8
ZORN
1. November 1980
Letzte Nacht haben wir ein fantastisches Samhain gefeiert ! Nach einem energiegeladenen Kreis, den Ma mir erlaubte zu leiten, tanzten wir, spielten Musik, beobachteten die Sterne und hofften darauf, dass bessere Zeiten kommen. Es war eine Nacht voller Apfelwein, Lachen und Hoffnung. Es war so ruhig in letzter Zeit – ist das Böse weitergezogen? Hat es ein anderes Zuhause gefunden? Göttin, ich bete nicht darum, denn ich möchte nicht, dass andere so leiden müssen, wie wir gelitten haben. Aber ich bin dankbar, dass wir nicht mehr bei jedem Geräusch zusammenzucken müssen.
Angus hat mir einen süßen kleinen Kater geschenkt – ein winziges weißes Ding, das ich Dagda getauft habe. Das bedeutet Guter Gott und mit dem Namen wird er seinem Ruf alle Ehre machen müssen! Er ist winzig und so süß. Ich liebe ihn – typisch Angus, auf so eine Idee zu kommen. Heute ist meine Welt gesegnet und voller Frieden. Lob sei der Göttin, dass sie uns ein weiteres Jahr beschützt hat.
Lob sei der Mutter Erde, dass sie nah und fern ihre Gaben mit uns teilt.
Lob sei der Magie, aus der alles Gute fließt.
Lob sei meinem Herzen – ich folge ihm, wohin es geht. Gesegnet sei.
– Bradhadair
Jetzt miaut Dagda, weil er raus will!
»Was ist los?«, wollte Robbie im Auto wissen.
Ich schniefte und wischte mir mit der Hand übers Gesicht. »Oh, Alyce hat mir eine traurige Geschichte von einer Hexe erzählt, die gestorben ist.«
Er kniff die Augen zusammen. »Und du weinst, weil … «, hakte er nach.
»Es mir nahegegangen ist«, antwortete ich, um einen leichten Tonfall bemüht. »Ich bin so weichherzig. «
»Okay, red keinen Mist«, sagte er leicht gereizt, warf den Motor an und fuhr los.
»Es ist … Ich kann noch nicht darüber reden, okay, Robbie?«, flüsterte ich beinahe.
Er schwieg noch ein paar Augenblicke, dann nickte er. »Okay. Aber solltest du je eine Schulter brauchen, ich bin da. «
Das war so süß von ihm, dass eine warme Welle über mich schwappte. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. »Danke. Das hilft. Ehrlich.«
Während wir fuhren, wurde es dunkel, und als wir zur Schule zurückkamen, brannten schon die Straßenlaternen. Meine Gedanken waren allein um das Schicksal meiner leiblichen Mutter gekreist, und ich war überrascht, als das Schulgebäude ins Blickfeld kam, Robbie anhielt und ich mein Auto ganz allein am Straßenrand stehen sah.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich. Es war dunkel, der Wind wehte das Laub von den Bäumen und wirbelte es durch die Luft. Ein Blatt strich an mir vorbei und ich zuckte zusammen.
»Alles okay?«, fragte er.
»Ich glaube schon. Danke noch mal. Bis morgen«, sagte ich und stieg in Das Boot.
Ich fühlte mich, als hätte ich die Geschichte meiner leiblichen Mutter durchlebt. Sie musste die Maeve Riordan auf meiner Geburtsurkunde sein. Sie musste es sein. Ich überlegte fieberhaft, ob mein Geburtsort darauf gestanden hatte – ob es Meshomah Falls gewesen war oder Widow’s Vale. Doch ich konnte mich nicht erinnern. Kannten meine Eltern die Geschichte? Wie hatten sie mich gefunden? Wie war ich adoptiert worden? Immer wieder dieselben Fragen.
Als ich den Motor meines Wagens anwarf, spürte ich, wie frischer Zorn in mir aufstieg. Sie hatten die Antworten und sie würden sie mir geben. Heute Abend. Einen weiteren Tag in diesem Zustand des Nichtwissens würde ich nicht überstehen.
Zu Hause parkte ich und stürmte zur Haustür. Dabei formulierte ich in Gedanken schon die Worte, die ich sagen wollte, die Fragen, die ich stellen wollte. Ich trat durch die Haustür …
Und traf auf Tante Eileen und ihre Freundin, Paula Steen, die auf der Couch saßen.
