Kapitel 11
Den folgenden Vormittag verbrachten Dundridge und Hoskins im Regionalen Planungsamt mit dem Studium von Landkarten und Gesprächen über den Tunnel. Dundridge war ziemlich erstaunt, daß Hoskins eine Sinnesänderung durchgemacht hatte und das Projekt jetzt auf einmal guthieß. »Es ist eine geniale Idee. Schade, daß wir nicht früher daran gedacht haben. Hätte uns endlose Scherereien erspart«, sagte Hoskins; Dundridge hingegen fühlte sich geschmeichelt, war aber nicht mehr so überzeugt. Inzwischen hatte er so seine Zweifel, ob ein Tunnel wirklich durchsetzbar war. Das Ministerium würde von den Kosten nicht gerade begeistert sein, die Verzögerung wäre ernorm, und dann mußte immer noch Lord Leakham überredet werden. »Glauben Sie nicht, daß wir eine Ausweichstrecke finden könnten?« fragte er, doch Hoskins schüttelte den Kopf.
»Es läuft auf die Cleene-Schlucht, auf Ottertown oder auf Ihren Tunnel heraus.« Beim Kartenstudium mußte Dundridge zugeben, daß es keine andere Strecke gab. Abgesehen von der Schlucht erstreckten die Cleene-Berge sich ohne Unterbrechung von Worford bis Ottertown.
»Die Leute machen ja ein lächerliches Theater um dies Stückchen Wald«, beschwerte sich Dundridge. »Sind doch bloß Bäume. Was ist denn so besonders an Bäumen?« Sie aßen in einem Restaurant in der River Street zu Mittag. Auf ein Paar in den Dreißigern, das am Nebentisch saß, schien Dundridge eine gewisse Faszination auszuüben, und wenn er aufschaute, bemerkte er mehr als einmal, daß ihn die Frau mit einem leisen Lächeln musterte. Sie war recht attraktiv und hatte mandelförmige Augen.
Nachmittags nahm Hoskins ihn mit auf eine Fahrt entlang der zur Diskussion stehenden Strecke durch Ottertown. Sie besichtigten die Sozialbauten und fuhren auf dem Rückweg über Guildstead Carboneil; dabei hielt Hoskins immer mal wieder an und bestand darauf, daß sie irgendwelche Hügel erklommen, um einen besseren Blick auf die eventuelle Strecke zu bekommen. Als sie schließlich wieder in Worford eintrafen, war Dundridge fix und fertig. Außerdem war er ziemlich betrunken. Sie waren unterwegs in etliche Kneipen eingekehrt, und da Hoskins darauf bestand, Halbe seien was für Männer, und nur Knaben tränken kleine Biere – wobei seine Stimme bei Knaben einen ziemlich unangenehmen Tonfall annahm –, hatte Dundridge weit mehr Handyman Triple XXX zu sich genommen, als er gewohnt war. »Wir haben heute abend eine kleine Fete im Golf Club«, sagte Hoskins, als sie durchs Stadttor fuhren. »Wenn Sie mal reinschauen möchten ...«
»Ich glaube, ich gehe heute früh zu Bett«, sagte Dundridge. »Schade«, meinte Hoskins. »Sie könnten eine Reihe einflußreicher Leute aus der Gegend kennenlernen. Ist gar nicht ratsam, wenn die Einheimischen den Eindruck kriegen, man sei hochnäsig.«
»Also schön«, sagte Dundridge widerwillig. »Ich werde ein Bad nehmen, etwas essen und dann weitersehen.«
»Bis später dann, alter Junge«, sagte Hoskins, als Dundridge aus dem Auto stieg und in sein Zimmer im Handyman-Wappen ging. Ein Bad und eine warme Mahlzeit – danach ginge es ihm vielleicht wieder gut. Als er aus der Wanne stieg, wo er kurzzeitig in das lauwarme Badewasser getaucht war – der Durchlauferhitzer weigerte sich immer noch, ordentlich zu funktionieren –, fühlte er sich besser. Er aß zu Abend und entschied, daß Hoskins wahrscheinlich recht habe. Es könnte durchaus nützlich sein, einige der einflußreicheren Einheimischen kennenzulernen. Dundridge stieg in seinen Wagen und fuhr zum Golf Club.
