Das Stimmengemurmel um sie herum schwoll an. Auf dem Fußboden des kolossalen Raumes knieten tausend Menschen, vielleicht mehr, deren rhythmische, geflüsterte Psalmodie zur hohen Decke aufstieg. Öllampen brannten in Nischen an den Wänden und erzeugten mit ihrem Geflacker einen Effekt wie aus den Anfangstagen der Filmtechnik. Zwischen den vorgebeugten Gestalten zog sich eine breite Lücke über den bleichen Marmor; keiner der Kauernden blickte auf, als Dulcy an ihnen vorbeiging.

Am hinteren Ende des Saales thronte eine stille, regungslose Figur auf einem Hochsitz wie eine Statue in einem heidnischen Tempel, ein langes, silbernes Szepter fest in der Hand. Die Erscheinung war übermannsgroß und hatte zwar einen menschlichen Körper, aber eine Haut, die tiefschwarz war und wie eine chinesische Lackarbeit glänzte. Auf dem Hals saß ein hundeartiger Kopf mit langer Schnauze und spitzen Ohren.

Als sie den Hochsitz fast erreicht hatte, verstummten die flüsternden Stimmen. Das Hundewesen hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen wie im Schlaf und die Schnauze auf den mächtigen Brustkasten gelegt, so daß sie schon dachte, es wäre tatsächlich eine Statue, als unvermittelt die großen gelben Augen aufklappten.

Gleichzeitig brüllten sämtliche knienden Gestalten wie aus einer Kehle: »Hallöchen. Dulcy!« Das tausendstimmige Echo donnerte durch den Saal und übertönte ihren erschrockenen Aufschrei. »Verdammt hübsch siehst du heute aus«, fügten sie hinzu, laut wie Artilleriefeuer, mechanisch wie eine Lochpresse.

In der wieder eintretenden Stille machte sie einen taumelnden Schritt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Mischwesen auf dem Hochsitz stand auf und verzog das Maul zu einem langzähnigen, spöttischen Grinsen. Es war fast drei Meter groß. »Na, gefällt’s dir? Das ist meine Art, herzlich willkommen zu sagen.«

Ich frage mich, ob man sich in der VR in die Hose pinkeln kann. Aber sie sprach diesen Gedanken nicht aus, sondern sagte: »Reizend. Hat mich bloß ein paar Jahre älter gemacht.«

»Was erwartest du vom Herrn über Leben und Tod – Blumen? Singen und Tanzen? Warte, auch das läßt sich machen.« Er hob das silberne Szepter, und augenblicklich begann es Rosenblätter von der Decke zu schneien. Unter großem Scharren und Murmeln standen die Massen kahlgeschorener Priester aus ihrer knienden Haltung auf und fingen schwerfällig zu tanzen an. »Hättest du gern ’ne bestimmte Musik?«

»Ich will gar nichts.« Dulcy blickte durch das Blütengestöber zu ihm auf und versuchte das irritierende Spektakel von tausend Priestern zu ignorieren, die mit stierem Blick und Sandalen an den Füßen spastisch auf dem Tempelparkett herumhampelten. »Was ist das hier für ein Laden?«

»Das ist die zweite Heimat des Alten Mannes.« Er winkte, und die Priester ließen sich wieder auf dem Boden nieder. Die letzten paar Rosenblätter schwebten herab. »Seine Lieblingssimulation – heißt, glaub ich, Abydos. Altägypten.«

Es war ihr ganz und gar nicht geheuer, eine Unterhaltung mit einem schakalköpfigen Mann zu führen, der fast doppelt so groß war wie sie, einer Figur wie aus einem Horrorspiel oder einem interaktivem Theaterstück. »Der Alte Mann – damit meinst du deinen … Arbeitgeber, nicht wahr? Und wen stellst du dar? Bello, den Wunderhund?«

Er bleckte wieder die Zähne. »Das ist der Sim, den ich hier immer getragen habe. Klar, damals hab ich noch Befehle empfangen, aber heute bin ich es, der sie gibt.« Er hob die Stimme. »Rollt euch auf den Rücken! Stellt euch tot!« Die Priester warfen sich auf den Bauch, wälzten sich einmal herum und blieben dann bewegungslos liegen, Knie und Ellbogen in die Luft gereckt. »Ich find’s irgendwie amüsant, vor allem wenn ich mir vorstelle, wie stinksauer der alte Wichser darüber wäre.« Er deutete auf einen der am nächsten liegenden Priester, und dieser sprang umgehend auf, tappelte hastig vor den Thron und fiel wieder nieder. Dulcy musterte den Sim neugierig. Er sah tatsächlich wie ein richtiger Mensch aus, bis hin zum Schweißglanz auf seinem kahlen Schädel. »Das ist Dulcy«, erklärte Dread dem Priester. »Du liebst sie. Sie ist deine Göttin.«

