Auf dem Dach der Welt
Die Leute fragten sie immer, was es für
ein Gefühl sei. Sie sah ihnen von ihrem Turm aus zu, wenn sie mit
ihren Baseballmützen und kleinen Rucksäcken, in Shorts und
Wanderstiefeln oder Turnschuhen den Pfad entlangkamen. Die tapferen
unter ihnen erkletterten auch noch die einhundertfünfzig
Holzstufen, die man in den Berg gebohrt hatte, um sich dann gegen
das hohe Geländer vor dem kleinen Wachturm mit den Glaswänden zu
lehnen, den sie sieben Monate im Jahr ihr Zuhause nannte.
Schwitzend, Feldflasche oder Wassersack an den Lippen, in der
dünnen Luft nach Atem ringend, fragten sie dann, was es für ein
Gefühl sei. »Wunderschön«, sagte sie immer. »Friedlich.«
Aber das drückte es nicht annähernd aus.
Es war ein unbeschwertes Schweben, als triebe man mit den Wolken
dahin, geborgen in der Handfläche Gottes. In
zweitausendsiebenhundertfünfzig Metern Höhe konnte sie im fernen
Dunst den Rand der Welt sehen, sie sah den Mount Whitney, der sich
aus dem Kräuselmeer der Sierra erhob, und sie sah Sterne, die noch
nicht einmal entdeckt worden waren. Morgens war sie die erste, für
die die Sonne über den Hügeln im Osten aufging, und am Abend, wenn
es unter ihr schon dunkel war, die drängenden Finger der Nacht
längst alle Täler und Höhenzüge erfaßt hatten, sah sie sie als
letzte. Da war der Wind in den Bäumen, das Raunen von unendlich
vielen Nadeln an den zahllosen rauschenden Ästen von den Kiefern,
Sequoias und Zedern, die sich unter ihr ausbreiteten wie ein
Teppich. Da war der Tagesanbruch. Die Stille um drei Uhr früh. Sie
konnte es nicht erklären. Sie saß auf dem Dach der Welt.
Wird es Ihnen nicht einsam da oben?
fragten die Leute. Kriegen Sie nicht einen kleinen Koller, so ganz
allein?
Was sollte sie da sagen? Ja, natürlich war
es einsam, aber das machte ihr nichts. Im Sommer hatte sie Todd bei
sich, jede zweite Woche, und dann stellte sich die Frage sowieso
nicht. Aber im September fuhr er zurück in die Stadt, zu seinem
Vater, in die Schule, und die Welt drehte sich wieder etwas
langsamer um ihre müde alte Achse. Um die Zeit blieben auch die
Wanderer aus. Im Hochsommer, an den Wochenenden, kamen manchmal an
einem einzigen Tag dreißig oder vierzig, aber jetzt, mit Einbruch
des Herbstes, ließen sie sie in Ruhe – manchmal vergingen Tage,
ohne daß sie eine Menschenseele sah.
Aber darum ging es ja eben, nicht
wahr?
Sie machte sich gerade Frühstück – ein
richtiges zur Abwechslung, Eier und Speck aus dem
Propankühlschrank, frischen Filterkaffee und Toast –, als sie ihn
sah: auf einer der Serpentinen tief unter ihr mühte er sich bergan.
Sofort wurde sie ärgerlich. Es war noch nicht einmal sieben, und
das Schild am Beginn des Pfades stellte sehr deutlich fest, daß
Besucher willkommen waren, aber nur zwischen zehn und
siebzehn Uhr. Was war los mit diesem Kerl – glaubte er, für ihn
gäbe es eine Ausnahme, oder was? Dann beruhigte sie sich:
vielleicht hatte er ein anderes Ziel. Die Jagdzeit war eröffnet –
schon die ganze Woche über hörte sie das ferne, gedämpfte Knallen
von Schüssen –, und vielleicht war er nur ein Jäger auf der Spur
eines Hirschen.
Schön wär’s. Als sie beim Wenden ihres
Spiegeleis wieder aufblickte, die glatte Granitfläche und die
steile, gewundene Holzstiege hinabstarrte, die sich an den Fels
schmiegte, sah sie, daß er direkt auf ihren Turm zusteuerte.
Verdammt, dachte sie, gerade als der Kessel zu pfeifen begann. Der
Magen zog sich ihr zusammen. Das Frühstück war im Eimer. Jetzt
würde ihr irgendein Fremder beim Essen über die Schulter glotzen
und die üblichen banalen Bemerkungen machen. Die benahmen sich, als
wären sie in Disneyland, dabei war es ihr Zuhause, sie wohnte hier.
