Kapitel 23

Im Pförtnerhaus hörte Klex den Schuß und sprang aus dem Bett. Lady Mauds Anruf hatte ihn beunruhigt. Warum wollte sie nur von ihm wissen, ob die Tore verschlossen seien? Und warum hatte sie geflüstert? Da war etwas im Busch. Und nach diesem Gewehrschuß war Klex ganz sicher. Er zog sich an, schnappte sich seine Flinte und ging nach unten zum Landrover, den er genau im Torbogen abgestellt hatte. Bevor er einstieg, überprüfte er das Schloß am Tor. Es war fest zu. Dann fuhr er zum Herrenhaus hinauf, parkte vor der Haustür und betrat das Haus.

»Ich bin’s! Klex!« rief er in die Dunkelheit. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Aus der Küche hörte man jemanden durch die Gegend rutschen und einen gedämpften Fluch ausstoßen. »Stehenbleiben«, schrie Lady Maud. »Überall ist Öl.«

»Öl?« sagte Klex. Wenn er es recht bedachte, stank es im Haus tatsächlich nach Öl.

»Er hat versucht, das Haus in Brand zu stecken.« Klex starrte ins Dunkel und schwor, ihn umzubringen, wenn er die Gelegenheit hätte. »Dieses Schwein«, murmelte er. Lady Maud rutschte mit einem Gummischrubber den Gang entlang. »Hören Sie jetzt gut zu, Klex«, sagte sie. »Ich möchte, daß Sie mir einen Gefallen tun.«

»Was Sie wollen«, sagte Klex zuvorkommend. »Er kam durch die Schonung. Das Tor dort hab’ ich zugesperrt, damit er nicht rauskommt, aber sein Wagen muß noch oben in Wilfrid’s Castle stehen. Ich möchte, daß Sie dahin fahren, und die Schei... dieses Ding, das sich dreht, entfernen.«

»Den Rotorarm«, schlug Klex vor.

»Genau«, sagte Lady Maud. »Und wenn Sie schon dabei sind, können Sie auch gleich zusätzliche Schlösser an den beiden Toren anbringen. Wir müssen unbedingt verhindern, daß unschuldige Menschen in den Park gelangen. Haben Sie verstanden?«

Klex lächelte im Dunkeln. Er verstand.

»Ich werde auch im Landrover den Rotorarm ausbauen«, sagte er.

»Eine weise Vorsichtsmaßnahme«, pflichtete Lady Maud ihm bei. »Und wenn Sie fertig sind, kommen Sie wieder hierher. Ich glaube nicht, daß er heute nacht noch mal zurückkehrt, aber es kann nicht schaden, wenn man sich vorsieht.« Klex wandte sich zur Tür.

»Da wäre nur noch eins«, sagte Lady Maud. »Ich glaube, wir sollten die Löwen morgen früh nicht füttern. Sie müssen eben ein bis zwei Tage für sich selber sorgen.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, sagte Klex und ging. Lady Maud seufzte glücklich. Was für ein schönes Gefühl, einen echten Mann ums Haus herum zu wissen. *

In der Finch Grove hegte Ivy Bullett-Finch genau entgegengesetzte Gefühle. Was von dem Haus noch übrig war, befand sich anscheinend um den Mann herum, außerdem konnte man Mr. Bullett-Finchs Überbleibsel allenfalls in einem rein stofflichen Sinn »echt« nennen. Er war gestorben, wie er gelebt hatte: in Sorge um das Wohlergehen seines Rasens. Dundridge traf mit dem Polizeichef rechtzeitig ein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Als Feuerwehrleute die Überreste ihres Gatten aus dem Keller trugen, reagierte Mrs. Bullett-Finch, von den Schuldgefühlen wegen des Ofens befreit, ihren Zorn am Autobahnkontrolleur für Mittelengland ab. »Sie Mörder«, kreischte sie, »Sie haben ihn umgebracht. Sie haben ihm mit Ihrer furchtbaren Kugel umgebracht.« Eine Polizistin führte sie beiseite. Dundridge warf Abrißbirne und Kranwagen einen haßerfüllten Blick zu.

