Kapitel 5

Die Untersuchung fand im alten Gerichtsgebäude von Worford statt. Alle waren erschienen – das heißt alle, über deren Grund und Boden die geplante Straße durch die Cleene-Schlucht führen sollte. General Burnett, Mr. und Mrs. Bullett-Finch, Oberst und Mrs. Chapman, Miss Percival, Mrs. Thomas, die Dickinsons (alle sieben) und die Fullbrooks, die vom General einen Bauernhof gepachtet hatten. Außerdem waren ein paar einflußreiche Familien anwesend, die eigentlich von der Autobahn überhaupt nicht betroffen waren, aber Lady Maud unterstützen wollten. Sie saß mit Sir Giles und Mr. Turnbull vorn, und die Sitze hinter ihnen waren alle besetzt. Klex stand ganz hinten. Abgesehen von einem Rechtsanwalt, der den Stadtrat von Ottertown vertrat, blieben die Sitze auf der anderen Seite des Mittelgangs leer. Eins war ziemlich klar: Niemand nahm im Ernst an, daß Lord Leakham einen Beschluß zugunsten Ottertowns fällen würde. Die Sache stand von vornherein fest – oder hätte eigentlich fest stehen müssen, wären da nicht Lady Mauds Eingreifen und die Intransingenz Lord Leakhams gewesen, dessen Wirkungsbereich während seiner früheren Karriere als Richter auf Strafsachen am obersten Gerichtshof beschränkt gewesen war. Auch der Verhandlungsort war unglücklich gewählt. Das alte Gerichtsgebäude ähnelte zu sehr den Gerichtssälen in Lord Leakhams Jugend, als daß der alte Mann auf Lady Mauds häufige Unterbrechungen der Beweisaufnahme überhaupt hätte milde reagieren können. »Madam, Sie stellen die Geduld des Gerichts auf die Probe«, informierte er sie, als sie gerade zum zehntenmal aufstand, um gegen das von Mr. Hoskins für die Planungsbehörde vorgetragene Projekt mit den Worten zu protestieren, es handle sich um einen Eingriff in die Freiheit des Individuums und in das Recht auf Eigentum. In ihren Tweedsachen schnaubte Lady Maud vor Zorn.

»Seit 1472 hat meine Familie Land in der Cleene-Schlucht«, rief sie. »Es wurde uns von Eduard dem Vierten anvertraut, der die Familie Handyman zu Hütern der Schlucht ernannte ...«

»Was auch immer Seine Majestät, Eduard der Vierte, 1472 getan haben mögen«, sagte Lord Leakham, »für die von Mr. Hoskins erbrachten Beweise ist es irrelevant. Würden Sie die Güte haben, sich zu setzen.«

Lady Maud setzte sich. »Weshalb unternehmt ihr beiden Männer nicht was?« fragte sie laut. Sir Giles und Mr. Turnbull rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. »Sie können jetzt fortfahren, Mr. Hoskins«, sagte der Richter. Mr. Hoskins drehte sich zu einem großen Reliefmodell der Grafschaft um, das auf einem Tisch stand. »Wie Sie anhand dieses Modells erkennen können, handelt es sich bei South Worfordshire um eine besonders schöne Grafschaft«, setzte er an.

»Jeder Trottel mit Augen im Kopf kann das sehen«, bemerkte Lady Maud mit lauter Stimme. »Dazu braucht man kein bescheuertes Modell.«

»Fahren Sie fort, Mr. Hoskins, fahren Sie fort«, sagte Lord Leakham mit einer Selbstbeherrschung, die vermuten ließ, daß er mit dem Gedanken spielte, Lady Maud einen Strick zu überreichen, damit sie sich daran aufhängen könne. »Dessen eingedenk hat das Ministerium den Versuch unternommen, die Naturschönheiten der Gegend soweit wie irgend möglich zu erhalten ...«

»So ein Stuß«, sagte Lady Maud.

»Hier haben wir«, setzte Mr. Hoskins erneut an, wobei er auf eine Hügelkette deutete, die im Norden und Süden der Schlucht verlief, »den Cleene-Wald, ein vor allem wegen seiner Tierwelt bekanntes Naturschutzgebiet ...«

»Wie kommt es eigentlich«, erkundigte sich Lady Maud bei Mr. Turnball, »daß die einzige Art, die anscheinend keinerlei Schutz genießt, der Mensch ist?«

Als die Untersuchung zur Mittagspause unterbrochen. wurde, hatte Mr. Hoskins die Argumente des Ministeriums vorgetragen. Auf dem Weg nach draußen mußte Mr. Turnbull zugeben, daß er keineswegs optimistisch war.

