Auf dem Dach der Welt

Die Leute fragten sie immer, was es für ein Gefühl sei. Sie sah ihnen von ihrem Turm aus zu, wenn sie mit ihren Baseballmützen und kleinen Rucksäcken, in Shorts und Wanderstiefeln oder Turnschuhen den Pfad entlangkamen. Die tapferen unter ihnen erkletterten auch noch die einhundertfünfzig Holzstufen, die man in den Berg gebohrt hatte, um sich dann gegen das hohe Geländer vor dem kleinen Wachturm mit den Glaswänden zu lehnen, den sie sieben Monate im Jahr ihr Zuhause nannte. Schwitzend, Feldflasche oder Wassersack an den Lippen, in der dünnen Luft nach Atem ringend, fragten sie dann, was es für ein Gefühl sei. »Wunderschön«, sagte sie immer. »Friedlich.«
Aber das drückte es nicht annähernd aus. Es war ein unbeschwertes Schweben, als triebe man mit den Wolken dahin, geborgen in der Handfläche Gottes. In zweitausendsiebenhundertfünfzig Metern Höhe konnte sie im fernen Dunst den Rand der Welt sehen, sie sah den Mount Whitney, der sich aus dem Kräuselmeer der Sierra erhob, und sie sah Sterne, die noch nicht einmal entdeckt worden waren. Morgens war sie die erste, für die die Sonne über den Hügeln im Osten aufging, und am Abend, wenn es unter ihr schon dunkel war, die drängenden Finger der Nacht längst alle Täler und Höhenzüge erfaßt hatten, sah sie sie als letzte. Da war der Wind in den Bäumen, das Raunen von unendlich vielen Nadeln an den zahllosen rauschenden Ästen von den Kiefern, Sequoias und Zedern, die sich unter ihr ausbreiteten wie ein Teppich. Da war der Tagesanbruch. Die Stille um drei Uhr früh. Sie konnte es nicht erklären. Sie saß auf dem Dach der Welt.
Wird es Ihnen nicht einsam da oben? fragten die Leute. Kriegen Sie nicht einen kleinen Koller, so ganz allein?
Was sollte sie da sagen? Ja, natürlich war es einsam, aber das machte ihr nichts. Im Sommer hatte sie Todd bei sich, jede zweite Woche, und dann stellte sich die Frage sowieso nicht. Aber im September fuhr er zurück in die Stadt, zu seinem Vater, in die Schule, und die Welt drehte sich wieder etwas langsamer um ihre müde alte Achse. Um die Zeit blieben auch die Wanderer aus. Im Hochsommer, an den Wochenenden, kamen manchmal an einem einzigen Tag dreißig oder vierzig, aber jetzt, mit Einbruch des Herbstes, ließen sie sie in Ruhe – manchmal vergingen Tage, ohne daß sie eine Menschenseele sah.
Aber darum ging es ja eben, nicht wahr?
Sie machte sich gerade Frühstück – ein richtiges zur Abwechslung, Eier und Speck aus dem Propankühlschrank, frischen Filterkaffee und Toast –, als sie ihn sah: auf einer der Serpentinen tief unter ihr mühte er sich bergan. Sofort wurde sie ärgerlich. Es war noch nicht einmal sieben, und das Schild am Beginn des Pfades stellte sehr deutlich fest, daß Besucher willkommen waren, aber nur zwischen zehn und siebzehn Uhr. Was war los mit diesem Kerl – glaubte er, für ihn gäbe es eine Ausnahme, oder was? Dann beruhigte sie sich: vielleicht hatte er ein anderes Ziel. Die Jagdzeit war eröffnet – schon die ganze Woche über hörte sie das ferne, gedämpfte Knallen von Schüssen –, und vielleicht war er nur ein Jäger auf der Spur eines Hirschen.
Schön wär’s. Als sie beim Wenden ihres Spiegeleis wieder aufblickte, die glatte Granitfläche und die steile, gewundene Holzstiege hinabstarrte, die sich an den Fels schmiegte, sah sie, daß er direkt auf ihren Turm zusteuerte. Verdammt, dachte sie, gerade als der Kessel zu pfeifen begann. Der Magen zog sich ihr zusammen. Das Frühstück war im Eimer. Jetzt würde ihr irgendein Fremder beim Essen über die Schulter glotzen und die üblichen banalen Bemerkungen machen. Die benahmen sich, als wären sie in Disneyland, dabei war es ihr Zuhause, sie wohnte hier. Wie es ihnen wohl gefallen würde, wenn sie morgens um sieben bei ihnen an der Tür klingelte?
Sie setzte sich zum Essen, mit dem Rücken zur Glastür, und hoffte, er würde weggehen, über den Grat in den Abgrund rutschen und verschwinden, sich in Rauch auflösen, als sie seine Schritte auf dem bebenden Laufsteg spürte, der rund um den Turm verlief. Immer noch drehte sie sich nicht um, sah nicht auf. Beim Essen las sie – im Lauf einer Saison schmökerte sie ganze Waggonladungen von Büchern durch –, ohne den Blick von der Seite zu heben. Sollte er doch vom Laufsteg aus hereinglotzen, durch das Fernrohr ins Tal schauen und dann wieder die Stufen hinunterpoltern, ihr war das egal. Sie war keine Fremdenführerin. Ihr Job war es, nach Rauch Ausschau zu halten, vierundzwanzig Stunden am Tag, und zu den Wanderern, die sich schwitzend und keuchend den langen Weg zu ihr herauf plagten, um sie für kurze Zeit auf dem Dach der Welt zu besuchen, freundlich zu sein – falls sie dazu in der Laune war und die Zeit hatte. Nirgendwo stand geschrieben, daß sie sie in die Hütte lassen, ihnen das Funkgerät oder die kartographische Ausrüstung erklären und den Standardvortrag darüber halten mußte, wie alles funktionierte. Schon gar nicht um sieben Uhr morgens. Zum Teufel mit ihm, dachte sie, während sie das Spiegelei verschlang und versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren.
Dummerweise war sie aber darauf trainiert, etwa alle dreißig Sekunden von allem, was sie gerade tat, aufzublicken und den Horizont abzusuchen, das war ihr zum Reflex geworden. Also blickte sie auf, und da war er. Sie erschrak. Er war rundherum gegangen und stand jetzt direkt vor ihr, grinste und hielt etwas in der Hand hoch. Blumen, Wildblumen, das registrierte sie, dann aber sah sie in sein Gesicht und spürte, wie etwas in ihr zusammensank: sie kannte ihn. Er war schon einmal dagewesen.