»Freut mich sehr, daß Sie es möglich gemacht haben«, sagte Hoskins, als Dundridge sich durch das Gedränge bis zu ihm vorgearbeitet hatte. »Wie heißt Ihre Droge?« Dundridge gab einen Gin Tonic in Auftrag. Für heute hatte er genug Bier getrunken. Um ihn herum riefen sich große Männer etwas über Doglegs auf dem Dritten und Wasserhindernisse auf dem Fünften zu. Dundridge kam sich deplaziert vor. Hoskins brachte ihm seinen Drink und stellte ihn einem Mr. Snell vor. »Ist mir ein Vergnügen, Chef«, war hinter einem großen Schnurrbart hervor herzlich von Mr. Snell zu hören. »Welches Handicap haben Sie?« Dundridge war zunächst versucht, ihm zu sagen, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, unterdrückte diese Reaktion jedoch und antwortete, soweit er wisse, habe er keins. »Ein Anfänger, wie? Na, macht nichts. Lassen Sie sich Zeit. Wir haben alle mal klein angefangen.« Er ging fort, und Dundridge wanderte in die entgegengesetzte Richtung. Wie er so durch den Raum und auf die geäderten Gesichter der Männer und die hennagefärbten Haare der Frauen sah, verwünschte er sich, daß er gekommen war. Wenn Hoskins sich das hier unter einflußreichen Einheimischen vorstellte, konnte er sie für sich behalten. Kurz darauf trat er auf die Terrasse und schaute ärgerlich das Achtzehnte hinunter. Er würde austrinken und dann nach Hause fahren. Er leerte sein Glas und wollte gerade ins Haus gehen, als eine Stimme neben ihm sagte: »Falls Sie zur Bar gehen, könnten Sie mir noch einen mitbringen.« Die Stimme klang leise und verführerisch. Dundridge drehte sich um und blickte in ein mandelförmiges Augenpaar. Auf einmal wollte er doch nicht mehr nach Hause fahren. Dundridge ging zur Bar und holte noch zwei Drinks.
»Solche Veranstaltungen sind immer schrecklich öde«, sagte das Mädchen. »Sind Sie ein guter Golfer?« Dundridge antwortete, er sei überhaupt kein Golfer. »Ich auch nicht. Was für ein langweiliges Spiel.« Sie setzte sich und schlug ihre Beine übereinander. Es waren ausgesprochen hübsche Beine. »Außerdem mag ich keine sportlichen Typen. Ich ziehe Intellektuelle vor.« Sie lächelte Dundridge an. »Ich heiße Sally Boles. Und Sie?«
»Dundridge«, sagte Dundridge und setzte sich so, daß er mehr von ihren Beinen sehen konnte. Zehn Minuten später holte er noch zwei Drinks. Zwanzig Minuten später die nächsten beiden. Endlich amüsierte er sich.
Miss Boles, so erfuhr er, sei zu Besuch bei ihrem Onkel. Sie kam ebenfalls aus London, wo sie für eine Schönheitsberatungsfirma tätig war. Dundridge sagte, das glaube er gern. Sie fand es auf dem Land so langweilig. Das sah Dundridge genauso. Er erging sich in Schwärmereien über die Freuden, in London zu leben, und die ganze Zeit über strahlten ihn Miss Boles’ mandelförmige Augen in der hereinbrechenden Abenddämmerung verführerisch an. Als Dundridge vorschlug, noch einen Drink zu nehmen, bestand Miss Boles darauf, ihn zu holen.
»Ich bin dran«, sagte sie, »und außerdem muß ich mal kurz verschwinden.« Dundridge blieb wie benommen vor Glück auf der Terrasse sitzen. Als sie mit den Drinks zurückkam, machte sie einen nachdenklichen Eindruck.
»Mein Onkel ist ohne mich gegangen«, sagte sie. »Er hat wohl angenommen, ich sei schon nach Hause gefahren. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich ein Stück mitzunehmen?«
»Natürlich nicht. Mit Vergnügen«, sagte Dundridge und nippte an seinem Drink. Er schmeckte ungewöhnlich bitter. »Tut mir wirklich leid, da ist Campari drin«, sagte Miss Boles zur Erklärung. Das sei schon in Ordnung, meinte Dundridge. Er trank aus, und sie schlenderten zum Parkplatz. »Ein wirklich netter Abend«, sagte Miss Boles, als sie in Dundridges Wagen stieg. »Sie müssen mich in London besuchen.«
»Das mache ich gern«, gestand Dundridge. »Ich würde Sie gern viel öfter sehen.«
»Also abgemacht«, sagte Miss Boles.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Nenn mich doch Sally«, sagte Miss Boles und lehnte sich an ihn.