Wie es ihnen wohl gefallen würde, wenn sie morgens um sieben bei
ihnen an der Tür klingelte?
Sie setzte sich zum Essen, mit dem Rücken
zur Glastür, und hoffte, er würde weggehen, über den Grat in den
Abgrund rutschen und verschwinden, sich in Rauch auflösen, als sie
seine Schritte auf dem bebenden Laufsteg spürte, der rund um den
Turm verlief. Immer noch drehte sie sich nicht um, sah nicht auf.
Beim Essen las sie – im Lauf einer Saison schmökerte sie ganze
Waggonladungen von Büchern durch –, ohne den Blick von der Seite zu
heben. Sollte er doch vom Laufsteg aus hereinglotzen, durch das
Fernrohr ins Tal schauen und dann wieder die Stufen
hinunterpoltern, ihr war das egal. Sie war keine Fremdenführerin.
Ihr Job war es, nach Rauch Ausschau zu halten, vierundzwanzig
Stunden am Tag, und zu den Wanderern, die sich schwitzend und
keuchend den langen Weg zu ihr herauf plagten, um sie für kurze
Zeit auf dem Dach der Welt zu besuchen, freundlich zu sein – falls
sie dazu in der Laune war und die Zeit hatte. Nirgendwo stand
geschrieben, daß sie sie in die Hütte lassen, ihnen das Funkgerät
oder die kartographische Ausrüstung erklären und den
Standardvortrag darüber halten mußte, wie alles funktionierte.
Schon gar nicht um sieben Uhr morgens. Zum Teufel mit ihm, dachte
sie, während sie das Spiegelei verschlang und versuchte, sich auf
ihr Buch zu konzentrieren.
Dummerweise war sie aber darauf trainiert,
etwa alle dreißig Sekunden von allem, was sie gerade tat,
aufzublicken und den Horizont abzusuchen, das war ihr zum Reflex
geworden. Also blickte sie auf, und da war er. Sie erschrak. Er war
rundherum gegangen und stand jetzt direkt vor ihr, grinste und
hielt etwas in der Hand hoch. Blumen, Wildblumen, das registrierte
sie, dann aber sah sie in sein Gesicht und spürte, wie etwas in ihr
zusammensank: sie kannte ihn. Er war schon einmal dagewesen.
»Lainie«, sagte er, klopfte ans Glas und
wedelte mit den Blumen, »ich hab Ihnen was mitgebracht.«
Ihr Name. Er kannte ihren Namen.
Sie versuchte ein Lächeln, und ihre Miene
gefror um es herum. Das Taschenbuch auf dem Tisch vor ihr stieß den
Salzstreuer um und klappte mit einem leisen, wie gehauchten Seufzer
von selbst zu. Sollte sie sich bedanken? Sollte sie aufstehen und
den Riegel vorlegen? Sollte sie einen Notruf über Funk aussenden
und sich das Küchenmesser schnappen?
»Entschuldigen Sie, daß ich beim Frühstück
störe – ich wußte nicht, wie zeitig es noch ist«, sagte er, und
dabei geschah etwas mit seinem Grinsen, obwohl seine Augen – ein
hartes, metallisches Blau – die ihren wie mit Zangen festhielten.
Er hob die Stimme, um das Glas zu durchdringen. »Ich campe unten am
Long Meadow Creek, und als ich heute früh über den Pfad gekommen
bin, dachte ich mir, Sie sind vielleicht einsam, und da wollte ich
Sie überraschen« – er zögerte –, »ich meine, mit einem
Blumenstrauß.«
Sie war jetzt am ganzen Körper angespannt.
Spinner hatte sie schon öfter oben gehabt – das war Berufsrisiko –,
aber an diesem war etwas höchst Beunruhigendes; an diesen erinnerte
sie sich. »Es ist zu früh«, sagte sie schließlich und half mit
Zeichensprache nach, als wäre die Scheibe nicht schalldurchlässig,
dann stand sie auf von dem halbgegessenen Ei und dem Speck, den sie
nicht angerührt hatte, und ging zielstrebig zum Funkgerät. Es
befand sich direkt unter dem Fenster, vor dem der Mann stand, und
als sie das Mikro nahm und den Sprechkopf drückte, war sie einen
halben Meter entfernt von ihm, getrennt durch nichts als die dünne
Glasscheibe.