»Lainie«, sagte er, klopfte ans Glas und wedelte mit den Blumen, »ich hab Ihnen was mitgebracht.«
Ihr Name. Er kannte ihren Namen.
Sie versuchte ein Lächeln, und ihre Miene gefror um es herum. Das Taschenbuch auf dem Tisch vor ihr stieß den Salzstreuer um und klappte mit einem leisen, wie gehauchten Seufzer von selbst zu. Sollte sie sich bedanken? Sollte sie aufstehen und den Riegel vorlegen? Sollte sie einen Notruf über Funk aussenden und sich das Küchenmesser schnappen?
»Entschuldigen Sie, daß ich beim Frühstück störe – ich wußte nicht, wie zeitig es noch ist«, sagte er, und dabei geschah etwas mit seinem Grinsen, obwohl seine Augen – ein hartes, metallisches Blau – die ihren wie mit Zangen festhielten. Er hob die Stimme, um das Glas zu durchdringen. »Ich campe unten am Long Meadow Creek, und als ich heute früh über den Pfad gekommen bin, dachte ich mir, Sie sind vielleicht einsam, und da wollte ich Sie überraschen« – er zögerte –, »ich meine, mit einem Blumenstrauß.«
Sie war jetzt am ganzen Körper angespannt. Spinner hatte sie schon öfter oben gehabt – das war Berufsrisiko –, aber an diesem war etwas höchst Beunruhigendes; an diesen erinnerte sie sich. »Es ist zu früh«, sagte sie schließlich und half mit Zeichensprache nach, als wäre die Scheibe nicht schalldurchlässig, dann stand sie auf von dem halbgegessenen Ei und dem Speck, den sie nicht angerührt hatte, und ging zielstrebig zum Funkgerät. Es befand sich direkt unter dem Fenster, vor dem der Mann stand, und als sie das Mikro nahm und den Sprechkopf drückte, war sie einen halben Meter entfernt von ihm, getrennt durch nichts als die dünne Glasscheibe.
»Needles Lookout«, sagte sie, »hier Elaine. Zack, bist du da? Kommen.«
Zacharys Stimme meldete sich sofort. Er studierte Forstwirtschaft und löste sie zwei Tage pro Woche ab, wenn sie sich aufmachte, den Berg hinabzusteigen, um einen Tag mit ihrem Sohn zu verbringen, ein paar Einkäufe zu erledigen und abends mit Cynthia Furman, ihrer besten Freundin und Seelenverwandten, ins Kino oder etwas trinken zu gehen. »Elaine«, sagte er durch das statische Knistern, »was gibt’s? Irgendwas Komisches gesehen da draußen? Kommen.«
Sie zwang sich, aufzusehen und die Augen des Fremden zu prüfen – er grinste immer noch, aber das Grinsen war schlaff und unstet, und es lag keine Freude in der Tiefe dieser harten blauen Augen –, und sie hielt das schwarze Plastikmikrofon einen Moment länger als nötig stumm vor sich, ehe sie antwortete. »Nichts, Zack«, sagte sie. »Wollte mich nur melden.«
Seine Stimme klang blechern. »Okay«, sagte er. »Dann bis später. Ende.«
»Ende«, sagte sie.
Und was nun? Der Kerl trug ein Jagdmesser in einem Futteral am Bein. Er hatte hohle Wangen, als ob er einen Bonbon lutschte, und seine Oberlippe wurde von einem altmodischen, buschigen rötlichen Schnurrbart verborgen. Statt einer Baseballmütze trug er einen breitkrempigen Filzhut. Wyatt Earp, dachte sie, und sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, um ihn ganz einfach zu ignorieren, bis er den Wink endlich verstand, bis er die einhundertfünfzig hölzernen Stufen wieder hinunterstieg und im Wald und aus ihrem Leben verschwand, als er erneut an die Scheibe klopfte und fragte: »Haben Sie was zum Reinstellen für die – für die Blumen, meine ich?«
Sie wollte seine Blumen nicht. Sie wollte ihn nicht auf der Plattform. Sie wollte ihn nicht in ihr vier mal vier Meter großes Allerheiligstes einlassen, wo er ihre Sachen anfassen, herumstöbern, dumme Fragen stellen und belangloses Zeug plaudern konnte. »Hören Sie«, sagte sie schließlich, wobei sie zwar das Glas ansprach, aber an ihm vorbeiblickte, durch ihn hindurch, und die unendliche Ferne absuchte, wie sie es sich angewöhnt hatte, ganz egal, was passierte. »Ich habe hier eine Aufgabe zu erledigen, und zwischen fünf Uhr nachmittags und zehn Uhr morgens darf niemand hier oben auf die Plattform« – jetzt sah sie ihn wieder an und bemerkte, daß sein Lächeln verflogen war –, »und das müßten Sie eigentlich wissen. Es steht klar und deutlich auf dem Schild unten, wo der Pfad anfängt.« Sie sah beiseite; es war vorbei, sie war fertig mit ihm.
Sie wandte sich wieder ihrem Frühstück zu, zwang sich, auf das Buch zu starren, obwohl ihr Herz raste und die Worte keinerlei Bedeutung hatten. Als der Mann zum erstenmal gekommen war, war Todd dagewesen. Todd war vierzehn, großgewachsen wie sein Vater, blond und schlaksig. Er war ein guter Junge, ihre letzte, allerletzte Hoffnung, und er schien die Zeit zu genießen, die er mit ihr hier oben verbrachte. Es war ein Samstag nachmittag gewesen, und seit dem Morgen waren ständig Besucher dagewesen. Todd saß in der Vorratskammer unten und schmökerte in Comics (in weiser Voraussicht hatte die Forstbehörde diesen zweiten Raum geschaffen, fünfundzwanzig Stufen tiefer, nicht nur für Vorräte, sondern auch zum Ausspannen – es war ein winzig kleiner Raum der Geborgenheit, mit einem einzigen matten Fenster hoch oben, um Licht hereinzulassen, Antithese und Gegenmittel für die nackte gläserne Kiste des Ausgucks weiter oben.) Elaine war auf ihrem Posten gewesen, hatte Suppengemüse kleingeschnitten und dabei den Horizont abgesucht.