»O Sally ...«, setzte Dundridge an und fühlte sich plötzlich ausgesprochen müde, »... ich würde Sie wirklich gern viel öfter sehen.«
»Das wirst du, mein Schatz, das wirst du«, sagte Miss Boles und nahm die Autoschlüssel aus seinen reglosen Fingern. Dundridge hatte das Bewußtsein verloren. *
In London lag Sir Giles auf dem Rücken im Bett, während Mrs. Forthby die Riemen fester zog. Damit es echter wirkte, zappelte er gelegentlich kurz und gab ein heiseres Wimmern von sich, aber Mrs. Forthby war, wenigstens nach außen, unnachgiebig. Das Drehbuch in Sir Giles’ Phantasie legte Wert auf brutale Unnachgiebigkeit, und Mrs. Forthby gab sich alle Mühe. Besonders gut konnte sie es nicht; sie war eine Seele von einem Menschen, und eigentlich war es gar nicht ihre Art, Leute zu fesseln und auszupeitschen, ja, sie lehnte die Prügelstrafe sogar prinzipiell ab. Daß sie auf Sir Giles’ Wünsche überhaupt einging, lag in erster Linie an ihrer Progressivität. »Wenn es dem armen Mann Spaß macht, habe ich nicht das Recht, nein zu sagen«, lautete ihre Devise. Wenn Sir Giles mitten in seinem Ritual steckte, mußte sie allerdings regelmäßig nein sagen. Und obwohl Mrs. Forthby nicht von Natur aus brutal war, konnte man es sich bei gedämpftem Licht wenigstens gut vorstellen, und man mußte ihr lassen, daß sie recht kräftig war und ihr Kostüm – es gab mehrere – sehr überzeugend zur Schau trug. Heute abend war sie die Katzenfrau, Miss Dracula, die mit ihrem hilflosen Opfer experimentierende grausame Geliebte. »Nein, nein«, wimmerte Sir Giles.
»Doch, doch«, entgegnete Mrs. Forthby.
»Nein, nein.«
»Doch, doch.«
Mit Gewalt öffneten Mrs. Forthbys Finger Sir Giles den Mund und stopften einen Knebel hinein. »Nein ...« Es war zu spät. Mrs. Forthby pumpte den Knebel auf und lächelte tückisch auf ihn herab. Ihre schweren Brüste schwebten bedrohlich über ihm. Ihre behandschuhten Hände ...
Mrs. Forthby ging in die Küche und machte eine Kanne Tee. Während sie wartete, daß das Wasser im Kessel kochte, knabberte sie gedankenverloren an einem verdauungsfördernden Keks. Manchmal hatte sie die oberflächliche Bindung zu Sir Giles satt und sehnte sich nach einer festeren Beziehung. Sie mußte mal mit ihm darüber reden. Sie wärmte die Teekanne vor, tat zwei Teebeutel hinein, noch einen dritten für die Kanne, und goß das kochende Wasser hinein. Schließlich wurde sie allmählich alt und fand Gefallen an der Vorstellung, Lady Lynchwood zu sein. Sie schaute sich in der Küche um. Wo hatte sie bloß den Deckel der Teekanne hingelegt? Auf dem Bett kämpfte Sir Giles mit seinen Fesseln und blieb dann still liegen. Angenehm erschöpft legte er sich auf den Rücken und wartete auf seine grausame Geliebte. Er mußte lange warten. Zwischen einzelnen Erregungsschüben mußte er wieder an Dundridge denken. Hoffentlich hatte Hoskins nicht alles versaut. Das war nämlich das Ärgerliche bei Untergebenen, man konnte ihnen nicht trauen. Sir Giles zog es vor, sich persönlich um alles zu kümmern, aber es stand zu viel auf dem Spiel für ihn, da konnte er sich an der Ausführung dieser Operation nicht eigenhändig beteiligen. Erst der Stock und dann die Möhre. Er fragte sich, was die Möhre wohl kosten würde. Zwei-, drei-, viertausend Pfund? Teuer. Dann kamen noch Hoskins’ fünftausend hinzu. Aber die Sache war es wert. Ein Profit von 150000 Pfund, das war es wert. Gleiches galt für die Aussicht auf Mauds Wut, wenn ihr klar würde, daß man die Autobahn durch die Schlucht baute. Geschah dem Miststück recht. Aber wo blieb Mrs. Forthby? Warum kam sie nicht wieder?