»Ich liebe sie«, leierte der Priester, obwohl er den Gegenstand seiner unverhofft aufgeflammten Zuneigung noch nicht einmal angeschaut hatte. »Sie ist meine Göttin.«

»Würdest du alles für sie tun?«

»Das würde ich, o Herr.«

»Dann zeig ihr, wie sehr du sie liebst. Los!«

Der Priester rappelte sich auf – er gehörte zu den Dicken, Älteren und war ein wenig kurzatmig – und watschelte zu einer der Wandnischen. Zu Dulcys Entsetzen griff sich der Mann die Öllampe und schüttete sich ihren Inhalt über den Kopf; er stand augenblicklich in Flammen. Sein weißes Gewand fing Feuer und brannte lichterloh. Sein runder Kopf schien in einem feurigen Glorienschein zu schweben. »Ich liebe dich, meine Göttin«, krächzte er, während sein Gesicht schon schwarz wurde.

»Um Gottes willen, halt! So lösch ihn doch! Halt!« kreischte sie.

Dread drehte ihr verwundert sein langmäuliges Gesicht zu und hob dann sein Szepter. Die lodernde Gestalt verschwand. Alle anderen Priester lagen weiterhin auf dem Rücken wie tote Heuschrecken auf einem Feld. »Menschenskind, Mädel, die sind bloß Code.«

»Mir egal«, versetzte sie. »Das heißt noch lange nicht, daß ich sowas sehen will.«

Die Schakalgestalt verschwand, und auf der obersten Stufe des Podestes stand jetzt Dread in seiner normalen Größe und weit geschnittener schwarzer Kleidung. »Ich wollte nicht, daß du ausflippst, Süße.« Es klang eher unwirsch als reuig.

»Irgendwie …« Sie schüttelte den Kopf. »Was wird hier eigentlich gespielt? Du hast gesagt, der … Alte Mann wäre hier zuhause. Wo ist er? Was hast du die ganze Zeit hier im System getrieben?«

»Och, dies und das.« Sein menschliches Grinsen war nur geringfügig weniger raubtierhaft. »Später erklär ich dir mehr, aber zuerst will ich dich ein bißchen rumführen. Nur zum Vergnügen.«

»Ich will keine brennenden Priester mehr sehen, vielen Dank.«

»Es gibt jede Menge interessantere Sachen zu sehen.« Er streckte die Hand in die Luft, und das silberne Szepter schrumpfte zu einem kleinen silbernen Zylinder zusammen. »Auf, gehen wir.«

»Das ist ja das Feuerzeug!« rief sie. »Was …?«

Aber die hohe Halle von Abydos-Olim und seine tausend unterwürfigen Priester waren bereits verschwunden.

 

Es war eine richtige Führung. Nach der ersten Station, den Straßen des kaiserlichen Rom, die von den Schreien fliegender Händler und den vom Tiber heranwehenden Schweiß- und Uringerüchen erfüllt waren, versetzte Dread sie auf eine afrikanische Ebene in der glühenden Nachmittagshitze, wo sich fremdartige, elefantengroße Tiere tummelten, die Dulcy noch nie gesehen hatte, und dann in rascher Folge in die Pflaumengärten eines ganz offensichtlich mythischen China, an eine Steilwand mit Blick über einen Wasserfall, der eine Meile oder mehr in die Tiefe stürzte, und zuletzt in die weiße Eiswüste des äußersten Nordens, wo das zuckende Polarlicht am Himmel spielte wie ein in Zeitlupe wiedergegebenes Feuerwerk.