»Morgan! «, sagte Tante Eileen und streckte mir die Arme entgegen. »Wie geht’s meiner Lieblingsnichte?«
Ich umarmte sie und Mary K. sagte: »Das hat sie zu mir auch gesagt.«
Tante Eileen lachte. »Ihr seid eben beide meine Lieblingsnichten. «
Ich lächelte und versuchte im Geiste, einen anderen Gang einzulegen. Eine Konfrontation mit meinen Eltern stand jetzt erst mal nicht mehr auf dem Programm. Und dann … dann wurde mir bewusst, dass Tante Eileen wusste, dass ich adoptiert war. Natürlich wusste sie es. Sie war schließlich die Schwester meiner Mutter. Wenn ich es mir recht überlegte, mussten alle Freunde meiner Eltern es wissen. Meine Mutter und mein Vater hatten immer schon hier in Widow’s Vale gelebt, und wenn meine Mutter nicht eine Schwangerschaft vorgetäuscht hatte, was ich mir nicht recht vorstellen konnte, wussten sie alle, dass ich plötzlich einfach so aus dem Nichts aufgetaucht war. Und dann, zwei Jahre später, hatte sie dann tatsächlich ein Kind bekommen: Mary K. O mein Gott, dachte ich entsetzt. Ich fühlte mich durch und durch gedemütigt und beschämt.
»Wir haben was vom Chinesen mitgebracht«, sagte Tante Eileen und stand auf.
»Essen ist fertig! «, rief meine Mutter aus dem Esszimmer. Ich hätte alles darum gegeben, nicht hineingehen zu müssen, aber es gab keine Möglichkeit, mich zu drücken. Also schwärmten wir hinein. Weiße Kartonverpackungen und Styroporbehälter waren auf dem Tisch verteilt.
»Hi«, sagte Mom und sah mir forschend ins Gesicht. »Du kommst gerade rechtzeitig.«
»Mhm«, sagte ich, ohne ihren Blick zu erwidern. »Ich war mit Robbie unterwegs.«
»Robbie sieht in letzter Zeit toll aus«, sagte Mary K. und nahm sich etwas vom Orangenhühnchen. »War er bei einem neuen Hautarzt?«
»Ähm, ich weiß nicht«, sagte ich vage. »Aber seine Haut ist wirklich viel besser geworden. «
»Vielleicht ist er einfach rausgewachsen«, meinte meine Mutter. Ich konnte nicht glauben, dass sie hier so höflich plauderte. Frust stieg in mir auf, während ich auf meinem Abendessen herumkaute.
»Könnte mir mal jemand das Schweinefleisch rübergeben ?«, fragte mein Vater.
Eine Weile aßen wir schweigend. Falls Tante Eileen und Paula auffiel, dass die Stimmung ein bisschen komisch war, dass wir gestelzt waren und nicht besonders zum Reden aufgelegt, dann ließen sie sich nichts anmerken. Selbst Mary K., so munter sie von Natur aus auch war, hielt sich zurück.
»O Morgan, Janice hat angerufen«, sagte mein Vater. Ich merkte, dass er sich um einen normalen Tonfall bemühte. »Du möchtest sie bitte zurückrufen. Ich habe ihr gesagt, du würdest dich nach dem Abendessen melden.«
»Okay. Danke«, sagte ich und stopfte mir ein großes Stück Lauchpfannkuchen in den Mund, damit es nicht weiter auffiel, dass ich so schweigsam war.
Nach dem Essen stand Tante Eileen auf und ging in die Küche, und als sie wiederkam, brachte sie eine Flasche Cider und ein Tablett mit Gläsern mit.
»Nanu?«, fragte meine Mutter mit einem überraschten Lächeln.
»Nun«, sagte Tante Eileen schüchtern, während Paula aufstand und sich neben sie stellte. »Wir haben sehr aufregende Neuigkeiten. «
Mary K. und ich tauschten einen Blick.
»Wir ziehen zusammen«, verkündete Eileen mit einem glücklichen Strahlen. Sie lächelte Paula an und Paula umarmte sie.
»Ich habe meine Wohnung schon in die Zeitung gesetzt und wir suchen ein Haus«, sagte Paula.
»O toll«, sagte Mary K. und stand auf, um Tante Eileen und Paula zu umarmen.
Sie strahlten. Ich stand ebenfalls auf und umarmte sie, genau wie Mom. Dad umarmte Eileen und schüttelte Paula die Hand.
