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VERBRANNT

8. Mai 1980

Angus hat mich gebeten, ihn an Beltane zu heiraten. Ich habe Nein gesagt. Ich bin erst achtzehn und bisher kaum aus Ballynigel rausgekommen. Ich hatte mir überlegt, so eine Tour zu machen – mit dem Bus einen Monat durch Europa zu reisen. Ich liebe Angus. Und ich weiß, dass er gut ist. Womöglich ist er sogar mein mùirn beatha dàn, mein Seelengefährte, aber wer weiß? Vielleicht auch nicht! Manchmal habe ich das Gefühl, er ist es, manchmal auch nicht. Die Sache ist die: Woher soll ich es wissen? Ich habe in meinem Leben bisher nur ganz wenige Hexen kennengelernt, mit denen ich nicht verwandt bin. Ich muss mir aber sicher sein. Ich muss mehr wissen, bevor ich mich entscheiden kann, für immer mit ihm zusammenzubleiben.

»Wohin fährst du?«, fragt er mich. »Mit wem wirst du zusammen sein? Jemand, der nicht von deiner Art ist, wie David O’Hearn? Ein Mensch?«

Natürlich nicht. Wenn ich Kinder will, kann ich nicht mit einem Menschen zusammen sein. Aber vielleicht will ich ja keine Kinder. Ich weiß es nicht. Es gibt nicht viele unseres Clans. Den Clan zu verlassen und in einen anderen zu gehen wäre treulos. Aber mein Schicksal mit achtzehn zu besiegeln kommt mir auch treulos vor – treulos mir selbst gegenüber.

Und nachdem all das passiert ist – Morags Ermordung, die Schadenssprüche, die verhexten Runen (Mathair nennt sie Sigillen), die wir gefunden haben – weiß ich es einfach nicht. Ich möchte fort. In nur drei Wochen mache ich mein Abitur, dann bin ich fertig mit der Schule. Ich kann’s kaum erwarten.

Jetzt ist es spät, und ich muss noch einen Abwehrzauber durchführen, bevor ich schlafen gehe, um Böses fernzuhalten. Das tun wir heutzutage alle.

– Bradhadair

 

Ich wartete, während Alcye in ihren Erinnerungen kramte. In der Nähe stand ein hoher Hocker, ramponiert und mit vielen Farbklecksen übersät. Ich hockte mich darauf, den Blick fest auf Alyces Gesicht gerichtet.

»Ich habe Maeve Riordan nicht persönlich gekannt«, sagte Alyce schließlich. »Ich bin ihr nie begegnet. Ich habe, während all dies geschah, in Manhattan gelebt und habe erst Jahre später davon gehört, als ich herzog. Aber für die Wicca-Gemeinde war es ein bedeutsames Ereignis und die meisten Hexen in der Gegend hier wussten davon.«

Es schockierte mich, dass viele Menschen wussten, was mit meiner Mutter passiert war, während ich im Tal der Ahnungslosen wandelte. Trotzdem wartete ich geduldig, dass Alyce weitersprach, da ich sie nicht in ihrem Gedankengang stören wollte.

»Mir ist die Geschichte folgendermaßen zu Ohren gekommen«, sagte Alyce und es war, als käme ihre Stimme aus einiger Entfernung zu mir. »Maeve Riordan war eine Bluthexe aus einem der sieben großen Clans, doch wir sind nicht sicher, aus welchem. Ihr örtlicher Hexenzirkel nannte sich Belwicket und sie stammte aus Ballynigel, Irland.«

Ich nickte. Ich hatte die Worte Belwicket und Ballynigel auf der Internetseite mit Maeves Familienstammbaum gesehen.

»Belwicket hielt sich sehr zurückgezogen und hatte nicht viel mit anderen Clans oder Hexenzirkeln zu tun«, fuhr Alyce fort. »Sie waren ziemlich verschlossen und vielleicht hatten sie ihre Gründe dafür. Egal, damals, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, wurde Belwicket, wenn ich es richtig verstanden habe, schikaniert. Die Mitglieder wurden von den Bewohnern der Stadt auf der Straße verspottet, ihre Kinder wurden in der Schule geächtet. Ballynigel war eine kleine Stadt, nicht zu vergessen, klein und nah an der Küste im Westen Irlands gelegen. Die Menschen dort waren hauptsächlich Bauern oder Fischer. Nicht besonders weltgewandt, nicht besonders gebildet. Sehr konservativ«, erklärte Alyce. Sie machte eine Pause und überlegte.