»Unsinn«, sagte er, »ich hatte nichts damit zu tun.«

»Ihr Stellvertreter, Mr. Hoskins, hat uns zu verstehen gegeben, daß Sie Anweisung erteilten, Spezialeinheiten von Abrißexperten sollten willkürliche Ausfälle vornehmen«, sagte der Polizeipräsident. »Es hat allerdings den Anschein, daß sie Ihre Instruktionen buchstabengetreu ausführten.«

»Meine Instruktionen?« sagte Dundridge. »Ich habe nie die Instruktion erteilt, dieses Haus abzureißen. Warum sollte ich?«

»Wir hatten eigentlich gehofft, Sie würden uns darüber aufklären«, sagte der Polizeichef.

»Es ist doch nicht mal für den Abriß vorgesehen.«

»Ganz recht. Ebensowenig wie die High Street, wenn ich mich nicht irre. Aber da in beiden Fällen Ihre Maschine verwendet wurde –«

»Die Maschine gehört nicht mir«, schrie Dundridge, »sondern den Bauunternehmern. Wenn einer verdammt noch mal verantwortlich –«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht ausfallend würden«, sagte der Polizeichef. »Die Lage ist so schon unangenehm genug. Im Ort ist man äußerst erbittert. Meiner Ansicht nach wäre es das beste, wenn Sie uns aufs Revier begleiten.«

»Aufs Revier? Meinen Sie das Polizeirevier?« fragte Dundridge.

»Nur zu Ihrem eigenen Schutz«, betonte der Polizeipräsident. »Wir wollen doch nicht, daß heute nacht noch mehr Unfälle passieren, oder?«

»Das ist ungeheuerlich«, sagte Dundridge. »Wie wahr«, sagte der Polizeichef. »Wenn Sie jetzt bitte mitkommen wollen.«

Ais das Polizeiauto sich langsam durch den auf der High Street verstreuten Schutt schlängelte, sah Dundridge mit eigenen Augen, daß Hoskins die Wahrheit gesagt hatte, als er Guildstead Carbonell ein Notstandsgebiet nannte. Der Transformator schwelte in der grauen Morgendämmerung immer noch vor sich hin, die Methodistische Urkirche war nun eher eine Unkirche, und die furchtbar entstellten Wracks von einem Dutzend Autos duckten sich neben dem scherbenübersäten Bürgersteig. Was die Abrißbirne mit Unterstützung des Telegrafenmastes versäumt hatte, um den Ruf Guildstead Carbonells als pittoreskes, altertümliches Musterstädtchen zu erledigen, hatte der Brand von Mr. Dugdales Garage geschafft. Nachdem sie von irgendeiner unidentifizierbaren sozial gesinnten Person, die mit einer Paraffinlampe nach draußen gegangen war, um Vorbeifahrende vor den Trümmern zu warnen angesteckt worden war, hatte die Explosion der Benzintanks die wenigen nach Klexens Durchfahrt noch intakten Fensterscheiben zerschmettert und die Reetdächer etlicher entzückender Landhäuser in Brand gesetzt. Das Feuer hatte auf mehrere Altenwohnheime übergegriffen. Das Chaos war mit dem gleichzeitigen Eintreffen von Löschfahrzeugen aus Worford und Ottertown komplett gewesen. Die in völliger Dunkelheit mit Hochdruckschläuchen arbeitenden Feuerwehrleute hatten eine Anzahl leichtbekleideter Rentner, die aus den Altenheimen entkommen waren, die Straße hinuntergewirbelt, ehe sie ihre Aufmerksamkeit der öffentlichen Bücherei zuwandten, die sie mit Schaum gefüllt hatten. Für Dundridge, der kläglich aus dem Polizeiwagenfenster schaute, war es unerträglich, daß man ihn für diese Katastrophe verantwortlich machte. Jetzt wünschte er, er hätte South Worfordshire nie zu Gesicht bekommen. »Ich muß wohl wahnsinnig gewesen sein, hierher zu kommen«, dachte er.

