Kapitel 17

Als die Dämmerung über die Cleene-Schlucht hereinbrach, trat Klex mit einem Spaten in der Hand aus dem Pförtnerhaus. Er hatte zu Abend gegessen – Würstchen mit Kartoffelbrei – und war angenehm satt. Vor allem war er glücklich. Als er an der Parkmauer entlang nach Westen ging und genau die Stelle fand, wo er als Kriegsgefangener hinübergeklettert war, befiel ihn eine jungenhafte Aufregung. Das Stück Eisenzaun, das er an die Mauer gelehnt und als Kletterhilfe benutzt hatte, war immer noch da und rostete in einer mit Brennesseln bewachsenen Ecke vor sich hin. Klex zog es heraus, lehnte es an die Mauer und kletterte hoch. Zwar war der Stacheldraht verschwunden, doch als er rittlings auf der Mauer saß und dann auf die andere Seite sprang, verspürte er das gleiche Freiheitsgefühl wie Nacht für Nacht vor über dreißig Jahren. Nicht daß ihm das Lagerleben mißfallen hatte; er hatte sich freier gefühlt als je zuvor. Sich nachts davonzuschleichen und allein durch die Wälder zu streifen, bedeutete, dem Waisenhaus in Dresden und all den kleinlichen Beschränkungen seiner Kindheit zu entfliehen. Dadurch hatte er der Obrigkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich selbst gefunden.

Als er sich nun durch das Farngestrüpp kämpfte und zwischen den Bäumen bergauf kletterte, war es genauso. Wieder tat er das Verbotene, und er genoß es. Nach einem knappen Kilometer immer den Hügel hinauf kam er an eine Lichtung. Hier mußte man sich links halten. Klex hielt sich links, folgte seinem alten Instinkt so sicher, als befände er sich auf einem Pfad, und kam im Licht der untergehenden Sonne hinter einem Steinhügel heraus, der früher einmal ein kleines Landhaus gewesen war. Dort ging er wieder den Hügel hinauf bis zu dem Baum, den er gesucht hatte. Es war eine große alte Eiche. Klex ging um den Stamm herum und fand die Kerbe, die er in die Rinde geritzt hatte. Dort ging er, seine Schritte zählend, vom Baum weg.

Dann zog er sich die Jacke aus und fing an zu graben. Eine Stunde brauchte er, um auf das Waffenlager zu stoßen, aber sein Gedächtnis hatte ihn nicht im Stich gelassen. Er zog eine Kiste heraus, deren Deckel er mit einem Hammer aufbrach. Drinnen lag ein in Öltuch gewickelter, eingefetteter Granatwerfer. Er zerrte noch eine Kiste ans Licht – Granaten. Schließlich fand er, wonach er suchte: die lange Kiste und die Kartons mit den panzerbrechenden Raketen. Er setzte sich auf die Kiste und überlegte, was zu tun sei. Eigentlich konnte er ja bloß die Raketen verwenden. Er brauchte lediglich eine Schnur an die Stabilisierungsflosse zu binden und das Ding von oben auf den Safe fallen zu lassen. Das würde seinen Zweck genauso gut erfüllen, wie wenn er eine Rakete auf den Safe abfeuerte. Da er andererseits schon mal hier war, konnte er das APIG ruhig mit nach Hause nehmen und reinigen. Es gab bestimmt ein interessantes Souvenir ab. Den Granatwerfer und die Kartons mit den Granaten legte Klex wieder in das Loch und schüttete es zu. Dann machte er sich mit der langen Kiste auf den Heimweg. Sie war sehr schwer, und er mußte öfter anhalten und ausruhen. Als er beim Pförtnerhaus ankam, war es dunkel. Er wuchtete die Kiste in sein Zimmer und ging noch einmal weg, um die Raketen zu holen, die er nicht in sein Zimmer trug, sondern draußen im Gras liegen ließ. Er hatte keine Lust, neben dreißig Jahre alten Raketen zu schlafen.