Sie hatte ihn zunächst nicht bemerkt – damals waren so viele Besucher gekommen, daß sie nicht so konzentriert war wie in ruhigeren Zeiten. Sie fühlte sich leutselig und unbekümmert, als Gastgeberin einer netten Party. Kurz zuvor war ein Professor heraufgestiegen, ein Ornithologe, und sie hatten sich lange über Steinadler und Rotschwanzbussard unterhalten. Danach kam das Mädchen aus Merced – sie konnte nicht viel älter als siebzehn gewesen sein –, die ihr Baby auf dem Rücken trug, und die beiden dicklichen Mittsechzigerinnen, voller Stolz auf ihren Vier-Kilometer-Aufstieg und leicht benommen von der dünnen Luft und der Aufregung über die eigene Leistung. Elaine hatte den beiden eine Tasse Tee angeboten und ihnen nicht den Spaß verderben wollen, indem sie etwa darauf hinwies, daß auch der Rückweg vier Kilometer lang war.
Sie hatte seine Schritte auf der Plattform draußen gespürt und sich lächelnd zu ihm umgedreht. Er war groß, mit kräftiger Brust- und Schulterpartie, und tippte sich an den Hut, ehe er den Kopf durch die offene Tür steckte. »Schöne Aussicht hier?« fragte er.
Etwas in seinem Blick hätte sie warnen müssen, aber sie fühlte sich gesellig und gastfreundlich, und sie spürte auch die Großzügigkeit in seinen Händen und seinem Wesen. »Nichts im Vergleich zu einem Blick auf den Ventura Freeway« erwiderte sie lässig.
Er lachte laut, und dann stand er in der Tür, beide Hände auf dem Türrahmen. »Anscheinend hat das mönchische Leben Ihrem Humor keinen Abbruch getan« – und dann verstummte er, als wäre er zu weit gegangen. »Na ja, ›mönchisch‹ ist ja wohl das falsche Wort – gibt es eine weibliche Version davon?«
Ziemlich frech. Und zum Flirten aufgelegt. Aber sie war ebenfalls in der Stimmung dazu, sie wußte nicht, warum – vielleicht weil Todd bei ihr war, vielleicht war es nur die schiere sprudelnde Lust daran, auf dem Dach der Welt zu leben –, und immerhin ödete er sie nicht nur mit der immer gleichen Leier an, die sie an die hundertmal pro Woche über sich ergehen lassen mußte: über das Alleinsein und die schöne Aussicht und Rauch am Horizont. »Kommen Sie rein«, sagte sie. »Ruhen Sie einen Augenblick aus.«
Er setzte sich auf den Bettrand und nahm den Hut ab. Seine Frisur war ein abgewandelter Punkschnitt – steife, unregelmäßige Zacken –, und das überraschte sie: irgendwie paßte sie einfach überhaupt nicht zu dem Cowboyhut. Seine Jeans waren steif und neu, die handgenähten Stiefel sahen aus wie frisch geputzt. Er betrachtete sie – sie trug khakifarbene Shorts und ein T-Shirt, in Erwartung der vielen Leute hatte sie sich am Morgen die Haare gewaschen, und ihre Beine sahen gut aus – das wußte sie –, braungebrannt und wohlgeformt durch den häufigen Auf- und Abstieg während des Sommers. Sie spürte etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte, seit Ewigkeiten nicht, und sie wußte, daß ihre Wangen sich röteten. »Heute haben Sie sicher einen Sack voll Flöhe zu hüten gehabt hier oben, was?« sagte er, und irgend etwas stimmte nicht an der gezwungenen Lockerheit dieser Wendung, paßte nicht zu seinem Akzent, so wie der Haarschnitt nicht zum Hut paßte.
»Seit heute früh hab ich sechsundzwanzig gezählt.« Sie schnitt eine Möhre in Würfel und warf sie in die Pfanne zu den Zwiebeln und den Zucchini, die sie zuvor zerkleinert hatte.
Er starrte aus dem Fenster und bearbeitete seine Hutkrempe mit den Fingern. »Hoffentlich verübeln Sie mir nicht, was ich jetzt sage – aber das Beste an der ganzen Aussicht sind Sie. Sie sind hübsch. Wirklich hübsch.«
Das hatte sie schon gehört. Ungefähr tausendmal. Von den Ausflüglern, die den Anstieg zum Ausguck unternahmen, waren circa siebzig Prozent männlich, und wenn sie allein oder mit anderen Männern unterwegs waren, versuchten neunzig Prozent von ihnen, sie auf die eine oder andere Art anzumachen. Sie ärgerte sich darüber, konnte es ihnen aber nicht wirklich verübeln. Wahrscheinlich lag eben etwas Unwiderstehliches in der Kombination: junge Frau mit blondem Haar und schönen Beinen in einem gläsernen Turm mitten im Nirgendwo – und ganz allein. Rapunzel, laß mir dein Haar herunter. Komplimente – oder dumme Sprüche – blockte sie meistens ab, indem sie offiziell wurde und sich auf ihre Autorität als Mitarbeiterin der Forstbehörde, Regierungsangestellte und Chefin, Königin und Despotin von Needles Lookout berief. Diesmal sagte sie gar nichts. Hob nur kurz den Kopf, um den Horizont abzusuchen, ehe sie wieder auf Messer und Hackbrett hinuntersah und Frühlingszwiebeln und Koriander kleinschnitt.
Er beobachtete sie immer noch. Er saß auf ihrem großen Doppelbett, einem der wenigen leiblichen Genüsse, die die Forstbehörde einem hier oben bot. Es hatte natürlich keine Kopfstütze – es war nur eine große, flache, recht harte Matratze, die auf Fensterhöhe mit der gläsernen Wand abschloß, so daß man auch im Bett liegend seine Arbeit tun konnte. Wahrscheinlich war es ursprünglich für Paare gedacht. Als er wieder den Mund aufmachte, wußte sie, was er sagen würde, ehe die Worte heraus waren. »Schönes Bett«, sagte er.