»So wie ich es sehe, liegt der Haken bei den fünfundsiebzig Sozialbauten in Ottertown. Wenn die nicht wären, hätten wir, glaube ich, eine gute Chance, doch ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, daß hier die Entscheidung getroffen wird, sie abzureißen. Dadurch entstünden gewaltige Kosten, und ohnehin muß man die zusätzlichen fünfzehn Kilometer in Betracht ziehen. Ganz ehrlich, große Hoffnungen mache ich mir nicht.« Es war Markttag in Worford, und es wimmelte von Menschen. Vor dem Gerichtssaal hatte man zwei Fernsehkameras in Stellung gebracht.

»Ich habe nicht die Absicht, mich aus meinem Heim werfen zu lassen«, verkündete Lady Maud den Reportern von der BBC. »Seit fünfhundert Jahren lebt meine Familie nun schon in der Cleene-Schlucht, und ...« Mr. Turnbull wandte sich traurig ab. Es half alles nichts. Lady Maud konnte sagen, was sie wollte – ändern würde es überhaupt nichts. Man würde die Autobahn durch die Schlucht führen. Ohnehin hatte Lady Maud bei Lord Leakham einen schlechten Eindruck hinterlassen. Turnbull wartete, bis sie fertig war, dann bahnten sie sich einen Weg durch die Marktstände zum Handyman-Wappen. »Ich frage mich, wo Giles sich rumtreibt«, sagte sie, als sie das Hotel betraten.

»Ich glaube, er ist mit Lord Leakham rüber ins Vier Federn gegangen«, erzählte ihr Mr. Turnbull. »Er sagte so etwas wie, er wolle ihn milder stimmen.«

Lady Maud sah ihn wütend an. »So, hat er das? Na, da werd’

ich mich mal drum kümmern«, kläffte sie, ließ Mr. Turnbull im Foyer stehen, marschierte in das Büro des Direktors und rief im Vier Federn an. Als sie zurückkam, funkelten ihre Augen vor frischer Bosheit.

Sie gingen in den Speiseraum und nahmen Platz. *

Im Salon der Vier Federn bestellte Sir Giles zwei Whiskys, ehe er sich die Speisekarte bringen ließ. Lord Leakham nippte skeptisch an seinem Whisky. »Zu dieser Tageszeit sollte ich das wirklich unterlassen«, sagte er. »Magengeschwüre, verstehen Sie. Aber schließlich war es ein anstrengender Morgen. Wer war eigentlich diese gräßliche Frau in der ersten Reihe, die uns permanent unterbrochen hat?«

»Vorneweg nehme ich Garnelen, glaube ich«, sagte Sir Giles rasch.

»Hat mich an das Geschworenengericht in Newbury erinnert, damals, 1928«, fuhr Lord Leakham fort. »Hatte da jede Menge Schwierigkeiten mit einer Frau. Die stand andauernd von der Anklagebank auf und brüllte rum. Wie hieß sie doch gleich?« Er kratzte sich mit fleckiger Hand am Kopf. »Lady Maud ist ziemlich geradeheraus«, pflichtete Sir Giles bei. »In diesem Teil der Welt hat sie einen gewissen Ruf.«

»Das glaube ich gern«, meinte der Richter. »Sie ist eine Handyman, wissen Sie.«

»Ach wirklich?« meinte Lord Leakham gleichgültig. »Man sollte meinen, sie könnte es sich leisten, einen ›Handyman‹ so ein Mädchen für alles – zu beschäftigen.«

»Die Familie Handyman war schon immer sehr einflußreich«, erläuterte Sir Giles. »Die Brauerei gehört ihr, und eine Reihe von Gaststätten. Dies hier ist übrigens auch ein Handyman- Lokal.«

»Elsie Watson«, sagte Lord Leakham unvermittelt. »So hieß sie.« Sir Giles machte einen verwirrten Eindruck. »Hatte ihren Mann vergiftet. Warf von der Anklagebank aus andauernd mit Beschimpfungen um sich. Hat nichts an der Sache geändert. Aufgehängt wurde sie trotzdem.« Bei dem Gedanken lächelte er.