*

Der gleiche Gedanke war auch Sir Giles gekommen, obwohl es ihm in seinem Fall keineswegs um einen metaphorischen Wahnsinn ging. Als der Morgen über dem Park graute, kämpfte Sir Giles mit dem Schloß am Tor zur Fußgängerbrücke und versuchte, sich vorzustellen, wie es dahin gekommen war. Bei seiner Ankunft hatte es nicht dort gehangen. Wäre es anders gewesen, hätte er das Grundstück nicht betreten können. Nun war die Existenz des Vorhängeschlosses zwar schlimm genug, die des Zauns aber noch schlimmer, und den hatte es ganz sicher noch nicht gegeben, als er das letztemal auf dem Anwesen geweilt hatte. Es handelte sich um einen extrem hohen Zaun mit metallenen Winkelträgern an der Spitze und vier über die Parkseite hängenden Reihen schweren Stacheldrahts; offensichtlich war er eher dafür konstruiert worden, Leute davon abzuhalten, das Gelände zu verlassen, als Unbefugte am Betreten zu hindern.

Als er mit seinen Überlegungen soweit gekommen war, gab Sir Giles den Kampf mit dem Schloß auf und versuchte, nach einem anderen Fluchtweg zu suchen. Er folgte dem Zaun am Rand der Schonung und wollte gerade über das Eisengitter klettern, als das unwirkliche Gefühl, das ihn mit dem Auftauchen eines großen Vorhängeschlosses an einer Stelle, wo vorher keins gewesen war, beschlichen hatte, eine eindeutige Wendung zum Schlimmeren nahm. Vor dem grauen Morgenhimmel zeichnete sich ein Kopf ab, ein kleiner Kopf mit einer langen Nase und Knubbeln oben drauf. Unter dem Kopf befand sich ein Hals, ein langer Hals, ein wirklich sehr langer Hals. Sir Giles schloß die Augen und hoffte inständig, nicht mehr zu sehen, was er zu sehen geglaubt hatte, wenn er sie wieder öffnete. Er öffnete sie, aber die Giraffe war immer noch da. »O mein Gott«, murmelte er und wollte sich gerade davonmachen, als seine Augen etwas noch Schrecklicheres erblickten. Im hohen Gras fünfzig Meter hinter der Giraffe sah er noch einen Kopf, ein großes Gesicht mit Mähne und Schnurrhaaren.

Sir Giles verwarf jede Überlegung, in der Richtung weiter nach einem Ausgang zu suchen. Er drehte sich um und stolperte zurück in die Schonung. Entweder war er verrückt geworden oder er befand sich mitten in einem verdammten Zoo. Giraffen? Löwen? Und über was war er eigentlich im Dunkeln beinahe gestolpert? Über einen Elefanten? Er ging wieder zum Tor und warf einen hoffnungsvollen Blick auf das Schloß. Doch statt einem hingen da jetzt zwei Schlösser, und das zweite war sogar noch größer als das erste. Als er gerade überlegte, was das bedeuten könnte, hörte er ein Geräusch von dem Fußpfad auf der anderen Seite des Flusses. Sir Giles blickte auf. Dort stand Klex mit einem Gewehr und lächelte zu ihm herunter. Es war ein furchtbares Lächeln, ein Lächeln stiller Zufriedenheit. Sir Giles drehte sich um und floh in die Schonung. Er erkannte den Tod, wenn er ihn sah.