Was hatte sie erwartet? Er war nicht anders als die anderen – warum auch? Urplötzlich fiel er ihr auf die Nerven, und als sie ihm jetzt wieder das Gesicht zuwandte, war ihre Stimme eiskalt. »Haben Sie schon durch das Fernrohr gesehen?« fragte sie und deutete dabei auf das Bushnell-Teleskop, das am Geländer des Laufstegs montiert war – jenseits des Fensters, vor der Tür.
Er ignorierte die Aufforderung. Er erhob sich. Sechzehn Quadratmeter: für zwei zuwenig. »Ihnen muß es ja schrecklich einsam werden hier«, sagte er, und auch seine Stimme klang jetzt verändert, die gespielte Lockerheit und Jovialität waren verschwunden, »eine hübsche Frau wie Sie. Eine schöne Frau. Ihre Beine sind echt sexy, wissen Sie?«
Sie wurde rot – er konnte es sehen, da war sie sicher –, und das machte sie wütend. Sie wollte ihn gerade hinauswerfen, wollte ihm sagen, er solle ihr Haus verlassen und nicht mehr wiederkommen, verdammt noch mal, als Todd die Stufen heraufpolterte, ganz aufgeregt und gehetzt. »Mom!« rief er atemlos, und seine Stimme klang schrill und heiser. »Da draußen tropft überall Wasser raus!«
Wasser. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. Wasser war wertvoll hier oben, ja unersetzlich. Einmal im Monat brachten ihr zwei bärtige Männer mit Ärmelaufnähern der Forstbehörde sechs Fünfundsiebzig-Liter-Kanister herauf – so wie früher, auf Mulis. Sie ging mit diesem Wasser so haushälterisch um, als lebten sie mitten im Negev, sparte jeden Tropfen und gestattete sich nur selten den Luxus einer kurzen Haarwäsche mit Spülung, so wie an diesem Morgen. Im nächsten Moment stürzte sie zur Tür hinaus und hastete ihrem Sohn hinterher die Stufen hinab. Unten, vor dem Lagerraum, in dem die Kanister ordentlich aufeinandergestapelt standen, sah sie sofort, daß auf dem Fels eine dünne Wasserschicht glänzte. Sie bückte sich zu dem vordersten Kanister. Aus einem feinen Spannungsriß im milchigweißen Plastik, etwa drei Zentimeter über dem Boden, leckte das Wasser. »Los, faß mit an, Todd«, sagte sie. »Wir müssen ihn umdrehen, so daß das Loch oben ist.«
Voll wog ein Kanister knapp achtzig Kilo, und dieser war fast voll. Sie legte ihr ganzes Gewicht hinein, alle Kraft ihrer trainierten, muskulösen Beine, schaffte es aber auch mit Todds Hilfe nur, das Ding auf die Seite zu drehen. Sie atmete schwer und schwitzte, hatte sich irgendwo das Bein aufgeschrammt, so daß die Haut über der Kniescheibe von lauter Blutpünktchen gerötet war. In diesem Augenblick wurde ihr bewußt, daß der Fremde direkt hinter ihr stand. Sie blickte zu ihm auf, er wurde von der Weite des Himmels eingerahmt, hatte die Sonne im Gesicht, die großen Hände in die Hüfte gestemmt. »Kann ich Ihnen unter die Arme greifen?« fragte er.
Im nachhinein wußte sie nicht, weshalb sie das Angebot ausgeschlagen hatte – vielleicht weil Todd den Mann so ehrfürchtig anglotzte, weil in seinem Tonfall das bekannte So-hübsch-und-ganz-allein-hier-oben-Klischee mitschwang oder weil sie das Bild der hilflosen Frau einfach haßte –, doch ehe sie lange überlegen konnte, erwiderte sie: »Ich brauche Ihre Hilfe nicht; ich schaffe es schon selbst.«
Und dann sanken seine Hände von den Hüften herab, er trat einen Schritt zurück, und auf einmal entschuldigte er sich, wurde sanft und witzig und charmant, und es tue ihm leid, daß er ihr zu nahe getreten sei, und er wolle ja nur helfen, und er wisse sehr wohl, daß sie es auch allein schaffte, andeuten wolle er gar nichts – und ebenso abrupt verstummte er, ließ die Schultern hängen und verschwand ohne ein weiteres Wort die Stufen hinunter.
Lange sah sie ihm nach, wie er auf dem Pfad immer kleiner wurde, erst dann wandte sie sich wieder dem Wasserkanister zu. Bis sie ihn endlich gemeinsam mit Todd ganz umgedreht hatte, war er halb leer.
Tja. Und jetzt war er wieder hier, obwohl er kein Recht dazu hatte, er war ein Eindringling, und er wußte es, er war jetzt ein Irrer, der neue Ebenen des Irreseins definierte. Ein Notruf war in Sekundenschnelle durchgegeben – da würde sie nicht zögern –, und in weniger als fünf Minuten wäre ein Hubschrauber hier, so schnell waren diese Feuerwehrleute, sie hatte sie schon in Aktion erlebt. Fünf Minuten. Sie würde nicht zögern. Sie hielt den Kopf gesenkt. Sie schnitt und kaute jedes Stück Speck mit langsamer Entschlossenheit, und sie las denselben Absatz immer wieder, bis er jeden Sinn verlor. Als sie wieder aufsah, war er weg.
Danach schleppte sich der Tag dahin, als wollte er nie zu Ende gehen. Der Kerl hatte sie keine zehn Minuten lang mit seinem Söldnergrinsen und den lächerlichen Blumen belästigt, aber es war ihm gelungen, ihr die Laune zu ruinieren. Er hatte ihr Gleichgewicht gestört, und sie stellte fest, daß sie weder lesen noch zeichnen, noch an Todds Pullover weiterstricken konnte. Sie ertappte sich dabei, daß sie völlig geistlos irgendeinen Punkt am Horizont fixierte, ihren Verstand treiben ließ. Sie aß zuviel. Das Mittagessen wurde zur Zeremonie, das Abendessen zum Ritual. Besucher kamen keine, obwohl sie sich ausnahmsweise nach ihnen sehnte. Die Abenddämmerung verklang allmählich im Westen, und als die Nacht hereinbrach, gab sie sich gar nicht lange Mühe mit der Propanlampe, sondern setzte sich einfach nur auf die Ecke ihres Betts und ließ sich gefangennehmen von der wirbelnden Weite der Konstellationen und vom Traum der Milchstraße.