Wehmütig studierte Sir Giles die Speisekarte und dachte krampfhaft nach, was man wohl einem Menschen mit Magengeschwüren empfahl. Ochsenschwanzsuppe a la Handyman oder klare Brühe? Andererseits war er über den bisherigen Verlauf des Verfahrens sehr zufrieden. Dank Mauds Verhalten war die Angelegenheit erledigt. Schließlich bestellte er sich Rinderfiletmedaillons, und Lord Leakham bestellte Fisch.

»Fisch ist aus«, sagte der Oberkellner. »Aus?« fragte Sir Giles gereizt.

»Nicht da, Sir«, erläuterte der Mann.

»Was um alles in der Welt ist Bal de Boeuf Handyman?« fragte der Richter.

»Dicker Fleischklops.«

»Ich muß doch sehr bitten.«

»Frikadelle.«

»Und Brandade de Handyman?« erkundigte sich Lord Leakham.

»Kabeljaubällchen.«

»Kabeljau? Das klingt ganz gut. Ja, die nehme ich wohl.«

»Kabeljau ist aus«, sagte der Kellner.

Verzweifelt musterte Lord Leakham die Speisekarte. »Gibt’s denn überhaupt irgendwas?«

»Ich kann den Poule au Pot Eduard der Vierte empfehlen«, sagte Sir Giles.

»Sehr passend«, kommentierte Lord Leakham grimmig. »Na schön, dann sollte ich das wohl besser nehmen.«

»Und eine Flasche Chambertin«, nuschelte Sir Giles undeutlich. Er war mit seinem Französisch nicht besonders zufrieden.

»Sehr seltsame Art, eine Gaststätte zu führen«, bemerkte Lord Leakham. Um seinen Ärger zu verbergen, bestellte Sir Giles noch zwei Whiskys.

*

In der Küche nahm der Koch die Bestellung entgegen. »Das Huhn können Sie vergessen«, sagte er. »Er bekommt Feuertopf Lancashire oder Fleischklopse a la Koch.«

»Es ist aber Lord Leakham, und er hat ausdrücklich Huhn bestellt«, protestierte der Kellner. »Läßt sich da nicht was machen?«

Der Küchenchef nahm eine Dose Cayennepfeffer vom Regal. »Ich werde schon was hinzaubern«, sagte er. Inzwischen hatte der Weinkellner Schwierigkeiten, einen Chambertin aufzutreiben. Schließlich schnappte er sich die älteste Flasche, die er fand. »Wollen Sie auch wirklich, daß ich ihm die hier serviere?« fragte er den Geschäftsführer und hielt dabei eine Flasche in die Höhe, in der eine trübviolette Flüssigkeit schwappte, die aussah wie die einer Leiche entnommene Blutprobe.

»Die Lady hat’s nun mal so angeordnet«, sagte der Geschäftsführer. »Tauschen Sie nur das Etikett aus.«

»Das Ganze kommt mir verflucht merkwürdig vor.« Der Geschäftsführer seufzte. »Machen Sie mir keine Vorwürfe«, murmelte er. »Wenn sie den alten Knilch vergiften will, ist das ihre Sache. Ich werde bloß dafür bezahlt, ihre Anweisungen auszuführen. Was ist da überhaupt drin?« Der Weinkellner staubte die Flasche ab. »Da steht, es ist ein abgelagerter Portwein«, meinte er unsicher.

»Abgelagert ist genau das richtige Wort«, sagte der Geschäftsführer und ging wieder in die Küche, wo der Koch gerade ein paar übriggebliebene Fleischklopse auf ein halbes Brathähnchen bröselte. »Lassen Sie um Gottes willen keinen anderen Menschen von diesem Zeug probieren«, wies er den Chefkoch an.

»Geschieht ihm recht, was steckt er auch seine Nase in unsere Angelegenheiten«, sagte der Koch und goß die Soße aus dem Feuertopf Lancashire über das Gericht. Der Geschäftsführer ging nach oben und gab dem Oberkellner ein Zeichen. Sir Giles und Lord Leakham tranken ihre Whiskys aus und betraten den Speisesaal.