»Mein Gott«, sagte sie und betrachtete dabei, wie ihr Atem als Dunstfahne in der Luft hing, »das ist umwerfend! Klar, ich wußte, daß es viele Simwelten gibt, einige haben wir ja durch den Quan-Li-Sim gesehen, aber …« Sie zitterte, doch kaum vor Kälte. Irgendein in die Simwelt eingebauter Trick oder Dreads Kontrolle darüber sorgte dafür, daß die Temperatur sich nicht kühler anfühlte als ein lauer Frühlingsabend. »Und du kannst einfach überall hingehen …?«

»Überall hingehen, alles machen.« Sein Lächeln war jetzt nur noch angedeutet, der Ausdruck der sprichwörtlichen Katze vor dem leeren Vogelbauer. Er rollte das Feuerzeug zwischen den Fingern. »Dieses Ding brauche ich bald nicht mehr. Und auch du kannst alles machen, was du willst, wenn du hübsch brav bist und mich zufriedenstellst.«

Sie spürte ein warnendes Kribbeln. »Und was genau heißt das …?«

»Daß du deine Arbeit machst. Nicht auf dumme Gedanken kommst.« Er durchbohrte sie mit einem Blick, bei dem ihr höchst unwohl wurde. Ihr war zumute, als ob ihr Versuch, sich in seinen versteckten Speicher einzuschleichen, ein Stigma auf ihrer Stirn hinterlassen hätte. »Du machst dir keine Vorstellung, was ich hier laufen habe.«

Ihre Augen überflogen die endlosen Eisflächen, die schimmernden Nordlichter. »Aber was ist mit deinem Arbeitgeber? Wo ist er geblieben? Wie kommt es, daß du auf alles Zugriff hast…?« Neben ihnen ertönte ein dumpfes Knirschen, und ein Eisstück von der Größe eines Fußballplatzes verschob sich und reckte eine rauhe Bruchkante in die Höhe, wodurch sich die ganze Platte, auf der Dulcy und Dread standen, zur Seite neigte. Sie stöhnte ängstlich auf, schwankte und legte Halt suchend die Hand auf Dreads Arm.

Seine Augen blitzten. »Keine Bange«, sagte er, obwohl er sich an ihrer Unsicherheit zu weiden schien. »Selbst wenn du hier stirbst, passiert dir nichts weiter, als daß du offline befördert wirst. Wir sind die einzigen, die noch frei rein- und rausgehen können.«

»Was ist mit den Besitzern? Wie hießen sie nochmal – die Gralsbrüder?«

Er zuckte mit den Achseln. »Die Verhältnisse haben sich ein wenig geändert.«

»Und du kannst das System steuern? Du kannst ihm Befehle geben?«

Er nickte. Er war stolz wie ein Kind, und Dulcy erkannte, daß er genau wie ein Kind darauf aus war, sich wichtig zu machen. »Gibt’s was, das du gern sehen würdest?«

»Hast du dann diese andern Leute aus dem Netzwerk rausgelassen?«

»Andere Leute…?«

»Die, mit denen wir unterwegs waren – Martine, T4b, Sweet William. Wenn du den Zugang zum Netzwerk kontrollieren kannst, dann müßtest du sie auch freilassen können …« Sie merkte plötzlich, daß sie ihr fehlten. Nachdem sie mehrere Wochen tagaus, tagein mit ihnen gelebt hatte, kannte sie sie besser als die meisten Menschen in ihrem wirklichen Leben. Sie waren so in Not gewesen, so gehetzt und ohne Ausweg …

Dreads ausdrucksloser Blick war noch kälter und distanzierter geworden. Sie zog ihn am Ärmel. »Du läßt sie doch raus, nicht wahr?« Als er keine Antwort gab, zupfte sie noch einmal. Er riß den Arm mit einer blitzschnellen, heftigen Bewegung weg, die sie beinahe umgeworfen hätte.

»Still!« herrschte er sie an. »Da benutzt jemand den Hauptsendekanal.«

An seinen winzigen Lippenbewegungen erkannte sie, daß er subvokal mit einem unsichtbaren Gegenüber kommunizierte. Die weiße Welt ringsherum war vollkommen still bis auf das tiefe Scheuern des Eises. Ein Lächeln verzog ganz langsam sein Gesicht. Er schien noch einmal etwas zu sagen, dann huschten seine Finger kurz über das Feuerzeug. Mit leuchtenden Augen wandte er sich ihr wieder zu.