Und dann konnte sie nicht einschlafen. Sie mußte immer an ihn denken, an den Fremden mit den großen Händen und dem seltsamen Blick, suchte ständig den Laufsteg nach seinem plötzlichen schwarzen Schatten ab. Wenn er um sieben Uhr früh auftauchte, warum dann nicht auch um drei? Was sollte ihn daran hindern? Es war nichts zu hören, gar nichts – der Wind hatte sich gelegt, und die Nacht war klar und ohne Mondschein. Zum erstenmal, seitdem sie hier war, zum erstenmal in drei langen Sommern fühlte sie sich in ihrem Glashaus nackt und verletzlich, ausgesetzt wie ein Fisch im Aquarium. Die Nacht umfaßte sie und hielt sie in ihrem Griff.
Dann dachte sie an Mike und an das Haus, in dem sie gewohnt hatten, als er nach dem Studium als Lehrbeauftragter an einer kleinen öffentlichen Uni in den schönen einsamen Bergen von Oregon anfing. Das Haus war eine dieser A-förmigen Satteldachkonstruktionen gewesen, Wohnraum mit Dachkammer darüber, mitten unter den Bäumen, wie ein Haus im Märchen. Es bestand nur aus Fenstern, und aus jedem sah man auf Bäume hinaus, die fast ins Haus wuchsen. Der Vorbesitzer, ein alter Witwer mit wäßrigen Augen und gelblichen Haaren in den Ohren, hatte auf Jalousien oder Vorhänge völlig verzichtet, was Mike gar nicht gefiel – er lag ihr dauernd in den Ohren, sie solle die Fenster abmessen und dann Jalousien oder Vorhangstoff bestellen. Sie hatte aufbegehrt: die Offenheit, das Licht, das Gefühl des Verbundenseins und des Dazugehörens machten für sie ja gerade den Reiz des Hauses aus. Sie liebten sich immer nur im Dunkeln – Mike bestand darauf –, als wäre es etwas, dessen man sich schämen mußte. Und nach einer Weile war es das auch.
Dann dachte sie an die Zeit davor, an die Zeit vor Todd und dem Studium, als Mike neben ihr im Aufenthaltsraum des Studentinnenheims saß, auf dem Tisch vor dem Sofa aufgeklappte Lehrbücher, um sie herum die Hitze und das Gemurmel von einem Dutzend anderer Paare, die Münder und Körper aneinanderrieben. Man traf sich »zum Lernen«. Stundenlang klammerte sie sich an ihn, das Sofa war wie ein schlingerndes Boot in stürmischer See, quälende Lust, unbeholfene Unschuld, ein endloses Vorspiel, das sie feucht werden ließ und erregte, während der Wind hinter den hohen, zugefrorenen Fenstern heulte. Was für Gefühle. Dann, so gegen Viertel vor eins, kam der Hausmeister und machte das Licht ein paarmal aus und an, zum Zeichen, daß jetzt Schluß war, und sie fielen sich ein letztes Mal in die Arme, jeder Schritt bis zum Ausgang war in Hormone getränkt, dann ein verzweifelter Abschied, bis er irgendwann doch ging und sie den Verlust spürte wie eine Soldatenbraut. Bis zum nächsten Abend.
Irgendwann – es war gegen zwei, drei Uhr morgens, der Große Bär stand bereits tief am Horizont, der Orion im Zenit – dachte sie wieder an den Fremden, der ihr das Frühstück verdorben hatte. Hier auf der Ecke des Betts hatte er gesessen, hinter dem Fenster hatte er mit seinem jämmerlichen Blumenstrauß gewedelt und den Himmel verfinstert. Als sie an ihn dachte, genau in diesem Moment, hörte sie draußen ein leises dumpfes Geräusch auf der Stiege, ein sachtes Rascheln, eine Bewegung, und sie konnte weder atmen noch sich rühren. Die Sekunden pochten in ihrem Schädel, und das Rascheln – es hatte geklungen wie das Fegen eines Besens – war vorbei: irgendein nächtliches Tier, eine Ratte, das flüchtige Streifen eines Eulenflügels. Sie dachte an diese Hände, die Augen, die kantigen Schultern, und sie fühlte, wie sie in die Nacht hineingezogen wurde, erleichtert und dann sogar dankbar.
Sie erwachte sehr spät, als die schrägen Sonnenstrahlen ihre Lippen berührten und ihr in die Augen schienen. Zachary brachte über Funk die Neuigkeit, daß Oakland sich den Titel im Baseball geholt hatte und daß ein Hurrikan die Ostküste heimsuchte. »Du klingst ja entsetzlich«, sagte er. »Ich hab dich doch nicht etwa aufgeweckt?«
»Hab gestern nicht einschlafen können.«
»Wieder Sterne geguckt?«
Sie versuchte für ihn zu lachen. »Stimmt«, sagte sie. Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Meine Güte, du hast mich gerade erst abgelöst. Ich habe noch vier Tage vor mir, bevor ich wieder runterkomme.«
»Werd bloß nicht mystisch. Und laß mir diesmal genug Müsli da, ja? Falls es dir ausgeht, sag rechtzeitig Bescheid. Wir reden hier über mein Frühstück. Und mein Mittagessen. Und manchmal, wenn ich keine Lust zum Kochen hab –«
Sie unterbrach ihn: »– dein Abendessen, ich weiß. Ich werd darauf achten.« Sie gähnte. »Also, bis später.«
»Okay. Ende.«
»Ende.«
Als sie den Kessel auf den Kocher stellte, zischte das Gas noch, aber als sie sich umdrehte, um die Butter aus dem Kühlschrank zu holen, erlosch die Flamme. Sie versuchte es mit einem zweiten Streichholz, aber es kam nichts. Das hieß, daß sie den zweiten Propantank anschließen mußte: kein Problem, nur lästig. Die Tanks, die einmal im Jahr mit dem Hubschrauber gebracht wurden, befanden sich am Fuß der Stiege, einhundertfünfzig Stufen unter ihr. Es gab dort einen flachen Platz, in der Nische, die auf einer Seite über einer überhängenden, sechs Meter hohen Felswand abgeschirmt war. Auf der anderen Seite war der nächste Vorsprung erst dreihundert Meter weiter unten.