*

Im Handyman-Wappen beendete Lady Maud ihr Mittagessen und bestellte Kaffee. »Man kann sich auch all zu sehr auf Recht und Gesetz verlassen«, sagte sie. »Meine Familie hätte es nie so weit gebracht, wenn sie dauernd vor Gericht gezogen wäre.«

»Meine liebe Lady Maud«, meinte Mr. Turnbull, »ich flehe Sie an, machen Sie ja keine Dummheiten. Die Lage ist ohnehin schon schwierig genug, und Ihre Unterbrechungen heute morgen waren auch keine Hilfe, um ehrlich zu sein. Gut möglich, daß Lord Leakham jetzt gegen uns voreingenommen ist.« Lady Maud schnaubte verächtlich. »Wenn er es jetzt noch nicht ist, dann wird er’s bald sein«, sagte sie. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich vorhabe, seine Entscheidung anzunehmen? Der Mann ist ein Volltrottel.«

»Er ist außerdem ein hochangesehener pensionierter Richter«, wandte Mr. Turnbull skeptisch ein.

»Wie angesehen er ist, wird sich noch zeigen«, erwiderte Lady Maud. »Daß er entscheiden würde, die Autobahn durch die Schlucht bauen zu lassen, war doch von Anfang an sonnenklar. Die Strecke durch Ottertown ist keine Alternative. Das war ein reines Täuschungsmanöver. Ich für mein Teil lasse mir das jedenfalls nicht bieten.«

»Mir ist nicht ganz klar, was Sie dagegen unternehmen können.«

»Weil Sie, Henry Turnbull, nämlich Anwalt sind und großen Respekt vor dem Gesetz haben. Aber ich nicht. Und da sich das Gesetz hier zum Affen macht, werde ich dafür sorgen, daß sich jeder dieser Tatsache bewußt wird.«

»Ich wünschte, ich könnte einen Ausweg aus dieser Situation erkennen«, meinte Mr. Turnbull traurig. Lady Maud stand auf. »Wenn man den Stier bei den Hörnern packt, braucht man ihm keinen Honig um’s Maul zu schmieren.« Dann ließ sie Mr. Turnbull allein, damit er über die Bedeutung dieser Bemerkung nachdachte, und stolzierte aus dem Speiseraum.

*

Der in den Vier Federn sitzende Lord Leakham hätte sofort begriffen, und ihm wäre im Moment ein Löffelchen Honig sehr lieb gewesen. Den Krabbencocktail, den er zwar nicht bestellt hatte, der ihm aber vom Oberkellner aufgedrängt worden war, hatte man anscheinend in Tabascosoße mariniert; aber das war noch gar nichts, verglichen mit dem Poule au Pot Eduard der Vierte. Beim ersten Bissen verschlug es ihm die Sprache, und er kam zur festen Überzeugung, er habe Ätznatron oder irgend eine ähnlich schreckliche, beißende Substanz verschluckt. »Das Huhn sieht lecker aus«, bemerkte Sir Giles, während der Richter verzweifelt nach Atem rang. »Es handelt sich um eine Spezialität der Maison, verstehen Sie.« Lord Leakham verstand gar nichts. Mit Tränen in den Augen griff er nach seinem Glas Wein und nahm einen großen Schluck. Einen Moment lang gab er sich der Illusion hin, der Wein würde ihm helfen – eine trügerische Hoffnung. Trotz der Verätzung durch das Poule au Pot war sein Gaumen immer noch empfindlich genug, um ihm eins mitzuteilen: Was auch immer er gerade zu schlucken im Begriff war, um 64er Chambertin handelte es sich ganz sicher nicht. Zum einen schien es eine Art Kies zu enthalten, der ihn an gemahlenes Glas erinnerte, und zum andern war das Zeug – soweit er schmecken konnte – ekelhaft süß. Seinen Brechreiz unterdrückend, hielt er das Glas gegens Licht und glotzte in die trübe Untiefe. »Irgend etwas nicht in Ordnung?« wollte Sir Giles wissen. »Was soll das Ihrer Meinung nach sein?« fragte der Richter. Sir Giles warf einen Blick auf das Etikett. »64er Chambertin«, murmelte er. »Schmeckt er nach Kork oder irgendwas?«

»Irgendwas ist es ganz sicher«, sagte Lord Leakham, dem es lieber gewesen wäre, man hätte diese Brühe niemals in Flaschen abgefüllt, geschweige denn verkorkt.

»Ich bestelle eine neue Flasche«, sagte Sir Giles und winkte dem Weinkellner.