*

Als Klex schließlich ins Herrenhaus zurückkehrte, war Lady Maud in der Küche und machte Frühstück. »Warum haben Sie so lange gebraucht?« fragte sie. »Ich habe den Bentley weggefahren«, teilte ihr Klex mit. »Ich habe ihn hier in die Garage gestellt. Ich dachte, das würde natürlicher wirken.«

Lady Maud nickte. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte sie. »Die Leute könnten womöglich Fragen stellen, wenn sie ihn oben bei der Kirche stehen sehen. Falls er rauskommt, könnte er außerdem den Pannendienst anrufen.«

»Er wird nicht rauskommen«, sagte Klex. »Ich hab’ ihn gesehen. Er ist in der Schonung.«

»Tja, das ist sein Pech. Er kam her, um das Haus in Brand zu stecken, und für alles, was nun geschieht, trägt er allein die Verantwortung.« Sie reichte Klex einen Teller mit Frühstücksflocken. »Leider kann ich Ihnen zum Frühstück nichts kochen. Der Strom ist abgestellt worden. Ich habe die Elektrizitätsgesellschaft in Worford angerufen, aber dort sagte man mir, es habe einen Stromausfall gegeben.« Klex aß seine Flocken schweigend. Es war wohl nicht sehr sinnvoll, ihr etwas über seine Beteiligung an dem Stromausfall zu erzählen; außerdem machte sie selbst einen ziemlich redseligen Eindruck.

»Das Problem mit Giles war«, sagte sie und verwendete die Vergangenheitsform auf eine Art, die Klex sehr zusagte, »daß er sich gern als Selfmademan verstand. Mir kam dieser Ausdruck immer höchst überheblich vor, und in seinem Fall war er ganz besonders unangebracht. Er hatte, nehme ich an, in gewisser Hinsicht das Recht, sich einen Mann zu nennen, obwohl ich nach meiner Erfahrung nicht behaupten würde, Virilität sei seine starke Seite gewesen; aber was den Aspekt ›selbstgemacht‹ betrifft, das traf nun wirklich nicht auf ihn zu. Er machte sein Geld – und das meinte er natürlich mit ›selbst‹–, indem er mit Grundstücken spekulierte, indem er Leute aus ihren Wohnungen warf und sich Baugenehmigungen zur Errichtung von Bürogebäuden beschaffte. Wenigstens machte meine Familie ihr Geld mit dem Verkauf von Bier, von sehr gutem noch dazu. Und das über Generationen hinweg. Es mag zwar nichts Großartiges an sich haben, aber wenigstens waren es ehrliche Männer.« Als Klex in den Küchengarten gehen wollte, redete sie immer noch und wusch das Geschirr ab.

»Wollen Sie, daß ich seinetwegen noch irgendwas unternehme?« fragte er im Gehen.

Lady Maud schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir können in aller Ruhe abwarten, daß die Natur ihren Lauf nimmt«, teilte sie ihm mit. »Er hat zeitlebens viel vom Gesetz des Dschungels gehalten.«

*

Auf dem Polizeirevier in Worford hatte Dundridge Probleme mit den ländlichen Gesetzesvertretern. Hoskins war keine große Hilfe gewesen.

»Von ihm wissen wir«, sagte der mit dem Fall befaßte Kommissar, »daß Sie präzise Befehle erteilt haben, Bulldozer sollten auf verschiedenen Grundstücken willkürliche Ausfälle durchführen. Jetzt behaupten Sie, Sie hätten es nicht getan.«

»Das war lediglich im übertragenen Sinne gemeint«, erklärte Dundridge. »Ganz gewiß habe ich keine Anweisungen gegeben, aus denen irgend jemand außer einem Vollidioten hätte schließen können, ich wollte, daß das Haus des verblichenen Mr. Bullett-Finch abgerissen würde.«

»Nichtsdestotrotz wurde es abgerissen.«

»Von irgendeinem Geisteskranken. Sie bilden sich doch nicht ernsthaft ein, ich sei dorthin gefahren und hätte das Haus eigenhändig zerdeppert?«

»Bleiben Sie bitte ruhig, Sir«, sagte der Kommissar, »ich versuche lediglich, die Kette der Ereignisse zu rekonstruieren, die zu diesem Mord führten.«

»Mord?« murmelte Dundridge.