Sie zog sich Shorts an, und weil es trotz der Sonne kalt draußen war – einmal hatte es schon an einem fünften September geschneit, und jetzt war bald Oktober –, holte sie einen extra großen Pullover hervor, der früher Mike gehört hatte. Sie hatte ihn damals in dem Kissenbezug gefunden, der in der Eile des Auszugs ihr Kleiderschrank gewesen war; Mike hatte ihn nie zurückgefordert. Es war windig, und eine scharfe Bö durchfuhr sie, als sie die Tür aufriß und sich an den Abstieg machte. Mächtige flauschige Kumulusballen zogen eilig über den Himmel, schwollen an und wurden schmaler, wechselten ständig die Form, aber sie sah nichts, was dunkel genug – oder groß genug – gewesen wäre, um ein Unwetter anzuzeigen. Trotzdem, man konnte nie wissen. Der Wind kam vom Norden, und im Radio hatten sie angekündigt, daß vom Pazifik her eine Front aufzog – es würde sie nicht überraschen, wenn es über Nacht schneite. Ein ordentlicher Schneefall, und die Brandgefahr wäre für diese Saison vorbei, dann konnte sie nach Hause. Vorzeitig.
Sie dachte darüber nach – an die vier Wände des Zimmers in der kleinen Selbstversorgerpension, das sie in einer öden Straße in einer öden Stadt gemietet hatte, um im Winter nahe bei Todd zu sein –, und sie hoffte, es würde nicht schneien. Nicht jetzt schon. Noch nicht. In einem trockenen Jahr – und dies war schon ihr drittes – blieb sie manchmal bis Mitte November oben. Sie erreichte den Fuß der Stiege und beugte sich über die Propantanks, zwei riesige Stahlbehälter, die im Grün der Forstbehörde gestrichen waren, und sie fühlte sich deprimiert bei dem Gedanken an diese vier tristen Wände und an die Kälte und den Wetterumschwung, der kommen würde oder auch nicht. Sie hatte eine Gänsehaut auf den Beinen, und ihr Atem hing ringsherum in der Luft. Sie blickte einem Erdhörnchen nach, sah das hellgrau gefleckte Fell des pummligen Wesens, das auf der überhängenden Felswand entlanghuschte, und dann schraubte sie die Kupplung des leeren Tanks ab und drehte den Anschlußstutzen zu dem vollen hinüber.
»Probleme mit dem Gas?«
Die Stimme kam von hinten und etwas über ihr, und sie fuhr zusammen, wie von einem Hornissenstich. Noch bevor sie herumwirbelte, wußte sie, wem die Stimme gehörte.
»He, he, ich wollte Sie nicht erschrecken. Schon gut. Entschuldigung.« Da stand er, der fröhliche Camper, das Messer ans Bein geschnallt, direkt in ihrem Rücken und zwei Stufen über ihr. Diesmal verbargen sich seine Augen hinter einer Sonnenbrille mit Spiegelgläsern. Die Krempe des Stetsonhuts war tief ins Gesicht gezogen, und er trug einen Schafpelzmantel, den flauschigen Kragen hochgestellt.
Sie konnte ihm nicht antworten, geschweige denn ihn anlächeln oder freundlich sein. Er hatte sie außerhalb ihres Allerheiligsten überrascht, draußen im Freien, einhundertfünfzig ermüdende Stufen weit weg vom Funkgerät, dem Küchenmesser, dem harten, flachen Bett mit der Aussicht. Sie duckte sich. Er baute sich über ihr auf, seine Schultern wie aus dem Himmel geschnitzt. Todd war in der Schule. Mike – an Mike wollte sie gar nicht denken. Sie war mutterseelenallein.
Er stand reglos da, in seinem Gesicht bewegte sich nur der Schnurrbart, der sich jetzt zum Grinsen hob und die Zähne entblößte. »So was kann echt nervig sein«, sagte er, und wieder stahl sich der joviale Ton in seine Stimme, »solche Gastanks, meine ich. Gefährliche Dinger. Ich selber koche elektrisch.«
Sie hatte sich vorsichtig aus der Hocke erhoben, ihre kräftigen Beinmuskeln spannten sich an. Sie hätte es riskiert, die Stiege hinaufzurennen, alle einhundertfünfzig Stufen, hätte ihren Beinen voll vertraut, aber er blockierte die Treppe – fast als wollte er ihr zuvorkommen. Sie hatte noch kein Wort gesagt. Sie wirkte verängstigt, das wußte sie. »Campen Sie immer noch?« fragte sie, bemühte sich darum, das Gesicht zu entspannen und sein Lächeln zu erwidern, auf dem Banalen und Normalen zu beharren, auf dem bedeutungslosen Geplänkel einer bedeutungslosen Konversation.
Er sah weg von ihr, das Licht blitzte auf den leicht konvexen Gläsern der Sonnenbrille, und er tippte eine der hölzernen Stufen mit seiner silbernen Stiefelspitze an. Dann wandte er sich wieder zu ihr um und nahm die Sonnenbrille ab. »Ja«, sagte er achselzuckend, »schon irgendwie.«
Die Antwort war unerwartet. Schon irgendwie? Was sollte das bedeuten? Er hatte sich nicht bewegt und betrachtete sie mit diesem Blick – sie kannte den Blick, kannte die Pose, kannte den Schnurrbart und den Hut, aber seinen Namen kannte sie nicht. Er kannte ihren, aber sie kannte seinen nicht, nicht mal den Vornamen. »Entschuldigung«, sagte sie, und als sie jetzt zum Schutz vor der Sonne eine Hand an die Augen führte, zitterte sie, »wie war doch gleich Ihr Name? Ich meine, ich kenne Sie, nicht nur von gestern früh, sondern auch von damals, so etwa vor einem Monat, aber...« Sie verstummte.
Er schien sie nicht gehört zu haben. Der Wind rauschte in den Bäumen. Sie blinzelte tatenlos in die Sonne – sonst konnte sie nichts tun. »Also, campen war ich eigentlich nicht«, sagte er. »Nicht daß ich die Natur nicht liebe – und ich campe schon manchmal, mit Rucksack und so –, aber ich... ich dachte, das war es, was Sie hören wollten.«
Was sie hören wollte? Wovon redete er? Sie warf rasch einen Blick auf den Ausguck, die Sonne blitzte auf den Fenstern, hinter dem Dach türmten sich Wolken auf, und er wirkte so weit weg wie die Sterne in der Nacht. Wenn sie nur dort oben wäre, könnte sie einen Notruf durchgeben, ganz bestimmt, und innerhalb von fünf Minuten wäre Hilfe da...
