Kapitel 10
Ohne die Landschaft eines Blickes zu würdigen, fuhr Dundridge nach Worford zurück. Seine Begegnung mit Lady Maud hatte ihn schwer beeindruckt und sein Selbstwertgefühl mächtig gesteigert. Das Essen war wirklich angenehm verlaufen, und mit zwei großen Gins intus hatte Dundridge in Lady Maud ein überaus verständnisvolles Publikum gefunden. Als er seine Theorie vom unterbrechungsfreien, gleichmäßigen Verkehrsfluß darlegte, hatte sie mit offenkundiger Inbrunst gelauscht, was unter seinen Zuhörern in der Regel nicht vorkam, und ihre Begeisterung hatte auf Dundridge überaus erfrischend gewirkt. Außerdem strahlte sie Vertrauen aus, ein gesteigertes Selbstvertrauen, das ansteckend wirkte und eine starke Faszination auf ihn ausübte. Trotz ihrer mangelnden Symmetrie und Schönheit, trotz der augenscheinlichen Diskrepanz zwischen ihrem Körperbau und dem der Idealfrau seiner Phantasie mußte er zugeben, daß er sie anziehend fand. Nach dem Mittagessen hatte sie ihm Haus und Garten gezeigt, und Dundridge war ihr mit unerklärlicherweise vor Aufregung weichen Knien von einem Zimmer ins andere gefolgt. Einmal war er im Steingarten gestolpert; da hatte Lady Maud ihn am Arm ergriffen, und er hatte sich vor Freude ganz schlapp gefühlt. Als er sich dann in der Badezimmertür an ihr vorbeigedrückt hatte, war ihm ihre Passivität angenehm aufgefallen. Bei seiner Abfahrt umfing ihn ein kindliches Glücksgefühl. Man wußte ihn zu schätzen. Das ließ die Sache in neuem Licht erscheinen. Bei seiner Ankunft im Handyman- Wappen erwartete ihn Hoskin im Salon.
»Ich dachte, ich schaue mal vorbei und frage, wie Sie vorankommen.«
»Bestens. Bestens. Einfach bestens«, sagte Dundridge. »Haben Sie sich mit Leakham gut verstanden?«
Dundridges angenehm warmes Gefühl kühlte merklich ab.
»Ich kann nicht behaupten, daß mir seine Einstellung gefällt«, sagte er. »Anscheinend ist er entschlossen, die Strecke durch die Schlucht zu genehmigen. Offenbar hat er einen ganz und gar irrationalen Haß auf Lady Maud. Ich finde seine Haltung wirklich unerklärlich. Lady Maud scheint mir eine ganz bezaubernde Frau zu sein.«
Hoskins starrte ihn ungläubig an. »Tatsächlich?«
»Reizend«, sagte Dundridge, und das warme Gefühl machte sich wieder zart bemerkbar.
»Reizend?«
»Bezaubernd«, meinte Dundridge verträumt. »Allmächtiger«, sagte Hoskins, der seiner Verblüffung nicht länger Herr wurde. Die Vorstellung, daß irgend jemand Lady Maud bezaubernd und reizend fand, ging über seinen Horizont. Er musterte Dundridge mit neuem Interesse. »Sie ist ein wenig massig, meinen Sie nicht auch?« gab er zu bedenken. »Wohlproportioniert«, sagte Dundridge liebenswürdig, »einfach wohlproportioniert.«
Hoskins gruselte es, und er wechselte das Thema. »Nun zu diesem Tunnel«, begann er.
Dundridge sah ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie denn davon?«
»In dieser Gegend sprechen sich Neuigkeiten eben schnell herum.«
»Zweifellos«, sagte Dundridge, »heute morgen habe ich zum erstenmal davon gesprochen.«
»Sie wollen doch wohl nicht allen Ernstes vorschlagen, daß man einen Tunnel durch die Cleene-Berge baut, oder?«
»Wieso eigentlich nicht?« sagte Dundridge. »Das scheint mir ein vernünftiger Kompromiß zu sein.«
»Ein verdammt teurer«, meinte Hoskins, »ein Tunnel würde Millionen verschlingen, und der Bau dauert Jahre.«
»Jedenfalls würden wir so verhindern, daß es zu neuen Unruhen kommt. Meine Aufgabe hier lautet, möglichst eine Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten zufrieden sind. Ich habe den Eindruck, ein Tunnel wäre eine sehr vernünftige Alternative. Wie auch immer, der Plan ist noch nicht ausgereift.«
»Ja aber ...«, setzte Hoskins an, doch Dundridge war aufgestanden, machte eine lässige Bemerkung über den nötigen Weitblick und begab sich auf sein Zimmer. Nachdenklich ging Hoskins zum Regionalen Planungsamt zurück. Er hatte Dundridge falsch eingeschätzt. Eigentlich war der Mann doch kein Trottel. Andererseits fand er Lady Maud bezaubernd und reizend. »Scheiß-Perverser«, murmelte Hoskins, als er den Hörer abnahm. Sir Giles würde das gar nicht gefallen. *
Das gleiche galt für Klex. Er hatte im Küchengarten einen relativ telefonarmen Tag verbracht. Morgens hatte Dundridge angerufen, aber die meiste Zeit über war er in Ruhe gelassen worden. Um halb fünf am Nachmittag hatte er mitgehört, wie Sir Giles Hoskins anrief und ihm von dem Tunnel berichtete. Eine Stunde später goß er gerade die Tomaten, als Hoskins zurückrief, um zu berichten, Dundridge meine es ernst mit dem Tunnel.