»Entschuldige die Störung. Eine Sache, der ich später nachgehen muß.« Er nickte. »Wo waren wir grade?«

»Bei den andern, den Leuten, die vom Gral online festgehalten werden.«

»Ach ja, richtig. Leider war ich bis jetzt zu beschäftigt, um nach Martine und den andern zu sehen. Aber sie kommen als nächstes dran. Du hast recht, ich muß mich um sie kümmern.« Er schloß einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, wirkte seine eigenartige Euphorie gedämpft, als hätte er Asche auf eine Glut gelegt. »Komm, eine Sache wollen wir uns noch ansehen.«

Bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, waren die Eiskappen des Nordpols fort, und die beiden schwebten hoch über der ungeheuren Weite eines Ozeans. Die Sonne sank auf den Horizont zu und verzierte die Wellenkämme mit kupferroten Rändern, doch ansonsten war nirgends etwas zu sehen, nicht einmal Seevögel.

»Was ist…?« begann sie, doch er brachte sie mit einer jähen Handbewegung zum Schweigen.

Eine Weile hingen sie über dem endlosen Grün, da bemerkte Dulcy auf einmal eine Veränderung in dem Wellenmuster direkt vor ihnen, ein Brodeln, das zunehmend Unruhe in das gleichmäßige Rollen der Wogen brachte. Während sie mit offenem Mund zusah, wurde aus dem Brodeln ein wildes Aufkochen, hundert, zweihundert Meter hohe Fontänen schossen empor und schleuderten Gischtmassen in die Luft, und als ob ein riesenhaftes U-Boot eine Rakete abgefeuert hätte, durchstach der erste Turm das wütende Meer.

Es dauerte mehr als eine Stunde, und die meiste Zeit über war Dulcy von dem sich vor ihr entfaltenden Schauspiel vollkommen gebannt. Die Stadt stieg mit einem Donnerbranden aus dem Wasser auf, als ob die Erde selbst unter Schmerzen gebären würde – zuerst die Spitzen der höchsten Gebäude, über und über mit langen Seetangriemen behängt, gleich darauf die Mauern der Zitadelle mit einem Panzer aus Entenmuscheln, die naß in der Sonne glitzerten. Nach der Zitadelle, von deren Dächern und Zinnen ungeheure Wassermassen herabstürzten und den Ozean zu weißem Schaum schlugen, so weit sie blicken konnte, kam der Berg zum Vorschein mit dem Rest der daran klebenden Stadt, deren Straßen nach Jahrtausenden auf dem Meeresgrund im Licht glänzten.

Als es vorbei war und die gewaltige leere Hülse der Insel Atlantis wieder aus den Tiefen emporgekommen war, legte Dread kameradschaftlich den Arm um Dulcys bebende Schultern und beugte sich dicht an ihr Ohr.

»Sei klug«, flüsterte er, »und eines Tages wird das alles dir gehören.« Er tätschelte ihren Hintern. »Ich werd’s sogar für dich abtrocknen. Gut, wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich hab noch was Dringendes zu erledigen. Mach keine Dummheiten, und paß auf, daß bei mir zuhause nichts anbrennt oder sowas, okay? Tschüs.«

Einen Augenblick später fand sie sich mit verkrampften Muskeln und dröhnendem Schädel in der ausgebauten Fabriketage in Redfern auf der Couch wieder. Am anderen Ende des Raumes lag Dreads regungslose Gestalt wie eine feierlich aufgebahrte Leiche.

Erst als sie geduscht hatte und ihr zweites Glas Wein an diesem Nachmittag trank, kam ihr der Gedanke, daß sie gerade das wohl irrsinnigste erste Rendezvous aller Zeiten gehabt hatte.

 

 

> »Komm mal her, Schätzchen«, sagte Catur Ramsey zu dem kleinen Mädchen. »Komm, guck dir die Giraffen an.«

Sie sah ihn zweifelnd an, dann ihren Vater, der auf der anderen Seite der Suite stand. Sorensen nickte, und sie kam herbei und hockte sich mit angezogenen Beinen neben Ramsey auf die Couch. Er nahm den Hotelführer und berührte das Bild des tansanischen Urlaubsparadieses. Augenblicklich wurde das Bild lebendig. Ramsey stellte den Ton ab. »Siehst du, wie groß sie sind?« fragte er sie. »Sie fressen die Blätter ganz oben in den Baumwipfeln.«

Christabel runzelte die Stirn, und ihre Wimpern überschatteten ihre großen ernsten braunen Augen. Er merkte ihr an, daß sie nervös war, aber sich alle Mühe gab, es nicht zu zeigen. Catur Ramsey war aufs neue beeindruckt, wie gefaßt dieses kleine Mädchen sich verhielt. »Tut ihnen der Hals weh, wenn sie sich so strecken?« fragte sie.