Vor meinem geistigen Auge sah ich eine weite grüne Hügellandschaft. Salzige Luft schien meine Haut zu küssen. Ich roch scharfen, brackigen Seetang, Fische und einen fast unangenehmen, und doch behaglichen Geruch, den mein Gehirn als Torf identifizierte.

»Die Dörfler hatten wahrscheinlich immer in Frieden unter Hexen gelebt, doch aus irgendeinem Grund geriet immer mal wieder ein Ort in Aufruhr und die Menschen bekamen Angst. Nach monatelangen Schikanen wurde eine Hexe aus dem Ort umgebracht, verbrannt und von einer Klippe gestoßen. «

Ich schluckte schwer. Ich wusste aus meiner Lektüre, dass Verbrennen die traditionelle Methode war, um Hexen zu töten.

»Manche sagten, sie sei von einer anderen Hexe umgebracht worden, nicht von Menschen«, fuhr Alyce fort.

»Was ist mit Maeve Riordan?«, fragte ich.

»Sie war die Tochter der örtlichen Hohepriesterin, einer Frau namens Mackenna Riordan. Mit vierzehn trat Maeve Belwicket bei, unter dem Namen Bradhadair – Feuerfunke. Anscheinend besaß sie sehr starke magische Kräfte und war sehr, sehr mächtig. «

Meine Mutter.

»Jedenfalls wurde die Lage in Ballynigel für die Hexen immer unerträglicher. Sie mussten in anderen Orten einkaufen und auslaufende Pachtverträge wurden nicht verlängert, doch irgendwie kamen sie mit alldem zurecht. «

»Warum sind sie nicht weggegangen?«, fragte ich.

»Ballynigel war ein Kraftort«, erklärte Alyce. »Zumindest für diesen Hexenzirkel. Die Gegend hatte etwas an sich, vielleicht nur deshalb, weil dort seit Jahrhunderten Magie praktiziert worden war, aber es war ein sehr guter Ort für Hexen. Die meisten Mitglieder von Belwicket waren über viele Generationen mit dem Land verwurzelt, weiter zurück, als sie zählen konnten. Ihre Familien hatten immer dort gelebt. Vermutlich taten sie sich schwer mit der Vorstellung, woanders zu leben. «

Für Amerikaner, deren familiäre Wurzeln gerade mal hundert Jahre, mehr oder weniger, zurückreichten, war so etwas schwer nachvollziehbar. Ich atmete tief durch und sah mich nach Robbie um. Ich hörte, dass er sich auf der anderen Seite des Ladens noch mit dem Mädchen unterhielt. Ich schaute auf meine Uhr. Halb sechs. Bald musste ich nach Hause. Aber hier erfuhr ich endlich etwas über meine Vergangenheit, meine Geschichte, und ich konnte mich nicht losreißen.

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte ich.

»Es wurde im Laufe der Jahre immer mal wieder darüber gesprochen«, sagte Alyce. »Verstehst du, so etwas könnte jedem von uns passieren.«

Ein Frösteln durchfuhr mich und ich starrte sie an. Für mich war Magie etwas Schönes und Freudebringendes. Doch Alyce erinnerte mich daran, dass zahllose Frauen und Männer wegen der Magie gestorben waren.

»Maeve Riordan ging schließlich fort«, fuhr Alyce mit trauriger Miene fort. »Eines Nachts kam es zu einer starken … Dezimierung.«

Mich fröstelte, eine eisige Brise umwehte mich und ließ sich zu meinen Füßen nieder.