»Das kann nicht sein«, fauchte Sir Giles. »Die Idee ist hanebüchen, eine unglaubliche Verschwendung von Steuergeldern.«
Klex schüttelte den Kopf. Die Idee mit dem Tunnel fand er ausgezeichnet.
»Versuchen Sie doch, ihm das klarzumachen«, schlug Hoskins vor.
»Was ist mit Leakham?« fragte Sir Giles. »Der wird doch dafür kein grünes Licht geben, oder?«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Hängt davon ab, was dieser Dundridge in London zu melden hat. Möglicherweise wird das Ministerium Leakham unter Druck setzen.« Eine Gesprächspause entstand, in der Sir Giles nachdachte. Im Gewächshaus rang Klex mit den Verzwicktheiten der englischen Sprache. Weshalb sollte Lord Leakham für den Tunnel grünes Licht geben? Was sollte Dundridge in London melden? Und warum hatte Sir Giles überhaupt etwas gegen einen Tunnel? Es war alles sehr merkwürdig. »Dann hab’ ich noch eine Neuigkeit für Sie«, sagte Hoskins schließlich. »Er ist spitz auf Ihre Alte.« Sir Giles gab einen erstickten Laut von sich. »Was ist er?« schrie er.
»Maud hat es ihm angetan«, berichtete Hoskins. »Er sagt, er findet sie bezaubernd und reizend.«
»Bezaubernd und reizend?« fragte Sir Giles. »Maud?«
»Und wohlproportioniert.«
»Herr im Himmel. Kein Wunder, daß sie aussieht wie die Katze, die den Kanarienvogel verspeist hat.«
»Ich dachte bloß, das sollten Sie wissen«, sagte Hoskins. »Vielleicht gibt uns das eine Art Druckmittel in die Hand.«
»Abartig?«
»Schon möglich«, sagte Hoskins.
»Wir treffen uns um neun im Club«, sagte Sir Giles kurz entschlossen. »Das muß man überdenken.« Er legte auf. *
Im Gewächshaus starrte Klex mit aschfahlem Gesicht in die Geranien. Sir Giles war zwar überrascht gewesen, aber Klexens Reaktion fiel noch weit heftiger aus. Die plötzliche Entdeckung, in Lady Maud verliebt zu sein, hatte sein Leben verschönert. Der Gedanke, daß Dundridge seine Gefühle teilte, versetzte ihn in Wut. Sir Giles zählte nicht. Zweifellos verachtete Lady Maud ihren Mann, und Klex hatte aus dem, was sie sagte, herausgehört, daß es da eine andere Frau in London gab. Er verließ das Gewächshaus, räumte auf und ging heim. Sein Heim war das Pförtnerhaus. Dem Architekten des Bogens war es gelungen, das Monumentale mit dem Nützlichen zu verbinden, so daß hier früher einmal mehrere Gutsarbeiterfamilien unter ziemlich beengten und unhygienischen Verhältnissen gewohnt hatten. Klex hatte das Gebäude für sich allein und fand es annehmbar. Der Bogen wies zwar einige Unbequemlichkeiten auf – die Fenster waren extrem klein und zwischen den Außendekorationen versteckt, es gab nur eine einzige Tür, so daß man die Treppe nach oben klettern und dann »umsteigen« mußte, wollte man von einer Seite des Bogens auf die andere wechseln –, aber Klex hatte es sich in dem großen Zimmer oben im Bogen sehr gemütlich gemacht. Durch ein rundes Fenster auf einer Seite konnte er das Gutshaus im Auge behalten und durch ein anderes Besucher überprüfen, die die Brücke überquerten. Einen kleinen Raum hatte er in ein Badezimmer und einen anderen in eine Küche verwandelt; in einigen anderen Zimmern lagerte er Äpfel, die im ganzen Gebäude einen angenehmen Duft verbreiteten. Und schließlich war da noch seine Bibliothek, angefüllt mit Büchern, die er an den Marktständen in Worford oder in dem Antiquariat in der Ferret Lane erstanden hatte. In Klex’ Bibliothek standen keine Romane und keine Unterhaltungsliteratur, sondern ausschließlich Bücher über englische