»Aber nein. So wenig wie es dir weh tut, wenn du dich ausstreckst und etwas vom Regal holst. Dazu sind sie geboren.«

Sie biß sich auf die Lippe, während die Broschüre weiterschaltete auf eine glücklich und wohlhabend aussehende junge Familie, die auf der Veranda über einer Wasserstelle zu Abend aß, während Impalas und Zebras elegant durch die Scheinwerferkegel huschten, die das Veld ausleuchteten.

Ramsey ging es nicht besser als ihr. Er beäugte sein Pad und wünschte, er könnte noch einen Anrufversuch machen, aber der kleinere der beiden Männer in Schwarz, der namens Pilger – kleiner, aber trotzdem gut eins fünfundachtzig und mit Muskeln wie ein Profiringer –, beobachtete ihn genau, auch wenn sein breites Gesicht täuschend gleichgültig wirkte. Ramsey war wütend auf sich, daß er seine T-Buchse nicht dabeihatte.

Christabels Vater hatte sich in die Kitchenette der Suite begeben und machte sich an den Sensorreglern der Kochzeile zu schaffen. Der andere Leibwächter des Generals, der Schrank namens Doyle, blickte von dem Fußballspiel auf, das er gerade auf der Bildschirmwand verfolgte. »Was machst du da?« fragte er.

»Ich mache meiner Tochter eine Tasse Kakao, sonst nichts«, antwortete Sorensen grimmig, aber Ramsey sah, daß seine Körpersprache nicht dazu paßte. Er hatte keine Ahnung, was der Major vorhaben mochte, aber er hoffte sehr, daß die Männer in Schwarz nicht genau achtgaben. Andererseits hoffte er auch, daß Sorensen keine Heldentat beabsichtigte – Doyle und Pilger waren bis an die Zähne bewaffnet, und auch Sorensens Freund Captain Parkins, der in seiner Uniform steif in einem Sessel saß und finster auf den Fußboden starrte, hatte seine Dienstwaffe. Schließlich war es Parkins gewesen, der sie festgenommen hatte, und jetzt mußten sie wohl oder übel auf diesen General Yacoubian warten. Damit waren es drei bullige Männer mit Schießeisen gegen ihn und Sorensen, beide unbewaffnet, und ein kleines Mädchen, das wahrscheinlich noch nicht einmal die Stützräder vom Fahrrad abhatte.

»Papi«, sagte Christabel unvermittelt, da sie bei der fünften Wiederholung der Szene, wie eine Löwin ein Weißschwanzgnu zur Strecke brachte, kein Interesse mehr heucheln konnte, »wann können wir heimgehen? Ich will zu Mami.«

»Bald, Liebes.«

Sorensen stand immer noch mit dem Rücken zu ihnen und wartete darauf, daß das Wasser kochte, und Ramsey überlief ein Schauder. Doyle und Pilger mochten den Anschein erwecken, daß sie einfach nur ihren Job machten, aber Ramsey kannte die Sorte, von den Militärstützpunkten seiner Jugend ebenso wie von den Polizeikneipen, in denen er als Erwachsener manchmal beruflich zu tun hatte. Ganz zu schweigen davon, daß bei einem Körperbau wie ihrem vermutlich die Stoffwechselfunktionen optimiert worden waren. Bei Doyle hatte das Weiß der Augen auf jeden Fall einen starken Stich ins Gelbe, was alle möglichen unappetitlichen Gründe haben konnte. Wenn er nach einem der militärischen Biomodprogramme behandelt worden war, dann konnte Sorensen ihm einen Topf mit kochendem Wasser überschütten, und trotzdem war der Leibwächter ungeachtet der Schmerzen und der Verbrennungen dritten Grades noch imstande, mehrere Hälse zu brechen.

Mannomann, flehte Ramsey im stillen. Major, mach jetzt bitte bloß keine Dummheit!