»Also, das sind ja tolle Neuigkeiten«, sagte Mom, obwohl ihre Miene eher sagte, sie fände es besser, wenn sie sich länger kennen würden.
Eileen öffnete den Cider und schenkte ein. Paula reichte Gläser herum und Mary K. und ich nippten augenblicklich daran.
»Wollt ihr zusammen ein Haus kaufen oder mieten?«, fragte Mom.
»Wir würden gern etwas kaufen«, antwortete Eileen. »Wir haben jetzt beide eine Eigentumswohnung, aber ich hätte gern einen Hund, also brauchen wir einen Hof.«
»Und ich brauche Platz für einen Garten«, sagte Paula.
»Ein Hund und ein Garten schließen sich womöglich gegenseitig aus«, sagte mein Vater und sie lachten. Ich lächelte ebenfalls, aber es kam mir alles so unwirklich vor – als würde ich einer fremden Familie im Fernsehen zusehen.
»Ich hatte gehofft, du könntest uns bei der Suche nach einem Haus helfen«, sagte Eileen zu meiner Mutter.
Mom lächelte – zum ersten Mal seit vierundzwanzig Stunden. »Ich bin im Geiste schon ein paar Möglichkeiten durchgegangen«, gestand sie. »Könnt ihr so bald wie möglich im Büro vorbeikommen, damit wir ein paar Besichtigungstermine verabreden können?«
»Das wäre toll«, sagte Eileen. Paula drückte ihr die Schulter. Sie sahen einander an, als wären sie allein im Raum.
»Der Umzug wird der reinste Wahnsinn«, sagte Paula. »Ich habe überall Zeug verteilt: bei meiner Mutter, meinem Vater, meiner Schwester. Meine Wohnung war einfach zu klein für all meine Sachen.«
»Zum Glück habe ich eine Nichte, die nicht nur stark ist, sondern auch ein großes Auto besitzt«, meinte Tante Eileen strahlend und sah zu mir herüber.
Ich starrte sie an. Eigentlich war ich doch gar nicht ihre Nichte, oder? Selbst Eileen hatte bei dieser Scharade mitgespielt, die mein Leben war. Selbst sie, meine Lieblingstante, hatte gelogen und sechzehn Jahre lang Geheimnisse vor mir gehütet.
»Tante Eileen, weißt du, warum Mom und Dad mir nie gesagt haben, dass ich adoptiert bin?« Ich stellte es einfach in den Raum, und es schlug ein, als hätte ich gesagt, ich hätte die Beulenpest.
Alle starrten mich an, außer Mary K., die bekümmert in ihr Glas blickte, und Paula, die Tante Eileen mit einem besorgten Blick bedachte.
Tante Eileen sah aus, als hätte sie einen Frosch verschluckt. Mit großen Augen fragte sie: »Was?«, und warf meiner Mutter und meinem Vater einen kurzen Blick zu.
»Ich meine, findest du nicht, jemand hätte es mir sagen sollen? Vielleicht nur mal erwähnen? Du hättest doch etwas sagen können, oder? Vielleicht hast du es aber auch als nicht so besonders wichtig erachtet«, fuhr ich fort. Ich wusste, dass das nicht fair war. Aber irgendwie konnte ich auch nicht mehr aufhören. »Niemand scheint es wichtig zu finden. Schließlich reden wir hier ja nur über mein Leben.«
»Morgan«, sagte Mom niedergeschlagen.
»Ähm … «, meinte Tante Eileen nur, dieses eine Mal sprachlos.
Die anderen waren genauso verlegen wie ich und die festliche Stimmung hatte sich im Nu in Luft aufgelöst.
»Macht nichts«, sagte ich abrupt und stand auf. »Wir können später darüber reden. Warum nicht? Nach sechzehn Jahren, was sind da schon ein paar Tage?«
»Morgan, ich hatte immer das Gefühl, deine Eltern sollten diejenigen sein, die es dir sagen … «, sagte Tante Eileen unglücklich.
»Ja, richtig«, erwiderte ich barsch. »Und wann sollte das sein?«
Mary K. keuchte auf und ich schob polternd meinen Stuhl zurück. Ich ertrug es nicht, noch eine Sekunde länger in diesem Raum zu sein. Ihre Scheinheiligkeit war einfach unerträglich. Gleich würde ich explodieren.
Diesmal dachte ich daran, mir meine Jacke zu schnappen, bevor ich hinaus zu meinem Auto lief und in die Dunkelheit fuhr.