»Sie wollen doch nicht behaupten, daß es sich um einen Unfall handelt, oder? Eine unbekannte Person oder unbekannte Personen bemächtigen sich absichtlich eines Kranwagens und benutzen ihn, um ein Haus zu zermalmen, in dem zwei unschuldige Menschen schlafen. Das kann man alles mögliche nennen, aber nicht Unfall. Nein Sir, wir behandeln diese Angelegenheit als Mordfall.«

Dundridge überlegte kurz. »Wenn das so ist, muß ein Motiv existieren. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?«

»Freut mich, daß Sie das Motiv anschneiden, Sir«, sagte der Kommissar. »Soviel ich weiß, war Mr. Bullett-Finch aktives Mitglied im Rettet-die-Schlucht-Komitee. Würden Sie sagen, Ihre Beziehungen zu ihm waren außergewöhnlich feindseliger Natur?«

»Beziehungen?« schrie Dundridge. »Ich hatte keinerlei Beziehung zu ihm. Mir ist der Mann nie im Leben begegnet.«

»Aber Sie haben doch mehrfach mit ihm telefoniert.«

»Das kann schon sein«, gab Dundridge zu. »Ich glaube, mich erinnern zu können, daß er einmal anrief, um sich wegen irgendeiner Sache zu beschweren.«

»Könnte es sich um das Telefonat gehandelt haben, bei dem Sie ihm sagten, Zitat, ›Wenn Sie nicht aufhören, mich zu belästigen, werde ich dafür sorgen, daß Sie verdammt viel mehr verlieren als einen Viertelmorgen von Ihrem Scheiß Land.‹ Zitatende?«

»Wer hat Ihnen das erzählt?« knurrte Dundridge. »Die Identität unseres Informanten tut nichts zur Sache, Sir. Die Frage lautet, haben Sie das gesagt oder nicht.«

»Schon möglich«, gab Dundridge zu und schwor insgeheim, Hoskins demnächst die Hölle heiß zu machen. »Und würden Sie mir nicht beipflichten, daß der verstorbene Mr. Bullett-Finch tatsächlich mehr verloren hat als einen Viertelmorgen seines verdammten Gartens?« Das mußte Dundridge zugeben.

Während der Vormittag verrann, gewann der Autobahnkontrolleur für Mittelengland den deutlichen Eindruck, daß eine Falle über ihm zuschnappte.

*

Für Sir Giles hatte sich das zur absoluten Gewißheit verdichtet. Seine Versuche, über den Drahtzaun zu klettern, waren kläglich gescheitert. Zu diesem Zweck erwiesen sich ölige Gummistiefel als keineswegs ideal, und Sir Giles’ körperliche Aktivitäten waren viel zu passiver Natur gewesen, um ihn auch nur annähernd darauf vorzubereiten, Maschendraht hinaufzukraxeln oder mit überhängendem Stacheldraht fertig zu werden. Was er brauchte, war eine Leiter, doch sein einziger Versuch, die Schonung zu verlassen, war durch den Anblick eines im Steingarten herumstöbernden Nashorns und eines Löwen, der sich vor der Küchentür sonnte, zunichte gemacht worden. Sir Giles blieb in der Schonung und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Er wartete sehr lange. Um drei am Nachmittag war er ausgesprochen hungrig. Das gleiche galt für die Löwen. Von den unteren Ästen eines Baumes, die Aussicht auf den Park gewährten, beobachtete Sir Giles, wie sich vier Löwinnen an eine Giraffe heranpirschten; eine folgte ihr gegen den Wind, die anderen drei hatten sich in Windrichtung im Gras versteckt. Die Giraffe floh und schlug gleich darauf im Todeskampf um sich. Aus seinem Horst beobachtete Sir Giles entsetzt, wie die Löwinnen ihr den Rest gaben und die Löwenmännchen sich wenig später zu ihnen gesellten. Sir Giles unterdrückte Ekel und Furcht und kletterte vom Ast. Das war seine Chance. Ohne das Nashorn zu beachten, das ihm den Rücken zukehrte, rannte er, so schnell es seine Gummistiefel erlaubten, über den Rasen zum Haus. Er erreichte die Terrasse und eilte am Wintergarten vorbei, wo Lady Maud gerade einen Rizinusbaum goß. Während er vorbeilief, schaute sie auf, und einen Moment lang wollte er einer Eingebung folgend anhalten und sie anflehen, ihn einzulassen, doch ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, daß dies reine Zeitverschwendung wäre. Ihre Miene zeigte eine Gleichgültigkeit gegenüber seinem Schicksal, beinahe ein Nicht-zur–Kenntnis-nehmen seiner Existenz, die auf ihre Art noch erschreckender war als Klex’ schreckliches Lächeln. Was Maud betraf, gab es ihn einfach nicht. Sie hatte ihn geheiratet, um das Anwesen zu retten und die Familie zu erhalten. Und nun war sie bereit, ihn aus denselben Gründen dem Tod zu überlassen. Daran zweifelte Sir Giles nicht. Er rannte auf den Hof und öffnete die Garagentür. Dort stand der Bentley. Endlich konnte er entkommen. Er schob die Türen zurück und stieg in den Wagen. Der Zündschlüssel steckte noch. Er drehte ihn um, und der Anlasser surrte. Er probierte es wieder, aber das Auto wollte nicht anspringen.