»Der Belwicket-Hexenzirkel wurde quasi zerstört.« Alyce klang, als wollten ihr die Worte nur schwer über die Lippen kommen. »Es ist unklar, ob es die Stadtbewohner waren oder eine dunkle, mächtige magische Quelle, die durch den Hexenzirkel fegte, doch in dieser Nacht brannten zahlreiche Häuser bis auf die Grundmauern nieder, Autos wurden in Brand gesteckt, Getreidefelder verwüstet, Boote versenkt … und dreiundzwanzig Männer, Frauen und Kinder fanden den Tod.«

Ich merkte, dass ich keuchte, mein Magen war ein einziger Knoten. Mir war übel, ich war benommen und in Panik. Ich ertrug es nicht, das alles zu hören.

»Aber nicht Maeve«, flüsterte Alyce und richtete den Blick weit in die Ferne. »Maeve entkam in jener Nacht, genau wie der junge Angus Bramson, ihr Freund. Maeve war zwanzig, Angus zweiundzwanzig, und sie flohen zusammen, nahmen einen Bus nach Dublin und dann ein Flugzeug nach England. Von dort reisten sie weiter nach New York und gelangten schließlich nach Meshomah Falls.«

»Haben sie geheiratet?«, fragte ich heiser.

»Darüber gibt es keine Aufzeichnungen«, antwortete Alyce. »Sie ließen sich in Meshomah Falls nieder, suchten sich Arbeit und entsagten der Hexerei vollkommen. Wie es scheint, praktizierten sie zwei Jahre lang überhaupt kein Wicca, riefen keine Mächte an, benutzten keine Magie.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Es muss ihnen vorgekommen sein wie ein Leben in einer Zwangsjacke. Als würde man in einer Schachtel ersticken. Und dann bekamen sie im örtlichen Krankenhaus ein Baby. Wir glauben, dass direkt danach die Verfolgung begann.«

Mir schnürte es die Kehle zu. Ich zerrte am Halsausschnitt meines Pullovers, weil ich das Gefühl hatte, ich würde ersticken.

»Zuerst waren es nur Kleinigkeiten – sie fanden Runen mit Warnungen und an die Mauern ihres kleinen Hauses wurden Drohungen gepinselt. Schadenssiegel, in magischer Absicht verhexte Runen, in die Tür ihres Autos gekratzt. Eines Tages hing an ihrer Veranda eine tote Katze. Wenn sie sich an den örtlichen Hexenzirkel gewandt hätten, hätte man ihnen helfen können. Doch sie wollten sich nicht wieder der Hexerei zuwenden. Nachdem Belwicket zerstört worden war, wollte Maeve nichts mehr damit zu tun haben. Obwohl es ihr natürlich im Blut lag. Es ist sinnlos zu leugnen, wer oder was man ist.«

Entsetzen drohte mich zu überwältigend. Am liebsten wäre ich schreiend aus dem Laden gerannt.

Alyce sah mich an. »Nach dem Brand wurde Maeves Buch der Schatten gefunden. Die Leute lasen es und gaben die Geschichten weiter, die dort geschrieben standen. «

»Wo ist es jetzt?«, wollte ich wissen, doch Alyce schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie freundlich. »Maeves Geschichte endet damit, dass sie und Angus in einer niedergebrannten Scheune den Tod fanden.«

Tränen rollten langsam über meine Wangen.

»Was ist aus dem Baby geworden?«, würgte ich heraus.

Alyce sah mich mitfühlend an, die Weisheit vieler Lebensjahre in ihr Gesicht geschrieben. Sie hob eine weiche, nach Blumen duftende Hand und berührte meine Wange. »Das weiß ich auch nicht, meine Liebe«, sagte sie so leise, dass ich sie kaum hören konnte. »Was ist aus dem Baby geworden?«

Ein Schleier zog über meine Augen und ich musste mich hinlegen oder umkippen oder schreiend durch die Straßen rennen.

»Hey, Morgan! «, hörte ich da Robbies Stimme. »Bist du fertig? Ich muss langsam mal nach Hause.«

»Leben Sie wohl«, flüsterte ich. Ich drehte mich um und lief zur Tür hinaus. Robbie folgte mir mit besorgter Miene.

Hinter mir spürte ich Alyces Worte mehr, als dass ich sie hörte: »Nicht Lebewohl, meine Liebe. Du kommst wieder.«