Kapitel 1

Sir Giles Lynchwood, Parlamentsabgeordneter für South Worfordshire, saß in seinem Arbeitszimmer und zündete sich eine Zigarre an. Vor seinem Fenster blühten Tulpen und Schlüsselblumen, eine Drossel stocherte im Rasen, und die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herunter. In der Ferne konnte er die Felsen der Cleene-Schlucht erkennen, die hoch über dem Fluß aufragten.

Doch Sir Giles hatte kein Auge für die Schönheiten der Landschaft. Seine Gedanken drehten sich um andere Dinge: um Geld, um Mrs. Forthby und um die Kluft zwischen den Dingen, wie sie waren, und den Dingen, wie sie hätten sein können. Nicht, daß sich seinem Blick aus dem Fenster eine Aussicht auf ungetrübte Schönheit geboten hätte. Er fiel auf Lady Maud, und was immer sie auch sein mochte, niemand, der noch ganz bei Trost war, würde ihr jemals das Attribut »schön« verliehen haben. Sie war groß und massiv und besaß eine Gestalt, die man einmal zutreffend als rodinhaft bezeichnet hatte – Sir Giles jedenfalls, der sie so leidenschaftlich betrachtete, wie es sechs Ehejahre gestatteten, fand sie kolossal unattraktiv. Dabei war Sir Giles eigentlich nicht besonders pingelig, wenn’s um die äußere Erscheinung ging. Er hatte sein Vermögen damit gemacht, daß er die potentiellen Vorzüge wenig einnehmender Immobilien erkannte, und er konnte mit Fug und Recht von sich behaupten, mehr mittellose Mieter vor die Tür gesetzt zu haben als jeder andere anonyme Vermieter in London. Mauds Äußeres aber war noch das geringste seiner Eheprobleme. Es war eher ihre Gesinnung, ihre unverblümte Selbstsicherheit, die ihn zur Weißglut brachten. Und die Tatsache, daß er zum erstenmal in seinem Leben eine Frau am Hals hatte, die er nicht verlassen, und ein Haus, das er nicht verkaufen konnte. Maud war eine geborene Handyman, und das Herrenhaus der Handymans war immer ihr Zuhause gewesen. Haus Handyman – ein riesiges, weitläufiges Gebäude mit zwanzig Schlafzimmern, einem Ballsaal samt federndem Fußboden, einem Rohrleitungssystem, das Industriearchäologen faszinierte, aber Sir Giles nachts am Einschlafen hinderte, sowie einer Zentralheizung, die zum Verbrauch von tonnenweise Koks konstruiert war und jetzt offenbar megaliterweise Öl schluckte – war im Jahr 1899 erbaut worden, um in Backsteinen, Mörtel und den abscheulicheren Möbeln jener Epoche die Tatsache zu demonstrieren, daß es die Familie Handyman zu was gebracht hatte. Sie hatte eine kurze gesellschaftliche Blüte erlebt: Eduard VII. hatte dem Haus zwei Besuche abgestattet und jedesmal Mrs. Handyman verführt, und zwar in der irrtümlichen Annahme, sie sei ein Zimmermädchen (ein Resultat ihrer Bescheidenheit, dank derer es ihr in der Gegenwart eines Mitglieds des Königshauses die Sprache verschlug). Als Wiedergutmachung für diesen königlichen Fauxpas und für geleistete Dienste wurde ihr Ehemann Bulstrode in den Adelsstand erhoben. Nach diesem kurzen Intermezzo gesellschaftlichen Glanzes waren die Handymans in ihre jetzige Vergessenheit versunken. Nachdem eine Woge von Ale – Handyman Pale, Handyman Triple XXX und Handyman West Country waren zu ihrer Zeit überaus beliebt – die Familie zu echter Berühmtheit hochgeschwemmt hatte, war sie der Neigung zum Brandy erlegen. Der erste Graf von Handyman, ein mißtrauischer Ehemann und ein aus verständlichen Gründen glühender Republikaner, starb gerade rechtzeitig, um posthumen Ruhm als erster Leichnam zu erlangen, für den Schatzkanzler Lloyd Georges exorbitante Erbschaftssteuern fällig wurden. Fast auf dem Fuße war ihm sein ältester Sohn Bartholomew gefolgt, dessen Reaktion auf die Zahlungsaufforderung des Finanzamts die gewesen war, sich mittels zweier Flaschen Trois Six de Montpellier aus dem Fundus seines Vaters zu Tode zu saufen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte das Familienglück vollends vernichtet. Der Zweitälteste, Boothroyd, der zur Beruhigung seiner Nerven einen Schluck aus einer Flasche mit Batteriesäure genommen hatte, ehe er aus dem Schützengraben zum Sturmangriff überging, war mit derart irreparabel geschädigten Geschmacksknospen aus Frankreich zurückgekehrt, daß seinen Versuchen, Handyman Ale die Vorkriegsqualität und -beliebtheit wiederzugeben, genau das entgegengesetzte Resultat beschieden war. Zum erstenmal traf die Ehrenbezeichnung »Außerordentlicher Hoflieferant und Brauer seiner Majestät des Königs« haargenau das Charakteristische der in der Handyman-Brauerei erzeugten Biere. In den zwanziger und dreißiger Jahren ging der Umsatz sogar noch weiter zurück, bis einzig ein Dutzend brauereieigener Gaststätten in Worfordshire die Erzeugnisse des Hauses Handyman anboten; ein Gefühl der Loyalität zur Familie zwang deren Gäste zum Vertilgen von Boothroyds entsetzlichem Gesöff – und die Weigerung der zuständigen Bürokraten (zu denen auch Boothroyd gehörte), irgendwem sonst die Genehmigung zum Ausschank alkoholischer Getränke zu erteilen. Inzwischen war es mit den Handymans so weit gekommen, daß sie nur noch einen Flügel des Hauptgebäudes bewohnten, und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten sie damit gefeiert, daß sie dem Kriegsministerium den Rest ihres Anwesens zur Verfügung stellten. Boothroyd starb im Dienst bei der Bürgerwehr, und an seine Stelle trat Mauds Vater Busby; das Herrenhaus diente zunächst als Unterkunft für General de Gaulles Stabschef und die gesamte Exilarmee des damaligen freien Frankreichs und später als Internierungslager für italienische Kriegsgefangene. Der vierte Graf hatte getan, was er konnte, um dem Handyman Ale seine ehemalige Beliebtheit wiederzugeben, indem er auf das Originalrezept zurückgriff, und der Familie ihr einstiges Vermögen wiederzubeschaffen, indem er mit all seinem Einfluß dafür sorgte, daß das Kriegsministerium eine unangemessen hohe Miete für ein Gebäude zahlte, das es gar nicht haben wollte.