*

Im Küchengarten lauschte Klex dem Motorgeräusch. Er verschwendete seine Zeit. Das konnte er bis zum Jüngsten Tag versuchen, ohne daß die Maschine ansprang. Klex empfand kein Mitgefühl. »Lassen wir der Natur ihren Lauf«, hatte Lady Maud gesagt, und Klex war der gleichen Meinung. Sir Giles war ihm völlig schnuppe. Er hatte den gleichen Stellenwert wie die Schädlinge im Garten, die Nacktschnecken oder die Blattläuse. Nein, das stimmte nicht. Er war schlimmer. Er war ein Verräter an dem England, das Klex verehrte, dem alten England, dem aufrechten England, dem England, das sich aus Verwegenheit und Zufällen ein Weltreich gezimmert hatte, dem England, das diesen Garten geschaffen und die großen Eichen und Ulmen nicht zu seiner sofortigen Befriedigung gepflanzt hatte, sondern für die Zukunft. Was haue Sir Giles für die Zukunft getan? Gar nichts. Er hatte die Vergangenheit geschändet und die Zukunft verraten. Er hatte den Tod verdient. Klex nahm sein Gewehr und ging zur Garage.

*

Im Wintergarten überlegte Lady Maud sich die Sache noch einmal. Sir Giles’ Gesichtsausdruck, als er draußen kurz gezögert hatte, rief in ihr ein leichtes Mitgefühl hervor. Der Mann hatte Angst, schreckliche Angst, und Lady Maud hatte nichts übrig für Grausamkeiten. Sich abstrakt über das Gesetz des Dschungels auszulassen, war eine Sache, aktiv daran mitzuwirken, eine andere.

»Inzwischen hat er seine Lektion gekriegt«, dachte sie, »ich sollte ihn am besten laufenlassen.« Sie wollte gerade nach draußen gehen und ihn suchen, als das Telefon klingelte. Es war General Burnett.

»Es geht um die Geschichte mit dem armen alten Bertie«, sagte der General. »Das Komitee würde gern vorbeikommen und mit Ihnen plaudern.«

»Bertie?« fragte Lady Maud. »Bertie Bullett-Finch?«

»Sie wissen doch, daß er tot ist«, sagte der General. »Tot?« sagte Lady Maud. »Ich hatte keine Ahnung. Wann ist es passiert?«

»Gestern nacht. Haus wurde von diesem Autobahn-Schwein abgerissen. Bertie war drin, als es geschah.« Lady Maud mußte sich setzen, von der Neuigkeit wie betäubt. »Das ist ja absolut entsetzlich. Weiß man, wer es getan hat?«