»In Wirklichkeit« – und er sah jetzt beiseite, ließ die Schultern hängen, wie ein geschlagener Hund, so wie damals, als sie seine Hilfe mit dem Wasserkanister abgelehnt hatte –, »in Wirklichkeit hab ich eine Hütte in der Nähe von Cedar Slope. Ich dachte mir nur, na, daß Sie es lieber hätten, wenn ich campen würde.« Er hatte auf seine Stiefelspitzen gestarrt, aber jetzt sah er plötzlich zu ihr auf und grinste so breit, daß seine Backenzahnfüllungen in der Sonne blitzten. »Ich finde, Elaine ist ein schöner Name, hab ich Ihnen das schon gesagt?«
»Danke«, sagte sie, fast wider Willen und ganz leise, so leise, daß sie sich selbst kaum hörte. Er konnte sie hier vergewaltigen, konnte sie umbringen, alles mögliche. Wollte er das? War es das? »Hören Sie«, sagte sie gepreßt, obwohl sie sich zur Ruhe zwang, »hören Sie, ich muß zurück an die Arbeit...«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und hob die massige Hand, »zurück ins Nest, was? Ich weiß, ich geh Ihnen bestimmt mordsmäßig auf die Nerven damit, und sicher bin ich nicht der erste, der das sagt, aber Sie sehen einfach zu gut aus, als daß Sie hier an die Eichhörnchen und Coyoten verschwendet werden sollten.« Er kam die Stufen herunter, kam auf sie zu, und sie dachte in diesem Augenblick daran, an ihm vorbeizuflitzen, ein wilder Gedanke, instinktiv und verzweifelt, ein Gedanke, der sich wie mit Krallen in ihr Gehirn bohrte und dort gefror, ehe sie sich regen konnte. »Meine Güte«, sagte er, und in seiner rauhen Stimme lag unerschütterliche Gewißheit, »wird’s Ihnen hier denn nicht einsam?«
Und dann sah sie die Bewegung, ein Stück rechts und weiter unten: zwei rosa Jagdmützen, die den Pfad heraufkamen. Es war vorbei. So einfach. Sie konnte jetzt davongehen, die Stiege hinaufsteigen, sich im Ausguck einschließen. Aber warum raste ihr Herz immer noch, warum hatte sie das Gefühl, als hätte es noch nicht einmal angefangen? »Verdammt«, sagte sie und sah ins Tal hinab, »noch mehr Besucher. Jetzt muß ich aber wirklich zurück.«
Er folgte ihrem Blick und sah ebenfalls zu den Jägern, die abwechselnd verschwanden und wieder zu sehen waren, während sie sich den Weg hinaufarbeiteten. Sie erkannte jetzt ihre Gesichter – zwei ältere Männer, strähniges Haar unter den grellen Mützen. Unbewaffnet. Nur Fotoapparate. Er musterte die beiden einen Moment, dann sah er ihr in die Augen, ganz tief, als hätte er etwas darin verloren. Schließlich zuckte er die Achseln, drehte sich um und ging den Pfad entlang auf die Männer zu.
Sie war in guter Form, in der besten ihres Lebens. Die Stiege hatte sie schon tausendmal, zweitausendmal hinter sich gebracht, aber nie war sie schneller oben gewesen als jetzt. Sie flog die Stufen hinauf wie vom Wind getrieben, dabei hämmerte ihr das Herz in Panik gegen die Rippen, und sie roch das heraufziehende Unwetter, fühlte die Kälte bis ins Mark. Und dann war sie an der Tür, knallte sie hinter sich zu und tastete nach dem Riegel. Dann, erst dann fielen ihr die Blumen auf. Sie standen in der Mitte des Tisches, in einer Kristallglasvase, Lupinen, Kreuzkraut, Vergißmeinnicht.
Über Nacht fiel Schnee, übergroße, monströse, taumelnde Flocken, die an den Fenstern klebten und sie mit Verzweiflung erfüllten. Bei Licht hätte sie sich nur schutzlos und ausgeliefert gefühlt, und deshalb saß sie jetzt schon die zweite Nacht im Dunkeln, mit dem Küchenmesser im Schoß, und horchte auf seine Schritte auf der Stiege, während ringsherum der Himmel barst. Aber er würde nicht kommen, nicht nachts, nicht bei diesem Wetter – sie war kindisch und albern, es gab keinerlei Grund zur Sorge. Außer dem Schnee. Er bedeutete, daß ihre Saison vorbei war. Und wenn ihre Saison vorbei war, mußte sie vom Berg hinunter in die wirkliche Welt, in die wirkliche Zeit steigen, zurück zu Smog, Lärm und Wirrwarr.
Sie dachte an die vier Wände, die sie erwarteten, an den jämmerlichen Job – Kellnern, Kassiererin in einem Schnellimbiß oder irgendeine ähnliche langsame Kreuzigung des Geistes –, und sie dachte an Mike, kurz bevor sie ihn verlassen hatte, sah ihn vor sich auf der schwarzen Fensterscheibe, geschlechtslos, bleich, die schmale schmetterlingsförmige Lesebrille ganz vorn auf die Nase geklemmt, auf seine Schreibmaschine einhackend, tipp-tipp, tipp-tipp, verliebt in Dryden, Swift und Pope, verliebt in tote Dichter, verliebt in den Tod selbst. Einen Monat nachdem sie ihn verlassen hatte, war sie auf einer Party einem Mann begegnet, der Mike in allem geähnelt hatte, nur daß dieser in Gliederfüßler verliebt war. Gliederfüßler. Danach hatte sie den Posten im Ausguck angenommen.