»Nicht wegen mir, ich flehe sie an.«

Doch es war zu spät. Als der Weinkellner forteilte, nahm Lord Leakham, durch die merkwürdigen Ablagerungen unter seiner oberen Gebißprothese abgelenkt, gedankenverloren noch einen Happen Poule au Pot zu sich.

»Ich selbst fand auch, daß er ein wenig dunkel aussah«, sagte Sir Giles, ohne die Verzweiflung in Lord Leakhams Augen zu beachten. »Ein Weinkenner bin ich nicht gerade, das muß ich allerdings zugeben.«

Immer noch um Atem ringend, schob Lord Leakham seinen Teller beiseite. Einen Augenblick noch widerstand er der Versuchung, die Flammen mit abgelagertem Portwein zu löschen, doch dann wischte die absolute Gewißheit, nie wieder sprechen zu können, falls er nichts unternahm, sämtliche geschmacklichen Erwägungen vom Tisch. Lord Leakham leerte sein Glas.

*

Im Schankraum des Handyman-Wappens verkündete Lady Maud, Getränke gingen auf Kosten des Hauses. Dann überquerte sie den Marktplatz und betrat die Gaststätte Ziege und Becher, wo sie ihre Anordnung wiederholte, ehe sie sich auf den Weg in die Rote Kuh machte. Hinter ihr füllten sich die Kneipen mit durstigen Bauern, und um zwei Uhr trank ganz Worford auf Lady Mauds Wohl und den Untergang der Autobahn. Vor dem alten Gerichtsgebäude machte sie für ein kurzes Schwätzchen bei den Fernsehleuten halt. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt und bejubelte Lady Maud, als sie das Gebäude betrat.

»Ich muß schon sagen, die Öffentlichkeit haben wir offenbar auf unserer Seite«, meinte General Burnett auf dem Weg in den Sitzungssaal. »Heute morgen dachte ich allerdings, die Aussichten wären nicht so rosig.«

Lady Maud lächelte in sich hinein. »Ich glaube, Sie werden noch sehen, wie sie heute nachmittag so richtig aufblühen«, sagte sie und rauschte majestätisch in den Gerichtssaal, wo der Oberst nebst Mrs. Chapman mit den Bullett-Finches plauderten. »In seiner Tätigkeit als Richter hat Leakham sehr gute Arbeit geleistet«, sagte Oberst Chapman gerade. »Ich glaube, wir können uns darauf verlassen, daß er unseren Standpunkt versteht.«

*

Als er das Mittagessen beendet hatte, war Lord Leakham keineswegs mehr fähig, irgendeinen Standpunkt außer seinem eigenen zu verstehen. Was Tabascokrabben und Poule au Pot begonnen hatten, war durch den 64er Chambertin und seinen Nachfolger (einen besseren Essig, auch wenn es Sir Giles vorzog, ihn für einen trockenen Weißburgunder zu halten) zum Abschluß gebracht worden. Und danach eine Pêche Maud, mit der Lord Leakham den Versuch unternommen hatte, seine geschwürbedingten Magenkrämpfe zu lindern. Die Dosenpfirsiche gingen ja noch an, aber die Eiskrem war mit einer Mischung aus Gewürznelken und Muskat durchsetzt worden, und was den Kaffee betraf ...

Wie er nun die Stufen der Vier Federn hinunterhumpelte, in der vergeblichen Hoffnung, seinen Wagen zu erreichen ein Verkehrspolizist hatte ihn entfernen lassen –, wie er so die Ferret Lane entlanghinkte und den Kirchhof überquerte, begleitet von seinem ekelhaften Gastgeber, da läuteten Lord Leakhams innere Organe das Totenglöcklein für das kleine bißchen Beherrschung, das er vor dem Essen noch an den Tag gelegt hatte. Als er schließlich am alten Gerichtsgebäude ankam, um dort von einer großen Menschenmenge aus Bauern und deren Frauen ausgebuht zu werden, war er kaum noch ein pensionierter Richter, sondern eher ein aktivierter Brandsatz. »Sorgen Sie dafür, daß sich diese verfluchten Lümmel entfernen«, herrschte er Sir Giles an. »Ich werde mich hier keinem Rowdytum aussetzen.«