Geschichte. Sie war, wenn man so will, die Frucht der geballten Neugier eines Forschers, der alles über das Land erfahren will, das ihn aufgenommen hat. Wenn sich das Geheimnis, was es bedeutet, ein Engländer zu sein, überhaupt ergründen ließ, so mußte man Klex’ Meinung nach in der Vergangenheit danach suchen. An langen Winterabenden saß er, vom Zauber Englands gefesselt, vor seinem Ofen. Bestimmte Personen spielten in seiner Phantasie eine besonders große Rolle – Heinrich VIII., Drake, Cromwell, Eduard I. –, und er neigte dazu, wenn nicht sich selbst, so doch andere mit den Helden und Bösewichtern der Geschichte zu identifizieren. Trotz ihrer Ehe verkörperte Lady Maud für ihn die jungfräuliche Königin, Elisabeth L, während Sir Giles die weniger angenehmen Eigenschaften Sir Robert Walpoles in sich zu vereinen schien.
Doch das war im Winter. Im Sommer war er auf Achse. Zweimal die Woche radelte er nach Guildstead Carbonell in den Royal George und saß im Schankraum, bis es Zeit wurde, ins Bett zu gehen; das fragliche Bett gehörte der Eigentümerin dieser Kneipe, einer Mrs. Wynn, die von ihrem Ehemann infolge Feindeinwirkung am Tag X netterweise als Witwe zurückgelassen worden war. Mrs. Wynn war Klexens letzte Kundin aus Kriegstagen, und daß die Affäre noch Bestand hatte, beruhte mehr auf Gewohnheit als auf gegenseitiger Zuneigung. In Mrs. Wynns Augen war Klex nützlich – er trocknete Gläser ab und schleppte Flaschen–, und in Klex’ Augen war Mrs. Wynn angenehm, anspruchslos, und sie versorgte ihn mit Bier. Er hatte eine Schwäche für die Sorte Handyman Brown. Aber als er sich nun den Hals wusch – es war Freitagabend, und Mrs. Wynn erwartete ihn – war er sich darüber im klaren, daß er nicht mehr dasselbe für sie empfand. Nicht daß er je sehr viel empfunden hatte, aber auch dieses bißchen war durch die plötzliche Gefühlsaufwallung für Maud beiseitegefegt worden. Er hegte keinerlei Hoffnungen, in der Richtung etwas unternehmen zu können, dazu war er zu vernünftig. Es kam ihm nur einfach nicht mehr richtig vor, Mrs. Wynn weiterhin Besuche abzustatten. Auf jeden Fall war das alles sehr merkwürdig. Er hatte zwar schon immer eine Schwäche für Lady Maud gehabt, aber diesmal war es anders; ihm kam der Gedanke, daß er womöglich krank werde oder sowas Ähnliches. Klex streckte die Zunge heraus und musterte sie im Badezimmerspiegel, aber sie machte einen ganz normalen Eindruck. Vielleicht war das Wetter schuld. Er hatte mal jemanden etwas über den Frühling und junge Männer sagen hören, deren Säfte stiegen, aber Klex war kein junger Mann. Er war fünfzig. Fünfzig und verliebt. Verrückt. Er ging nach unten, holte sein Fahrrad und radelte über die Brücke in Richtung Guildstead Carbonell. Gerade war er an der Kreuzung angekommen, da hörte er von hinten ein Auto heranbrausen. Er stieg ab und ließ es vorbei. Es war Sir Giles in seinem Bentley. »Fährt in den Golf Club, um sich mit Hoskins zu treffen«, dachte er und sah dem Wagen mißtrauisch nach. »Der führt was im Schilde.« Er stieg wieder auf und fuhr schweren Herzens im Leerlauf den Hügel hinunter und auf den Royal George und Mrs. Wynn zu. Vielleicht sollte er Maud berichten, was er gehört hatte. Doch diese Idee sagte ihm nicht sonderlich zu, und er wollte ihr ohnehin nicht erzählen, daß Dundridge sich zu ihr hingezogen fühlte. »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«, sagte er sich, erfreut über seine Sprachkenntnisse.