»Sie haben diesen Kerl, Dundridge, zur Vernehmung mitgenommen«, sagte der General. Lady Maud wußte nicht, was sie sagen sollte. »Hat auch noch halb Guildstead verwüstet. Der Oberst und ich dachten, wir sollten vorbeikommen und mit Ihnen darüber reden. Dadurch kriegt die Sache mit der Autobahn ein ganz anderes Gesicht, finden Sie nicht auch?«

»Natürlich«, sagte Lady Maud. »Kommen Sie sofort rüber.« Sie legte den Hörer auf und versuchte, sich vorzustellen, was geschehen war. Dundridge wurde vernommen. Mr. Bullett- Finch war tot. Finch Grove zerstört. Guildstead Carbonell ... All diese verblüffenden Neuigkeiten ließen sie Sir Giles völlig vergessen.

»Ich muß die arme Ivy anrufen«, murmelte sie und wählte die Nummer von Finch Grove. Niemand meldete sich, was nicht weiter verwunderlich war.

*

In der Garage gab sich Sir Giles alle erdenkliche Mühe, Klex zu überreden, er solle die Flinte nicht mehr auf seine Brust richten.

»Fünftausend Pfund«, sagte er. »Fünftausend Pfund. Dafür brauchen Sie bloß die Tore aufzuschließen.«

»Verschwinden Sie«, sagte Klex.

»Was glauben Sie denn, was ich will? Hier bleiben?«

»Raus aus der Garage«, sagte Klex.

»Zehntausend. Zwanzigtausend. Soviel Sie wollen ...«

»Ich zähle bis zehn«, sagte Klex. »Eins.«

»Fünfzigtausend Pfund.«

»Zwei«, sagte Klex.

»Hunderttausend. Mehr können Sie wirklich nicht verlangen.«

»Drei«, sagte Klex.

»Ich erhöhe auf –«

»Vier«, sagte Klex.

Sir Giles drehte sich um und lief weg. Klexens Gesichtsausdruck war unmißverständlich. Sir Giles stolperte ums Haus herum und über den Rasen zur Schonung. Er krabbelte über die Eisengeländer und kletterte wieder auf seinen Baum. Die Löwen hatten die Giraffe aufgefressen, leckten sich jetzt die Pranken und putzten ihre Schnurrhaare. Sir Giles wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht und versuchte nachzudenken, was als nächstes zu tun sei.

*

Diese Mühe wurde Dundridge durch die Entdeckung einer leeren Wodkaflasche in der Krankabine sowie durch Augenzeugen erspart, die angaben, einer der beiden Männer, die man im Kranwagen die High Street hatte entlangfahren sehen, habe unflätige Lieder gegrölt und sei zweifellos schwer betrunken gewesen.

»Es liegt offenbar ein Versehen vor«, teilte ihm der Kommissar entschuldigend mit. »Sie dürfen gehen.«

»Aber Sie haben mir doch erzählt, daß Sie diese Angelegenheit als Mordfall behandeln«, rief Dundridge empört. »Jetzt machen Sie eine Kehrtwendung und behaupten, es sei lediglich Trunkenheit am Steuer gewesen.«

»Wie ich die Sache sehe, beruht Mord auf vorsätzlichem Handeln«, erläuterte der Kommissar. »Also, zwei Burschen ziehen los und trinken einen über den Durst. Sie sind ein bißchen ausgelassen, klauen einen Kran und reißen ein paar Häuser ab, na, da muß man doch andere Maßstäbe anlegen, stimmt’s? Von Vorsatz kann hier nicht die Rede sein. Ein wenig amüsiert haben sie sich, das ist alles. Was nicht heißen soll, daß ich es billige, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe genausoviel gegen Vandalismus und Betrunkenheit wie jeder andere auch, aber man muß schließlich mildernde Umstände in Betracht ziehen.«

Dundridge war nicht überzeugt, als er das Polizeirevier verließ, und was Hoskins’ Verhalten anging, konnte er keinerlei mildernde Umstände entdecken.