Sir Giles rief das Polizeirevier an und bat, man möge einige Männer zum Gerichtsgebäude schicken. Als er neben Lady Maud Platz nahm, stand fest, daß sich die Dinge nicht so entwickelten, wie er es erwartet hatte. Lord Leakhams Teint war von furchtbaren Flecken verunstaltet, und als er mit dem Hammer auf den Richtertisch klopfte, zitterte seine Hand. »Die Anhörung wird fortgesetzt«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ruhe im Gerichtssaal.« Der Saal war überfüllt, und der Richter mußte ein zweites Mal hämmern, ehe es still wurde. »Der nächste Zeuge.«

Lady Maud erhob sich. »Ich will eine Stellungnahme abgeben«, sagte sie. Lord Leakham sah sie widerwillig an. Für entzündete Mägen war Lady Maud nicht der rechte Anblick. Sie war riesig groß, und ihr Benehmen ließ an etwas Unverdauliches denken.

»Wir sind nicht hier, um uns Meinungsäußerungen anzuhören«, stellte der Richter fest, »sondern um eine Beweisaufnahme abzuhalten.«

Mr. Turnbull stand auf. »Euer Ehren«, sagte er respektvoll, »im Rahmen dieser Untersuchung handelt es sich bei der Meinung meiner Klientin um Beweismaterial.«

»Meinungsäußerungen sind keine Beweise«, sagte Lord Leakham. »Ihre Klientin, wer auch immer sie sein mag ...«

»Lady Maud Lynchwood vom Herrenhaus Handyman, Euer Ehren«, teilte Mr. Turnbull ihm mit.

»... ist berechtigt, jede Meinung zu vertreten, nach der ihr der Sinn steht«, fuhr Lord Leakham fort, wobei er die Urheberin des Poule au Pot Eduard der Vierte mit unverhohlenem Abscheu anstarrte, »aber vor diesem Gericht darf sie eine solche nicht äußern und erwarten, daß das als Beweis anerkannt wird. Die Beweisverfahrensordnung müßten Sie doch kennen, mein Herr.« Trotzig rückte Mr. Turnbull seine Brille zurecht. »Die Regeln für das Beweisverfahren gelten, bei allem schuldigen Respekt vor der Auffassung Euer Ehren, nicht unter den gegebenen Umständen. Meine Klientin steht nicht unter Eid und ...«

»Ruhe im Gerichtssaal«, knurrte der Richter, an einen betrunkenen Farmer aus Guildstead Carboneil gewandt, der sich mit seinem Nachbarn über Schweinepest unterhielt. Mit einem kläglichen Blick zu Lady Maud nahm Mr. Turnbull Platz. »Nächster Zeuge«, sagte Lord Leakham.

Lady Maud gab nicht klein bei. »Ich erhebe Protest«, verkündete sie in einem derart gebieterischen Ton, daß es im Saal mucksmäuschenstill wurde. »Diese Untersuchung ist eine Farce ...«

»Ruhe im Gerichtssaal«, schrie der Richter. »Ich lasse mir nicht den Mund verbieten«, schrie Lady Maud zurück. »Das hier ist kein Gerichtssaal ...«

»Und ob das einer ist«, knurrte der Richter.

Lady Maud zögerte. Natürlich war der Gerichtssaal ein Gerichtssaal. Daran war nicht zu rütteln. »Was ich sagen wollte ...«, fing sie an. »Ruhe im Gerichtssaal«, brüllte Lord Leakham, dessen Magengeschwüre zielsicher auf die nächste Krise zusteuerten. Lady Maud sprach die geheimsten Gedanken des Richters aus. »Sie sind nicht in der Lage, diese Untersuchung durchzuführen«, rief sie, unterstützt von etlichen Stimmen aus dem Publikum. »Sie sind ein seniler alter Trottel. Ich habe ein Recht, angehört zu werden.«

Auf dem Richterstuhl hatte Lord Leakhams fleckiger Kopf die Farbe reifer Pflaumen angenommen, und seine Hand griff zum Hammer. »Ich verurteile Sie wegen Mißachtung des Gerichts«, schrie er und hämmerte auf seinen Tisch. Lady Maud schlurfte drohend auf ihn zu. »Wachtmeister, nehmen Sie diese Frau fest.«