Er fragte sich allmählich, auf was für eine Geschichte er sich da eigentlich eingelassen hatte. Yacoubian wußte offensichtlich etwas, das Sorensen eine Heidenangst einjagte – der Mann war kreidebleich geworden, als der General irgendeine Brille erwähnt hatte –, und niemand von ihnen konnte sich ohne die Erlaubnis des Generals irgendwo hinbegeben. Ramsey ärgerte sich, daß er nicht ausgiebiger mit Sorensen hatte reden können und nicht einmal den mysteriösen Sellars kennengelernt hatte, bevor die Sache aufgeflogen war. Es war, als wäre er unvorbereitet in einen großen Mordprozeß hineinspaziert und hätte dann feststellen müssen, daß er der Angeklagte war.

Seine nervösen Gedanken wurden von Christabel unterbrochen, die an ihm vorbei auf ihren Vater zulief. Sorensen drehte sich um und winkte sie weg. »Es ist heiß, Christabel«, sagte er scharf. »Ich bringe ihn dir, wenn er fertig ist.«

Ihr Gesicht verzog sich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ramsey sah hilflos zu Captain Parkins hinüber, der immer noch grimmig auf den blauen Teppich starrte, als ob der ihm irgend etwas getan hätte, dann ging er hin, nahm sie an der Hand und führte sie zur Couch zurück. »Schon gut, Schätzchen. Setz dich zu mir. Erzähl mir was aus deiner Schule. Wer ist deine Lehrerin?«

Im hinteren Raum tat es einen Rums. Ramsey hatte kurz den Eindruck, die zornig erhobene Stimme des Generals zu hören. Die beiden Leibwächter wechselten einen raschen Blick und wandten sich wieder dem Spiel zu. Ramsey fragte sich, mit wem der General wohl konferierte und warum ihm das wichtiger war, als Sorensen zu verhören. Der Mann hatte zweifellos viel Aufwand getrieben, um den Vater des Mädchens ausfindig zu machen: Merkwürdig, daß er dann die Angelegenheit eine halbe Stunde und mehr hinausschob. Ramsey guckte auf die Bildschirmwand. Eher eine Stunde. Was war da im Busch?

Etwas knallte hart gegen die Verbindungstür, als ob jemand sie mit einem Schlitten angebufft hätte. Die verblüffte Frage, warum eine solche Luxussuite dermaßen dünne Türen hatte, daß sie in den Angeln wackelten, wenn jemand während einer hitzig geführten Fonkonferenz nur mit der Faust dagegenschlug, hatte sich kaum in Ramseys Kopf gebildet, als Doyle schon aufgesprungen war. In zwei Riesensätzen hatte er den Raum durchquert, genauso beängstigend schnell, wie Ramsey es befürchtet hatte, und stand jetzt horchend vor der Tür zum Privatzimmer des Generals. Er klopfte zweimal laut an.

»General? Alles in Ordnung?« Er warf einen kurzen Blick auf Pilger, der sich ebenfalls erhoben hatte, dann klopfte er wieder. »General Yacoubian? Brauchst du irgendwie Hilfe, Sir?« Er lehnte sich an die Tür und lauschte angestrengt auf eine Antwort. Als nichts zu hören war, schlug er wieder gegen die Tür, diesmal mit der flachen Hand. »General! Mach auf, Sir!«

»Was machen die da?« fragte Christabel und fing wieder an zu weinen. »Warum schreien sie so …?«

Doyle ging einen Schritt zurück, hielt sich an Pilgers Schulter fest, hob den Fuß und trat mit dem Stiefel gegen die Tür, daß es krachte. »Verriegelt«, knurrte er. Das nächste Mal traten sie beide gleichzeitig, und mit lautem Splittern stürzte die Tür nach innen. Pilger riß sie aus den zerbrochenen Angeln, während Doyle die große Maschinenpistole aus seinem Schulterhalfter zog und hineinging, die Waffe bereits im Anschlag, bevor er aus Ramseys Blickfeld verschwand.

Gleich darauf tönte seine Stimme aus dem Zimmer. »Scheiße!«

Pilger folgte ihm, ebenfalls mit schußbereiter Waffe. Ramsey wartete einen Moment. Als kein Feuern zu hören war, erhob er sich und bewegte sich vorsichtig auf die Tür zu, um einen Winkel bemüht, aus dem er erkennen konnte, was los war. Captain Parkins beugte sich mit offenem Mund in seinem Sessel vor.