Am Morgen stand er früh auf und machte sich in der Schlucht zu schaffen. Er brachte den Safe mit einer Schubkarre hinunter und stellte ihn hochkam am Fuß eines Felsens auf. Dann band er eine lange Schnur um den Drehknopf des Kombinationsschlosses und stieg mit dem Ende auf den Felsen, wo er es an einem überhängenden Ast befestigte, so daß die Schnur nun etwa fünfzehn Meter tief direkt bis zum Safe führte. Schließlich griff er sich zwei der mit Stabilisierungsflossen versehenen Projektile und band ein kurzes Stück Schnur an die Flosse des einen. An dem anderen Schnurende befestigte er einen Ring, band die lange Schnur los, steckte sie durch den Ring und knotete sie anschließend wieder an den Ast. Dann legte er sich auf den Felsen und entfernte die Schutzkappe vom Sprengzünder an der Raketennase. Klex warf einen Blick über den Felsrand. Direkt unter ihm stand der Safe. Er streckte die Hand mit der APIG–Bombe aus, ließ los und sah zu, wie sie an der Schnur hinunterstürzte. Im nächsten Augenblick blitzte und krachte es. Als Klex die Augen schloß und den Kopf zurückzog, sauste auch schon etwas an ihm vorbei hoch in die Luft. Er sah nach oben. Die Raketenflosse erreichte ihren Scheitelpunkt, beschrieb eine Kurve und landete hinter ihm auf der Straße. Er erhob sich und ging zum Safe hinunter. Die Bombe hatte das Kombinationsschloß zwar verfehlt, aber dennoch ganze Arbeit geleistet und ein bleistiftgroßes Loch in die Vorderseite des Safes gesprengt. Die Tür war offen.

Lady Maud frühstückte gerade, als sie die Detonation vernahm. Einen Moment lang dachte sie, Klex sei auf Kaninchenjagd; doch der Explosion folgten eine Erschütterung und ein Echo, die auf etwas Heftigeres als einen Gewehrschuß hindeuteten. Sie ging nach draußen und sah, daß Klex auf der anderen Seite des Flusses den Felsenweg herunterkam. Natürlich – der Safe. Er hatte geschworen, er würde ihn aufsprengen, und jetzt war es passiert. Sie rannte quer über den Rasen, durch die Schonung und über die Fußgängerbrücke. Sie kam bei Klex an, als der sich gerade über den Safe beugte. »Haben Sie es geschafft?« fragte sie.

»Ja, er ist offen«, sagte Klex, »aber viel ist nicht drin.« Das sah Lady Maud auch. Der Safe war innen viel kleiner, als sie erwartet hatte, und schien lauter verbrannte, angekohlte und zerrissene Papierfetzen zu enthalten. Sie nahm einen heraus, der sich als Teil eines ehemaligen Fotos entpuppte. Sie hielt das Fragment in die Höhe und sah es sich genauer an: offenbar die Beine eines nackten Mannes. Sie griff wieder in den Safe und nahm noch ein Teil heraus, diesmal einen Arm, einen nackten Arm, und etwas, das wie eine Frauenbrust aussah. Sie schaute noch einmal in den Safe, der aber außer den Fotofetzen nichts enthielt.