*
Im Golf Club von Worford erörterten Sir Giles und Hoskins ihre Taktik.
»Er muß einen schwachen Punkt haben«, sagte Sir Giles. »Jeder Mensch hat seinen Preis.«
»Maud?« meinte Hoskins.
»Seien Sie nicht kindisch«, sagte Sir Giles. »Wo es um diese Anwartschaftsklausel im Vertrag geht, wird sie doch wohl nicht mit einem schäbigen Beamten rumturteln. Außerdem glaub ich’s nicht.«
»Ich habe deutlich gehört, wie er sagte, er fände sie bezaubernd. Und wohlproportioniert.«
»Meinetwegen, ihm gefallen also dicke Frauen. Was gefällt ihm sonst noch?«
Hoskins zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Das herauszukriegen, braucht seine Zeit.«
»Zeit haben wir keine. Sobald er das von diesem verfluchten Tunnel rumerzählt, ist der Teufel los. Nein, wir müssen rasch handeln.«
Hoskins beäugte ihn mißtrauisch. »Was soll dieses ganze ›Wir‹–Gefasel?« fragte er. »Es ist Ihr Problem, nicht meines.« Sir Giles knabberte nachdenklich an einem Fingernagel. »Wieviel?«
»Fünftausend.«
»Für was?«
»Was immer Sie beschließen.«
»Sagen wir fünf Prozent der Entschädigungssumme. Wenn sie ausgezahlt wird.«
Hoskins stellte eine kurze Berechnung an und verlangte zwölfeinhalbtausend. »Bar auf die Kralle«, sagte er. »Sie sind ein harter Brocken, Hoskins, ein harter Brocken«, sagte Sir Giles traurig.
»Egal, was verlangen Sie nun von mir? Soll ich ihn aushorchen?«
Sir Giles schüttelte den Kopf. Seine Augen funkelten. »Abartig«, sagte er. »Abartig. Weshalb haben Sie das gesagt?«
»Keine Ahnung. Nur laut gedacht«, sagte Hoskins. »Jungs, meinen Sie das?«
»Schwer zu sagen«, meinte Hoskins. »Solche Sachen herauszufinden, dauert seine Zeit.«
»Schnaps, Drogen, Jungs, Weiber, Geld. Es muß irgendwas geben, was er unbedingt haben will.«
»Wir könnten ihm natürlich was anhängen«, sagte Hoskins. »Ist alles schon mal dagewesen.«
Sir Giles nickte. »Das ungebetene Geschenk. Der anonyme Spender. Das hat es allerdings schon gegeben. Es ist nur zu riskant. Was ist, wenn er zur Polizei rennt?«
»Wer wagt, gewinnt«, sagte Hoskins. »Jedenfalls bekäme er keinen Hinweis, von wem es stammt. Ich könnte wetten, daß er den Köder schluckt.«
»Und wenn nicht, geht er uns durch die Lappen. Nein, es muß etwas Narrensicheres sein.«
Sie schwiegen und dachten über eine angemessen kompromittierende Zukunft für Dundridge nach. »Halten Sie ihn für ehrgeizig?« fragte Sir Giles nach einer Weile.
Hoskins nickte. »Sehr.«
»Kennen Sie irgendwelche Schwulen?«
»In Worford? Sie machen wohl Witze«, sagte Hoskins. »Egal wo.«
Hoskins schüttelte den Kopf. »Wenn Sie denken, was ich denke ...«
»Das tue ich.«
»Fotos?«
»Fotos«, stimmte Sir Giles zu. »Hübsche kompromittierende Fotos.«
Hoskins ließ sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen. »Da haben wir Bessie Williams«, sagte er. »War mal Modell, Sie wissen schon. Hat einen Fotografen in Bridgeminster geheiratet. Sie würde’s machen, wenn die Bezahlung stimmt.« Er dachte zurück und lächelte. »Ich kann mal mit ihr reden.«
»Tun Sie das«, sagte Sir Giles. »Ich zahle bis zu fünfhundert für eine anständige Fotoserie.«
»Überlassen Sie das mir«, riet ihm Hoskins. »Und nun zum Bargeld.«
Als Sir Giles den Golf Club verließ, war die Sache soweit geregelt. Whiskybenebelt fuhr er nach Hause. »Erst der Stock und dann die Mohrrübe«, murmelte er. Morgen würde er nach London fahren und Mrs. Forthby einen Besuch abstatten. Es war ohnehin ratsam, aus der Gegend zu verschwinden, wenn die Sache ins Rollen kam.