Wieder wachte sie spät auf. Als erstes verspürte sie Erleichterung: die Sonne schien, und der Schnee – es war nur ein dünner Zuckerguß, nichts Ernstes – begann sich bereits von der nackten Felsenzinne zurückzuziehen. Sie stellte den Kessel auf und ging ans Funkgerät. »Zack«, rief sie, »hier Needle Rock. Bist du auf Empfang?«
Er war es, antwortete ihr praktisch auf Knopfdruck. »Auf Empfang. Kommen.«
»Hier oben hat’s geschneit – nicht allzuviel, eigentlich ist es nur leicht angezuckert. Jetzt ist der Himmel klar.«
»Damit kommst du etwas spät – diese Information hab ich schon längst von Lewis auf Mule Peak gekriegt. Wieder verschlafen?«
»Ja, scheint so.« Sie beobachtete, wie ferne Wipfel ihre Patina aus Schnee abschüttelten. Ein Bussard segelte vor dem Fenster vorbei. Sie hielt sich das Mikro so dicht vor die Lippen, daß es ein Teil von ihr hätte sein können. »Zack...« Sie wollte ihm von dem Verrückten erzählen, von dem Mann mit dem Stetson, von seinen Händen, wollte ihn für alle Fälle alarmieren, aber sie zögerte. Ihre Stimme klang dünn und distanziert, verloren im elektronischen Geknister von Zeit und Raum.
»Lainie?«
»Ja. Ja, ich bin noch da.«
»Es kommt noch eine Kaltfront und anschließend ein Unwetter. Könnte einiges an Schnee bringen. Die Brandwachen sind noch nicht abgesagt – Reichert sagt, so bleibt’s, bis wir nennenswerte Niederschläge haben. Na, und diesmal könnte es soweit sein. Aber entscheide selber: willst du lieber runterkommen oder oben abwarten, was passiert?«
Reichert war der Chef, fünfzig, glatzköpfig, weich wie eine Auster. Die Bergregion war wie verdorrt – eine pulvrige Schicht aus abgestorbenem Material lag fünfzehn Zentimeter dick in den Wäldern, und jeder zweite Bach war ausgetrocknet. Die Saison konnte ebensogut bis November dauern. »Hier oben abwarten«, entschied sie.
»Okay, es liegt bei dir. Lewis bleibt auch auf dem Posten, falls dich das beruhigt. Ich setze mich in Verbindung, wenn wir hier irgendwas Neues erfahren.«
»Gut. Danke.«
»Ende.«
»Ende.«
Am späten Nachmittag ballten sich die Wolken, und der Himmel zog sich wieder über ihr zusammen. Das Thermometer fiel abrupt. Es sah schlecht aus. Für Schneefall war es noch früh, aber in dieser Höhe konnte es immer schneien, egal welcher Monat gerade war. Jährlich gingen siebeneinhalb Meter nieder, aber sie hatte auch schon Schneestürme erlebt, bei denen ein bis anderthalb Meter auf einmal herunterkamen. Um vier sprach sie noch einmal mit Zachary, und er erzählte ihr von den eher miesen Aussichten – die Chancen für weiteren Schneefall standen bei siebzig Prozent, inzwischen bis auf neunhundert Meter hinab. »Ich laß es darauf ankommen«, sagte sie. Schlimmstenfalls hatte sie ein Paar Schneeschuhe im Lagerraum.
Eine Stunde später begann es zu schneien. Sie machte sich gerade das Abendessen – braunen Reis mit Gemüse – und hatte die Flasche Wein geöffnet, die sie mitgenommen hatte, um ihren letzten Tag zu feiern. Die Flocken waren kleine, winzige Kugeln, die zischend herabsausten, und normalerweise verhieß das einen ernsthaften Schneesturm. Die Saison war vorbei. Sie konnte ihren Wein trinken und langsam darangehen, Ofen und Kühlschrank zu putzen und ihre Sachen zu packen. Sie legte ein Holzscheit nach und knöpfte sich die Jacke zu.
Die Flasche war halb leer, und sie wollte sich gerade zum Essen setzen, als sie den Rauch bemerkte. Zuerst dachte sie, es sei ein Schabernack des Windes, der den Rauch ihres eigenen Ofens zurückwehte. Aber nein. Direkt unter dem Ausguck, keine hundertfünfzig Meter weiter unten, etwa da, wo der Pfad anfing, sah sie ein Feuer. Der Wind wehte einen Vorhang aus Schnee vor das Fenster. Es hatte nicht geblitzt – aber trotzdem brannte dort unten Feuer, sie war ganz sicher. Sie stand vom Tisch auf, nahm den Feldstecher vom Haken an der Tür und trat hinaus auf den Laufsteg, um es sich näher anzusehen.
Der Sturm raubte ihr den Atem. Das ganze Universum war bleich geworden, oben weiß und unten weiß: und sie saß hoch oben auf den Wolken, lebte in ihrem durchsichtigen, gespenstischen Inneren. Jetzt roch sie auch den Rauch, den der Wind herantrug. Sie hob den Feldstecher an die Augen, doch der Schnee bildete eine Mauer; sie versuchte es noch einmal, aber diesmal wehte ihr Haar vor die Objektive. Es dauerte eine Weile, aber da, da war es: ein Feuer, das aus dem wirbelnden Strudel des Schnees emporstieg. Ein Lagerfeuer. Oder nein, es war viel größer: umgestürzte Bäume, zu einer Pyramide geschichtet – das war ein Freudenfeuer, absichtlich aufgetürmt, es war ein Zeichen. Wieder nahm ihr der Schnee die Sicht. Ihre Finger waren taub. Als das Feuer erneut scharf ins Bild kam, sah sie eine Bewegung, einen Schatten, der um die Flammen sprang, sie nährte und sich an ihnen labte, und sie hielt den Atem an. Dann sah sie auch die schwarze Spitze des Stetsonhutes, und da begriff sie.
Er campte tatsächlich.
Er campte. Er konnte umkommen da draußen – er war wirklich verrückt –, es konnte ohne weiteres ein Blizzard aufziehen, und dann würde es tagelang schneien. Aber er campte. Und dann wurde ihr klar: er campte für sie.
Später, als der Ausguck einsam über dem Schneesturm aufragte und die Kohlen im Ofen glühten und die Finsternis sich um sie legte wie eine Decke, schaltete sie das Funkgerät aus und legte das Messer zurück in die Schublade, wo es hingehörte. Dann setzte sie sich im Bett auf, hoch oben über dem Abgrund, und sah seinem Feuer zu, das im kalten Herzen der Nacht brannte. Er würde wiederkommen, das wußte sie jetzt, und sie war bereit für ihn.


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