»Christabel!« schrie Sorensen irgendwo hinter ihm. »Nicht aufstehen! Du bleibst auf dieser Couch, klar?«

Doyle lehnte über dem Körper von General Yacoubian, der zwischen der Tür und dem großen Bett der Suite langgestreckt auf dem Boden lag; sein Bademantel war an den Beinen hochgerutscht und über seiner weißbehaarten Brust offen. Die dunkle Haut des Mannes hatte einen unschönen Grauton angenommen. Die Zunge hing ihm aus dem Mund wie ein Scheuerlappenzipfel. Doyle hatte mit Herz-Lungen-Wiederbelebung begonnen. Einen surrealen Augenblick lang fragte sich Ramsey, wie der Leibwächter in den paar Sekunden so heftig hatte drücken können, daß auf der Brust des Generals dieser dicke blaue Fleck entstanden war.

»Ambulanz in die Garage!« stieß Doyle zwischen den Zähnen hervor. »Der geht uns sonst drauf, Mensch. Und hol den Medkoffer!«

Pilger sprintete bereits in den Vorraum zurück und drückte mit dem Finger auf die Buchse in seinem Hals. Er brabbelte hastig eine Codefolge ins Leere, dann fuhr er jäh herum und schwenkte die Pistole durch den Raum. »Auf den Boden legen, alle! Sofort!« Ohne abzuwarten, ob sein Befehl befolgt wurde, kniete er sich hin und zog einen schwarzen Handkoffer unter der Couch hervor, den er eilig ins Nebenzimmer brachte. Er ließ die Schließen aufschnappen und schob ihn Doyle hin, der immer noch den General bearbeitete; bei jedem Stoß hüpfte Yacoubian auf dem Teppich in die Höhe. Pilger zog eine Spritze aus einem Innenfach des Koffers. Als er die Aufschrift prüfte, sah er Ramsey in der Tür stehen. Die Pistole in der anderen Hand zuckte hoch.

»Verdammte Scheiße, auf den Boden mit euch, hab ich gesagt!«

»Papi?« Weiter hinten im Hauptraum der Suite weinte Christabel. »Papi!«

Während Catur Ramsey zurückwich und wie gebannt auf das erschreckend große Loch am Ende von Pilgers Pistolenlauf starrte, sah er aus dem Augenwinkel etwas aufflammen. Er zuckte zusammen, aber kein Schuß ertönte. Als er nach rechts blickte, bot sich ihm ein völlig absurdes Bild: Major Michael Sorensen stand auf einem Stuhl in der Küche der Suite und hielt mit einer Eiszange eine brennende Serviette. Er streckte sie zur Decke empor, so daß er aussah wie eine alberne Parodie der Freiheitsstatue mit ihrer Fackel.

»Alle Mann hinlegen, hab ich gesagt!« brüllte Pilger, der dieses unerklärliche Schauspiel nicht sehen konnte. Während Doyle die Spritze mitten in die dunkle Stelle auf Yacoubians Brust jagte, zielte Pilgers Waffe zwischen den Türpfosten hin und her und richtete sich dann auf Ramseys Knie. Ein Rappeln ertönte, dann ein Zischen.

Plötzlich fiel violetter Schnee.

Die Platten an der Decke hatten sich zurückgeschoben wie Jalousien. Dutzende von Düsen fuhren aus und spuckten blaßviolette Wolken feuerhemmenden Pulvers. Die Lichter im Raum begannen hektisch zu blinken, und ein schmerzhaft lautes Summen erfüllte die Luft. Sorensen sprang an Ramsey vorbei, riß seine Tochter vom Boden hoch und sauste mit ihr zur Fahrstuhltür, wo er wie wild auf den Knopf drückte, immer wieder.

Doyle war gerade damit beschäftigt, ein zweites Defibrillationspflaster auf die immer noch regungslose Brust des Generals zu kleben, aber Pilger kam mit vorgehaltener Waffe aus der Tür, heftig mit dem Arm wedelnd, damit er durch den dichten bunten Nebel etwas erkennen konnte. Er setzte Major Sorensen die Pistole an den Hinterkopf, nur Zentimeter von Christabels entsetztem Gesicht entfernt. »Du willst doch nicht, daß es so mit dir endet, oder?« fauchte er. »Daß dein Gehirn voll über dein kleines Mädchen spritzt? Weg von der Tür und hinlegen!«