Dieser Einfluß, der Handyman-Einfluß, hatte Sir Giles davon überzeugt, daß ihm Schlimmeres widerfahren könne, als Lady Maud zu ehelichen und durch sie einen Sitz im Parlament zu erlangen. Doch wenn er über die zurückliegenden Jahre nachdachte, neigte Sir Giles zu der Ansicht, daß er für den Herrensitz und die gesellschaftliche Anerkennung einen zu hohen Preis bezahlt habe. Damals hatte er von einer Verstandesheirat gesprochen, doch dieser Begriff hatte sich als absolut unzutreffend erwiesen. Nichts an Mauds Äußerem hatte auf eine übertriebene Mäkeligkeit in Sexfragen hingedeutet, und Sir Giles war überrascht, um nicht zu sagen schmerzhaft berührt gewesen, als sie während der Flitterwochen seinen Vorschlag allzu wörtlich genommen hatte, sie, möge ihn ans Bett binden und schlagen. Sir Giles Schmerzensschreie waren einen halben Kilometer die Costa Brava entlang zu hören gewesen und hatten zu einer peinlichen Unterredung mit dem Hoteldirektor geführt. Den ganzen Weg nach Hause hatte Sir Giles stehen müssen und seitdem in einem separaten Schlafzimmer – und bei Mrs. Forthby Zuflucht gesucht, in deren Wohnung in St. John’s Wood wenigstens Verlaß auf Mäßigung war. Daß keine Chance auf Scheidung bestand, machte die Angelegenheit nur noch schlimmer. Ihr Ehevertrag enthielt eine Anwartschaftsklausel, nach der Herrenhaus samt Grundbesitz – für die er Maud hunderttausend Pfund hatte zahlen müssen wieder in ihr Eigentum übergingen, falls er stürbe, ohne Erben zu hinterlassen, oder sich einen Fehltritt zuschulden kommen ließe, der sie vor den Scheidungsrichter brächte. Sir Giles war zwar ein reicher Mann, doch ein Preis von hunderttausend Pfund war zu hoch für seine Freiheit.