»Ich hole mal eben einen Umschlag«, sagte Lady Maud. »Nichts anfassen, bis ich wieder da bin.« Nachdenklich ging sie zurück zum Herrenhaus, während Klex die unbenutzte APIG- Bombe vom Felsen herunterholte. Nun wußte er wenigstens, daß sie funktionierten. »Wer weiß, wozu die noch mal gut sind«, sagte er sich und trug sie zum Pförtnerhaus zurück. Eine Stunde später lag der Safe am Fuß des Felsens unter ein paar Sträuchern vergraben, und Klex hatte sich wieder in den Küchengarten verzogen. Im Arbeitszimmer saß Lady Maud am Schreibtisch, betrachtete die Überreste der Fotos und versuchte herauszufinden, welche Körperteile zueinanderpaßten – eine schwierige und nicht sehr erbauliche Aufgabe. Um sie ordentlich zusammenzusetzen, waren die Fotos zu verkohlt und zerrissen; außerdem hatte die Wucht der Explosion zur Enthauptung der an diesen – wie selbst das vorliegende magere Beweismaterial zu belegen schien – widernatürlichen Akten Beteiligten geführt. Mager war übrigens das richtige Wort, wenigstens was den Mann betraf. Damit schied Sir Giles aus; wirklich schade. Den einen oder anderen fotografischen Beleg für seine obszönen Angewohnheiten hätte sie gut gebrauchen können. Sie griff nach einem weiteren Fetzen und wollte gerade die passende Stelle im Puzzle suchen, als ihr einfiel, wo sie diese mageren Beine und diese blassen Füße schon mal gesehen hatte. Aber natürlich: Über den Marmorfußboden der Eingangshalle huschend. Sie warf noch einen Blick auf das Beinteil und den Arm. Gar kein Zweifel möglich. Dundridge. Dundridge, wie er sich ... Es war ungeheuerlich. Als sie gerade überlegte, was diese unglaubliche Vorstellung bedeutete, klingelte es an der Haustür. Sie ging nach vorn und öffnete die Tür. Es war der Geschäftsführer der Firma, die Hochsicherheitszäune errichtete.

»Ah, gut«, sagte Lady Maud. »Lassen sie uns gleich zum Geschäftlichen kommen. Ich werde Ihnen genau zeigen, was mir vorschwebt.« Sie gingen ins Billardzimmer, und Lady Maud breitete eine Landkarte des Grundstücks aus. »Ich eröffne einen Großwildpark«, erklärte sie. »Ich möchte, daß der gesamte Park eingezäunt wird. Die Umzäunung muß für alle Tiere, die es gibt, absolut sicher und undurchdringlich sein.«

»Aber ich habe gehört ...«, meinte der Geschäftsmann. »Was Sie gehört haben, interessiert mich nicht«, sagte Lady Maud. »Hören Sie jetzt mal gut zu: Ich eröffne in drei Wochen einen Großwildpark.«

»In drei Wochen? Nicht zu machen.«

Lady Maud faltete die Karte zusammen. »Wenn das so ist, bekommt jemand anderer den Auftrag«, sagte sie. »Ein leistungsfähiges Unternehmen, das in der Lage ist, einen geeigneten Zaun ...«

»Sie werden keine Firma finden, die das in drei Wochen macht«, sagte der Geschäftsführer. »Es sei denn, Sie zahlen ein Vermögen.

»Ich bin bereit, ein Vermögen zu zahlen«, sagte Lady Maud. Der Experte sah sie an und rieb sich das Kinn. »Drei Wochen?« fragte er.

»Drei Wochen«, bestätigte Lady Maud.

Er zückte ein Notizbuch und rechnete. »Betrachten Sie das lediglich als grobe Schätzung«, sagte er schließlich, »aber ich würde sagen, irgendwo in der Gegend von fünfundzwanzigtausend Pfund.«

»Sagen wir dreißig, dann haben wir’s hinter uns«, schlug Lady Maud vor. »Dreißigtausend Pfund, wenn der Zaun in drei Wochen steht, von heute an gerechnet, einen Bonus von tausend pro Tag für jeden Tag unter drei Wochen, sowie eine Vertragsstrafe von zweitausend Pfund für jeden Tag über drei Wochen.«

Der Geschäftsführer glotzte sie mit offenem Mund an. »Sie müssen ja wissen, was Sie da machen«, murmelte er. »Ich weiß ganz genau, was ich mache, verbindlichen Dank«, entgegnete Lady Maud. »Hinzu kommt, daß Sie Tag und Nacht arbeiten werden. Nachts schaffen Sie Ihre Materialien her. Ich will nicht, daß tagsüber Laster ankommen, und Sie bringen Ihre Männer hier unter. Die Räumlichkeiten stelle ich zur Verfügung, Sie sorgen für Betten und Verpflegung. Die ganze Operation muß streng geheim abgewickelt werden.«