»Nein. Niemand wird hier so enden.« Captain Ron Parkins hatte ebenfalls seine Waffe gezogen und richtete sie auf Pilgers Kopf. Parkins’ Gesicht war rot vor bebender Wut. »Wir werden uns nicht von euch Dreckskerlen um die Ecke bringen lassen, wer ihr auch sein mögt. Ich bin für diese Leute verantwortlich, nicht ihr. Kümmert ihr euch um den General. Wir gehen.«

Während alle schwiegen und nur der Alarmton dumpf vor sich hinbrummte, ging plötzlich die Fahrstuhltür auf. Ramsey, dem Pilger und Captain Parkins den Weg in die Freiheit versperrten, tat alles, um seinen rasenden Herzschlag zu bezähmen. Das Atmen wurde bereits mühsam, und obwohl der größte Teil des violetten Pulvers sich auf den Boden gelegt hatte, fühlte er, daß die noch in der Luft hängenden Reste den größten Niesausbruch aller Zeiten auszulösen drohten. Das wäre die Krönung, dachte er. Niesen und damit eine Schießerei verursachen.

»Laß uns gehen«, sagte Sorensen beherrscht, obwohl er immer noch Pilgers Pistole am Hinterkopf hatte. »Der General ist tot. Auch wenn noch mehr von euren Leuten kommen, um euch aus der Patsche zu helfen, ist jetzt der Feueralarm losgegangen. Bald werden jede Menge andere hiersein, die nicht von euch gekauft sind. Mach dir nichts vor. Er ist tot. Der Aufwand lohnt sich nicht mehr.«

Pilger starrte ihn an, dann blickte er rasch zur Seite auf die silbrige Mündung von Captain Parkins’ Waffe. Seine Oberlippe kräuselte sich. Er senkte die Pistole, drehte sich um und ging zurück ins Nebenzimmer, ohne sie noch einmal anzusehen. Dort drehte Doyle gerade den Knopf des Defibrillators, und der Körper des Generals krümmte sich auf dem Fußboden. Ramsey mußte sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle ohnmächtig umzukippen.

 

»Steigt hier aus!« knurrte Captain Parkins. Fünf Meilen von dem Hotel entfernt hatte der Armeewagen vor der Bahnstation angehalten. »Ihr könnt euch ein Taxi nehmen, einen Zug, was ihr wollt. Aber haut bloß ab!«

»Ron, dank dir, Mann, danke.« Sorensen half seiner Tochter aussteigen. Die beiden jungen Soldaten, die sich alle Mühe gegeben hatten, sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen, als drei Männer und ein Mädchen, von Kopf bis Fuß violett bepudert, aus dem Fahrstuhl gekommen waren, setzten sich etwas gerader hin.

»Ich will nichts wissen«, sagte Parkins bissig. »Aber selbst wenn ich deswegen meine Streifen verliere, ich … ich konnte einfach nicht…«

»Ich glaube nicht, daß du je wieder was davon hören wirst, Ron. Wenigstens nicht über die offiziellen Kanäle.« Er bürstete etwas von dem Pulver aus Christabels Haaren, und sie blickte rasch auf, wie um sich zu vergewissern, daß es seine Hand war, nicht die eines Fremden. »Glaub mir, du willst bestimmt nicht mehr über diese Angelegenheit wissen, als du mußt.«

»Nein, bestimmt nicht.«

Ramsey stieg neben ihnen aus. Er konnte es immer noch nicht fassen, daß er am Leben und wieder in Freiheit war. »Vielen Dank, Captain. Du hast uns das Leben gerettet.«

Parkins warf entnervt die Hände in die Luft. »Herrrr-je!« Er wandte sich an Sorensen. »Macht… Mike, gib auf deine Frau und dein Töchterchen acht. Wenn ich mir’s recht überlege, kann es sein, daß ich eines Tages doch eine Erklärung von dir verlangen werde. Was meinst du?«

Major Sorensen nickte. »Sobald ich selber durchblicke, bist du der erste, der es erfährt.«

Christabel zitterte trotz der warmen Sonne vor dem Bahnhof. Als das Militärfahrzeug abfuhr, zog Ramsey seine Windjacke aus, schüttelte eine bunte Staubwolke heraus und legte sie ihr über die Schultern. Erst als er den beiden zum Taxistand folgte, merkte er, daß er genauso heftig zitterte wie das Mädchen.

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
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