Er seufzte und warf einen Blick aus dem Fenster. Lady Maud war verschwunden, dennoch war die Aussicht keineswegs angenehmer geworden. Den Platz von Lady Maud hatte Klex, der Gärtner, eingenommen, der quer über den Rasen in Richtung Küchengarten trottete. Sir Giles musterte die untersetzte Gestalt mit Abscheu. Für einen Gärtner, für einen italienischen Gärtner und ehemaligen Kriegsgefangenen hatte Klex etwas Selbstzufriedendes an sich, das Sir Giles gehörig auf die Nerven ging. Er mochte es, wenn seine Dienerschaft unterwürfig war, und von Unterwürfigkeit fand sich bei Klex keine Spur. Dieser Mistkerl schien zu glauben, das ganze Anwesen gehöre ihm. Sir Giles sah, wie er durch die Tür in der Mauer des Küchengartens verschwand, und dachte über Mittel und Wege nach, wie er sich Klex, Lady Maud und den Herrensitz der Handymans vom Halse schaffen konnte. Da kam ihm eine Idee. *

Lady Maud auch. Während sie durch den Garten trampelte, hier einen Löwenzahn und dort eine Sternmiere entwurzelte, drehten sich ihre Gedanken einzig und allein ums Kinderkriegen.

»Jetzt oder nie«, murmelte sie, während sie eine Nacktschnecke zerquetschte. Zwischen ihren Beinen hindurch konnte sie Sir Giles in seinem Arbeitszimmer sehen und sich zum wiederholten Mal fragen, warum sie ausgerechnet einen Mann mit einem so geringen Pflichtbewußtsein geheiratet hatte; ihrer Meinung nach gab es keine höhere Tugend. Aus Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie hatte sie ihn geheiratet. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte einen jüngeren, attraktiveren Mann gewählt, doch das Angebot an jungen, attraktiven Männern mit Vermögen war in Worfordshire begrenzt und Maud war nicht ansehnlich genug, um sich in London einen aufzustöbern.

»In die Gesellschaft eingeführt werden?« hatte sie ihre Mutter angeschrien, als Lady Handyman vorschlug, man solle sie bei Hofe einführen. »In die Gesellschaft? Das hab’ ich doch längst hinter mir.«

Und es stimmte. Lady Mauds kurzlebige Schönheit hatte sich verfrüht eingestellt. Mit fünfzehn sah sie entzückend aus. Mit einundzwanzig waren die Handymanschen Gesichtszüge, vor allem die gewaltige Nase, immer auffallender und sie immer unattraktiver geworden. Mit fünfunddreißig war sie eine Handyman vom Scheitel bis zur Sohle und nur noch für jemanden mit Sir Giles’ verkommenem Geschmack und seinem Auge für versteckte Vorzüge akzeptabel. Ohne Illusionen hatte sie seinen Heiratsantrag angenommen, um dann zu spät herauszufinden, daß sein langes Junggesellendasein bei ihm Spuren in Gestalt einer Reihe von Angewohnheiten und Phantasievorstellungen hinterlassen hatte, die es ihm unmöglich machten, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Wofür Sir Giles auch immer geeignet war – die Vaterschaft gehörte nicht dazu. Nach dem unglückseligen Erlebnis in ihren Flitterwochen hatte Maud versucht, eine Aussöhnung zu erreichen, doch ohne Erfolg. Sie hatte es mit Alkohol probiert, mit stark gewürzten Speisen, mit Austern und Champagner, mit hartgekochten Eiern, doch Sir Giles war eisern impotent geblieben. An diesem heiteren Frühlingstag, wo alles um sie herum aufkeimte und emporschoß und ihr die Freuden der Mutterschaft aus allen Winkeln des Anwesens entgegentönten, verspürte Lady Maud ein ausgesprochen lüsternes Verlangen. Sie wollte noch einen Versuch unternehmen, Sir Giles zur Räson zu bringen. Entschlossen richtete sie sich auf, marschierte über den Rasen ins Haus und ging durch den Flur.

»Giles«, sagte sie, als sie das Arbeitszimmer ohne anzuklopfen betrat, »es ist an der Zeit, daß wir uns mit dieser Sache auseinandersetzen.« Sir Giles schaute von seiner Times auf. »Welche Sache?« fragte er.