»Sie gestatten«, sagte der Geschäftsführer und setzte sich auf einen Stuhl. Lady Maud nahm ihm gegenüber Platz. »Also?«

»Ich weiß nicht recht«, sagte der Zaunexperte. »Machbar ist es zwar ...«

»Und es wird gemacht«, versicherte ihm Lady Maud, »entweder von Ihnen oder von jemand anderem.«

»Ihnen ist doch klar, daß die Kosten auf siebenunddreißigtausend Pfund steigen, falls wir den Auftrag in vierzehn Tagen schaffen.«

»Es wäre mir ein Vergnügen. Und wenn sie in einer Woche fertig wären, würde ich liebend gern zweiundvierzigtausend Pfund auf den Tisch blättern«, sagte sie. »Sind wir uns einig?« Der Geschäftsführer nickte. »Gut, dann stelle ich Ihnen sofort einen Scheck über zehntausend und zwei auf später datierte Schecks über den gleichen Betrag aus. Als Zeichen meiner Vertrauenswürdigkeit wird das wohl ausreichen, denke ich.« Sie ging ins Arbeitszimmer und schrieb die Schecks aus. »Ich erwarte, daß noch heute nacht Baumaterialien angeliefert und die Arbeiten unverzüglich aufgenommen werden. Sie können den Vertrag morgen zur Unterschrift vorbeibringen. «

Erschüttert verließ der Geschäftsführer das Haus und stieg in seinen Wagen. »Reif für die Klapse, überreif«, murmelte er, als er die Auffahrt hinunterfuhr.

Lady Maud ging zurück ins Arbeitszimmer und setzte sich. Es kostete mehr, als sie geahnt hatte, war aber jeden Penny wert. Und dann waren da noch die Kosten für die Tiere. Löwen gab es nicht im Sonderangebot, und ein Nashorn schon gar nicht. Außerdem waren da noch diese rätselhaften Fotos. Was hatten obszöne Aufnahmen von Mr. Dundridge in Giles’ Safe zu suchen? Sie stand auf, ging in den Garten und flanierte den Weg neben der Mauer zum Küchengarten auf und ab. Und plötzlich ging ihr ein Licht auf. Nun wurde alles klar, vor allem der Grund für Dundridges Sinnesänderung, was den Tunnel betraf. Der miese kleine Mann war erpreßt worden. Tja, da konnten zwei Spieler mitreizen. Weiß Gott, das konnten sie. Sie ging durch das Tor in den Küchengarten.

»Hat mein Mann je eine Frau in London angerufen?« fragte sie Klex.

»Seine Sekretärin«, sagte Klex. Lady Maud schüttelte den Kopf. Sir Giles’ Sekretärin gehörte nicht zu der Sorte Frauen, die sich mit dem Vorschlag anfreundeten, ihren Arbeitgeber an ein Bettgestell zu fesseln und durchzuprügeln; außerdem war sie glücklich verheiratet.

»Sonst keine?«

»Nein.«

»Hat er bei seinen Telefonaten je eine Frau erwähnt?« Klex strapazierte sein Gedächtnis. »Nein, ich glaube nicht.«

»Wenn das so ist, Klex«, sagte sie, »fahren Sie und ich morgen nach London.«

Klex starrte sie erstaunt an. »Nach London?« Er war noch nie in London gewesen.

»Nach London. Wir werden ein paar Tage unterwegs sein.«

»Was soll ich denn anziehen?« wollte Klex wissen.

»Einen Anzug natürlich.«

»Ich hab’ keinen«, sagte Klex.

»Na, dann fahren wir am besten nach Worford und kaufen Ihnen einen«, sagte Lady Maud. »Und wenn wir schon mal dabei sind, können wir auch noch eine Kamera kaufen. In zehn Minuten geht’s los.«

Sie ging wieder ins Haus, steckte die Fotos in einen Umschlag und versteckte ihn im Bücherregal hinter ein paar Wälzern. Vielleicht war es keine schlechte Idee, Dundridge einen Besuch abzustatten, wenn sie schon mal in Worford war.