»Sie haben der Polizei eingeredet, ich hätte Befehl gegeben, das Haus der Bullett-Finches abzureißen«, schrie er ihn im mobilen Hauptquartier an. »Sie haben denen zu verstehen gegeben, ich hätte mich aufgemacht, um Mr. Bullett-Finch zu ermorden.«

»Ich habe denen nur erzählt, Sie hätten sich am Telefon mit ihm angelegt. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich das gleiche über Sie und Lady Maud gesagt«, wandte Hoskins ein. »Zufällig ist aber Lady Maud nicht umgebracht worden«, brüllte Dundridge. »Dasselbe gilt für General Burnett und den Oberst, und mit beiden habe ich mich auch gestritten. Falls einer von denen vom Bus überfahren wird oder an Lebensmittelvergiftung stirbt, werden Sie der Polizei erzählen, ich sei verantwortlich, nehme ich an.«

Hoskins sagte, seiner Meinung nach sei das nicht fair. »Fair«, schrie Dundridge, »fair? Nun hören Sie sich mal gut an, was ich mir alles habe gefallen lassen müssen, seit ich hier bin. Ich bin bedroht worden. Man hat mir Drogen in die Drinks gekippt. Ich bin ... Nun, lassen wir das. Ich bin beschossen worden. Man hat mich beleidigt und beschimpft. Man hat mir die Autoreifen zerstochen. Ich bin eines Mordes beschuldigt worden, und da haben Sie die Frechheit, sich hinzustellen und mir was von Fairness zu erzählen! Mein Gott, bis jetzt hab’ ich anständig gekämpft, aber damit ist es nun vorbei. Von jetzt an ist alles erlaubt, und als erstes erlaube ich mir, Sie rauszuschmeißen. Verschwinden Sie und kommen Sie nie wieder.«

»Da gibt’s noch eine Neuigkeit, die Sie unbedingt wissen sollten«, sagte Hoskins und zog sich in Richtung Tür zurück. »Sie haben ein neues Problem am Hals. Lady Maud Lynchwood eröffnet am Sonntag auf dem Handymanschen Grundstück einen Großwildpark.«

Dundridge setzte sich langsam und glotzte ihn an. »Sie macht was?«

Hoskins schob sich wieder ins Büro. »Eröffnet einen Großwildpark. Sie hat das gesamte Anwesen einzäunen lassen und sich Löwen, Nashörner und ...«

»Aber das darf sie nicht. Sie hat einen Zwangsenteignungsbescheid zugestellt bekommen«, stellte Dundridge fest, von dieser neusten Widerstandsaktion völlig baff.

»Sie hat’s trotzdem getan«, sagte Hoskins. »An der Straße nach Ottertown stehen Hinweisschilder, und im Anzeigenblättchen von Worford stand gestern abend eine Anzeige. Ich habe ein Exemplar da.« Er ging in sein Büro und hatte, als er zurückkam, eine ganzseitige Anzeige in der Hand, in der von einem Tag der offenen Tür im Großwildpark Haus Handyman die Rede war. »Was wollen Sie dagegen unternehmen?«

Dundridge griff zum Telefon. »Ich werde die Rechtsabteilung einschalten und den Leuten dort sagen, sie sollen eine einstweilige Verfügung beantragen«, sagte er. »Inzwischen sorgen Sie dafür, daß die Arbeiten in der Schlucht unverzüglich wiederaufgenommen werden.«

»Sollten wir nicht eine ein- oder zweitägige Pause einlegen und warten, bis sich der Wirbel um das Haus der Bullett-Finches und Guildstead Carbonell ein wenig gelegt hat?« wollte Hoskins wissen.

»Auf keinen Fall«, antwortete Dundridge. »Wenn die Polizei es vorzieht, die ganze Angelegenheit als Bagatelle zu betrachten, sehe ich keinen Grund, warum wir uns dem nicht anschließen sollten. Die Arbeit geht weiter wie bisher. Höchstens noch schneller.«