»Du weißt sehr gut, wovon ich rede. Brauchst gar nicht wie die Katze um den heißen Brei zu streichen.« Sir Giles faltete die Zeitung zusammen. »Brei, Liebes?« meinte er skeptisch.

»Versuch’ nicht abzulenken«, sagte Lady Maud.

»Ich lenke überhaupt nicht ab«, protestierte Sir Giles, »ich weiß ganz einfach nicht, wovon du sprichst.« Lady Maud legte ihre Hände auf den Schreibtisch und beugte sich drohend vor. »Sex«, knurrte sie.

Sir Giles kuschelte sich in seinen Stuhl. »Ach ja, Sex«, murmelte er. »Was ist damit?«

»Ich werde auch nicht jünger.«

Sir Giles nickte verständnisvoll. Es war eine der wenigen Tatsachen, für die er dankbar war.

»In ein oder zwei Jahren ist es zu spät.« Gott sei Dank, dachte Sir Giles, doch die Worte blieben ungesagt. Stattdessen entschied er sich für eine Ramon Allones aus seiner Zigarrenkiste. Das war ein ungeschickter Schritt. Lady Maud beugte sich vor und entriß sie seinen Fingern. »Jetzt hör mir mal zu, Giles Lynchwood«, sagte sie, »ich hab’ dich nicht geheiratet, um als kinderlose Witwe zu enden.«

»Witwe?« fragte Sir Giles verschreckt.

»Die Betonung liegt auf ›kinderlos‹. Ob du lebendig oder tot bist, läßt mich ziemlich kalt. Wichtig ist, daß ich einen Erben kriege. Als ich dich heiratete, geschah dies einzig unter der Voraussetzung, daß du der Vater meiner zukünftigen Kinder werden solltest. Wir sind jetzt seit sechs Jahren verheiratet. Es ist an der Zeit, daß du deine Pflicht tust.« Sir Giles schlug seine Beine herausfordernd übereinander. »Das haben wir doch alles schon mal durchgekaut«, murmelte er.

»Das haben wir mitnichten alles durchgekaut. Genau darüber beschwere ich mich ja. Du hast dich hartnäckig geweigert, dich wie ein normaler Ehemann zu benehmen. Du hast ...«

»Wir alle haben so unsere Problemchen, Liebes«, sagte Sir Giles.

»Durchaus«, räumte Lady Maud ein, »die haben wir. Nur daß meine Problemchen unglücklicherweise weit weniger Aufschub dulden als deine. Ich bin über vierzig und werde, wie ich bereits andeutete, in ein oder zwei Jahren das gebärfähige Alter überschritten haben. Seit fünfhundert Jahren lebt meine Familie nun schon in dieser Schlucht, und ich bin keinesfalls gewillt, mich mit der Gewißheit ins Grab zu legen, daß ich die letzte Handyman bin.«

»Mir ist nicht ganz klar, wie du das umgehen kannst, was auch immer geschieht«, sagte Sir Giles. »Schließlich würden sie – den unwahrscheinlichen Fall vorausgesetzt, daß du Kinder bekämst – den Namen Lynchwood tragen.«

»Ich hatte schon immer vor«, erklärte Lady Maud, »den Namen durch einseitige Absichtserklärung ändern zu lassen.«

»Tatsächlich? Tja, dann laß dich davon unterrichten, daß dazu keine Notwendigkeit besteht«, sagte Sir Giles. »Aus unserer Ehe werden keine Kinder hervorgehen, daran gibt’s nichts zu rütteln.«

»Wenn das so ist«, sagte Lady Maud, »werde ich die nötigen Schritte für eine Scheidung einleiten. Du hörst dann von meinen Anwälten.«

Sie verließ das Zimmer und schmetterte die Tür hinter sich zu. Zurück blieb ein vor Genugtuung zitternder Sir Giles. Vorüber waren die Jahre der Qual. Er würde seine Scheidung bekommen und den Herrensitz behalten. Mit den Sorgen war es endlich vorbei. Er griff nach der nächsten Zigarre und zündete sie an. Von oben konnte er die schwerfälligen Bewegungen seiner Frau in ihrem Schlafzimmer hören. Zweifellos bereitete sie sich auf einen Besuch bei Ganglion, Turnbull und Shrine vor, den Familienanwälten in Worford. Sir Giles faltete die Times auseinander und las noch einmal den Brief über den Kuckuck.