»Euer Ehren», sagte Mr. Turnbull, »Ich bitte Sie inständig ...« Doch es war zu spät. Als Lady Maud ihren Vormarsch fortsetzte, wurde sie von zwei Polizisten an den Armen gepackt, die offenbar aufgrund der Annahme eingriffen, ein ehemaliger Richter am obersten Gerichtshof müsse seine Gesetze besser kennen als sie. Es war ein schrecklicher Fehler. Sogar Sir Giles fiel das auf. Neben ihm schrie Mr. Turnbull, dies sei ein gesetzwidriger Akt, und hinter ihm war die Hölle los, da ein Teil des Publikums aufsprang und nach vorn drängte. Als seine Frau, immer noch Beschimpfungen ausstoßend, aus dem Gerichtssaal geschleift wurde, als Lord Leakham immer noch vergeblich und lauthals die Räumung des Saals verlangte, als es zu Schlägereien kam und Fenster zu Bruch gingen, da hing Sir Giles schlaff auf seinem Sitz und dachte über das Scheitern seiner Pläne nach. Unten richteten die Fernsehleute, durch die Schreie und die aus den Saalfenstern auf ihre Köpfe regnenden Glasscherben alarmiert, ihre Kameras auf die Tür des Gerichtssaals, wo zwischen zwei Polizisten eine gerupfte und auf einmal überraschend friedliche Lady Maud auftauchte. Irgendwo zwischen Saal und Kameras war ihr Kostüm ziemlich obszön verrutscht, ein Schuh war abhanden gekommen, ihr Rock wies höchst anstößige Risse auf, und anscheinend hatte sie sogar zwei Vorderzähne verloren. Noch während sie tapfer zu lächeln versuchte, brach sie auf dem Gehsteig zusammen, dann zerrte man sie vor den laufenden Kameras quer über den Marktplatz zur Polizeiwache. »Hilfe«, schrie sie, während die Menge eine Gasse bildete. »Helft mir bitte.« Und Hilfe war unterwegs. Eine kleine, dunkle Gestalt kam aus dem Gerichtsgebäude gerast und stürzte sich auf den größeren der beiden Polizisten. Durch Klex’ Vorbild inspiriert, warfen sich etliche Markthändler in das Getümmel. Von der Menschenmenge vor den Kameras geschützt, machte Lady Maud ihre Autorität wieder geltend. »Klex«, sprach sie streng, »laß die Ohren des Wachtmeisters los. « Klex ließ sich zu Boden fallen, und die Händler wichen gehorsam zurück. »Wachtmeister, walten Sie Ihres Amtes«, sagte Lady Maud und ging voran in Richtung Polizeirevier. Die Menge hinter ihr wandte nun ihre Aufmerksamkeit dem Rolls-Royce Lord Leakhams zu. Äpfel und Tomaten prasselten gegen das alte Gerichtsgebäude. Unter zustimmendem Gebrüll der Zuschauer versuchte Klex im Alleingang, den Wagen umzukippen, und wurde sofort von einigen Dutzend Bauern unterstützt. Als Lord Leakham, von einem Polizeiaufgebot begleitet, das Gerichtsgebäude verließ, fand er seinen Rolls auf der Seite liegend vor. Etliche Schlagstockeinsätze waren nötig, um eine Gasse durch die Menge zu bahnen, und die ganze Zeit über zeichneten die Kameras die öffentliche Reaktion auf die geplante Autobahn durch die Cleene-Schlucht getreulich auf. In der Ferret Lane gingen Schaufenster zu Bruch. Vor dem Ziege und Becher angekommen, wurde Lord Leakham durch einen Eimer kaltes Wasser bis auf die Haut durchnäßt. Im Kirchhof brachte man ihm mittels eines abgebrochenen Grabsteins eine Gehirnerschütterung bei, und als er endlich das Vier Federn erreichte, mußte man die Feuerwehr rufen, damit sie durch Einsatz ihrer Spritzen, eine das Hotel belagernde Menschenmenge zerstreute. Inzwischen brannte der Rolls- Royce lichterloh, und Gruppen betrunkener Jugendlicher zogen durch die Straßen, um ihre Loyalität zur Familie Handyman zu demonstrieren, indem sie Straßenlaternen zerschlugen. In ihrer Zelle auf dem Polizeirevier holte Lady Maud ihr Gebiß aus der Tasche und lächelte über die lautstarke Festivität. Falls der Preis für Gerechtigkeit das ewige Licht der Öffentlichkeit war, stand ihr ganz sicher eine faire Verhandlung bevor. Sie hatte das erreicht, was sie sich vorgenommen hatte.