Mrs. Forthby trank ihre Tasse Tee aus und goß nach. Ihr wurde ziemlich heiß in dem engen Kostüm. Vielleicht sollte sie ein Bad nehmen. Sie stand auf, ging ins Bad und drehte den Wasserhahn auf, ehe ihr einfiel, daß sie noch etwas erledigen mußte. »Altes Dummchen, sowas von vergeßlich«, murmelte sie und hob den dünnen Rohrstock auf. Die grausame Geliebte, Miss Dracula, begab sich ins Schlafzimmer und schloß die Tür. *
Klex saß in seiner Bücherei im Pförtnerhaus und las Sir Arthur Bryant. Doch seine Gedanken waren nicht beim Zeitalter der Anmut. Sie glitten immer wieder zu Maud, Mrs. Wynn, Dundridge und Sir Giles zurück. Außerdem konnte er den Prinzregenten nicht besonders leiden. Ein schlimmer Finger, wenn man Klex fragte. Andererseits hatte Klex auch gar nicht die Zeit für irgend so einen Georg. All seine Sympathien galten den Jakobiten, der verlorenen Sache und Bonnie Prince Charlie. In seiner von romantischer Verehrung durchdrungenen Verfassung sehnte er sich danach, vor Lady Maud hinzuknien und ihr seine Liebe zu gestehen. Die Vorstellung war absurd. Sie würde zornig auf ihn sein; schlimmer noch, vielleicht lachte sie ihn aus. Beim Gedanken an ihr verächtliches Lachen legte er das Buch beiseite und ging nach unten. Es war ein herrlicher Abend. Die Sonne war hinter den Hügeln im Westen versunken, doch der Himmel leuchtete noch. Klex war nach einem Bier. Dafür wollte er aber nicht nach Guildstead Carbonell fahren. Mrs. Wynn würde erwarten, daß er die Nacht über bliebe, und er war nicht in der Stimmung, noch eine Nacht mit ihr zu verbringen. Den Abend zuvor hatte er mit seinem Gewissen gehadert und sich zu dem Geständnis durchzuringen versucht, daß zwischen ihnen alles aus sei. Am Ende hatte sein Realismus obsiegt. Lady Maud war nicht für jemanden wie Klex bestimmt. Ihm blieb nur übrig, von ihr zu träumen. Dies hatte er getan, als er mit Mrs. Wynn schlief, und die war über seine frisch entflammte Leidenschaft nicht schlecht erstaunt gewesen. »Wie in alten Zeiten«, hatte sie versonnen gemeint, als Klex sich ankleidete, um zum Pförtnerhaus zurückzuradeln. Nein, ihm war auf keinen Fall danach zumute, noch eine Nacht im Royal George zu verbringen. Spazierengehen wollte er. Drüben in der Fichtenschonung trieben sich ein paar Karnickel rum. Klex schnappte sich sein Gewehr und marschierte durch den Park. Neben ihm plätscherte der Fluß sanft vor sich hin, und in der Luft lag ein sommerlicher Duft. Aus einem Busch rief eine Amsel. Klex beachtete die Umgebung überhaupt nicht. Er träumte von veränderten Umständen, von Lady Maud, die in Gefahr schwebte, von einer Heldentat, die er vollbrachte, ihr seine wahren Gefühle enthüllte und sie beide in Liebe und Glück vereinte. Als er an der Schonung ankam, war es zu dunkel, um irgendwelche Karnickel zu erkennen. Aber Klex war an Kaninchen nicht mehr interessiert. In Lady Mauds Schlafzimmer war das Licht angegangen. Er schlich über den Rasen und blickte so lange nach oben, bis das Licht wieder ausging. Dann ging er nach Hause und zu Bett.