»Needles Lookout«, sagte sie, »hier
Elaine. Zack, bist du da? Kommen.«
Zacharys Stimme meldete sich sofort. Er
studierte Forstwirtschaft und löste sie zwei Tage pro Woche ab,
wenn sie sich aufmachte, den Berg hinabzusteigen, um einen Tag mit
ihrem Sohn zu verbringen, ein paar Einkäufe zu erledigen und abends
mit Cynthia Furman, ihrer besten Freundin und Seelenverwandten, ins
Kino oder etwas trinken zu gehen. »Elaine«, sagte er durch das
statische Knistern, »was gibt’s? Irgendwas Komisches gesehen da
draußen? Kommen.«
Sie zwang sich, aufzusehen und die Augen
des Fremden zu prüfen – er grinste immer noch, aber das Grinsen war
schlaff und unstet, und es lag keine Freude in der Tiefe dieser
harten blauen Augen –, und sie hielt das schwarze Plastikmikrofon
einen Moment länger als nötig stumm vor sich, ehe sie antwortete.
»Nichts, Zack«, sagte sie. »Wollte mich nur melden.«
Seine Stimme klang blechern. »Okay«, sagte
er. »Dann bis später. Ende.«
»Ende«, sagte sie.
Und was nun? Der Kerl trug ein Jagdmesser
in einem Futteral am Bein. Er hatte hohle Wangen, als ob er einen
Bonbon lutschte, und seine Oberlippe wurde von einem altmodischen,
buschigen rötlichen Schnurrbart verborgen. Statt einer
Baseballmütze trug er einen breitkrempigen Filzhut. Wyatt Earp,
dachte sie, und sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, um ihn
ganz einfach zu ignorieren, bis er den Wink endlich verstand, bis
er die einhundertfünfzig hölzernen Stufen wieder hinunterstieg und
im Wald und aus ihrem Leben verschwand, als er erneut an die
Scheibe klopfte und fragte: »Haben Sie was zum Reinstellen für die
– für die Blumen, meine ich?«
Sie wollte seine Blumen nicht. Sie wollte
ihn nicht auf der Plattform. Sie wollte ihn nicht in ihr vier mal
vier Meter großes Allerheiligstes einlassen, wo er ihre Sachen
anfassen, herumstöbern, dumme Fragen stellen und belangloses Zeug
plaudern konnte. »Hören Sie«, sagte sie schließlich, wobei sie zwar
das Glas ansprach, aber an ihm vorbeiblickte, durch ihn hindurch,
und die unendliche Ferne absuchte, wie sie es sich angewöhnt hatte,
ganz egal, was passierte. »Ich habe hier eine Aufgabe zu erledigen,
und zwischen fünf Uhr nachmittags und zehn Uhr morgens darf niemand
hier oben auf die Plattform« – jetzt sah sie ihn wieder an und
bemerkte, daß sein Lächeln verflogen war –, »und das müßten Sie
eigentlich wissen. Es steht klar und deutlich auf dem Schild unten,
wo der Pfad anfängt.« Sie sah beiseite; es war vorbei, sie war
fertig mit ihm.
Sie wandte sich wieder ihrem Frühstück zu,
zwang sich, auf das Buch zu starren, obwohl ihr Herz raste und die
Worte keinerlei Bedeutung hatten. Als der Mann zum erstenmal
gekommen war, war Todd dagewesen. Todd war vierzehn, großgewachsen
wie sein Vater, blond und schlaksig. Er war ein guter Junge, ihre
letzte, allerletzte Hoffnung, und er schien die Zeit zu genießen,
die er mit ihr hier oben verbrachte. Es war ein Samstag nachmittag
gewesen, und seit dem Morgen waren ständig Besucher dagewesen. Todd
saß in der Vorratskammer unten und schmökerte in Comics (in weiser
Voraussicht hatte die Forstbehörde diesen zweiten Raum geschaffen,
fünfundzwanzig Stufen tiefer, nicht nur für Vorräte, sondern auch
zum Ausspannen – es war ein winzig kleiner Raum der Geborgenheit,
mit einem einzigen matten Fenster hoch oben, um Licht
hereinzulassen, Antithese und Gegenmittel für die nackte gläserne
Kiste des Ausgucks weiter oben.) Elaine war auf ihrem Posten
gewesen, hatte Suppengemüse kleingeschnitten und dabei den Horizont
abgesucht.
Sie hatte ihn zunächst nicht bemerkt –
damals waren so viele Besucher gekommen, daß sie nicht so
konzentriert war wie in ruhigeren Zeiten. Sie fühlte sich leutselig
und unbekümmert, als Gastgeberin einer netten Party. Kurz zuvor war
ein Professor heraufgestiegen, ein Ornithologe, und sie hatten sich
lange über Steinadler und Rotschwanzbussard unterhalten. Danach kam
das Mädchen aus Merced – sie konnte nicht viel älter als siebzehn
gewesen sein –, die ihr Baby auf dem Rücken trug, und die beiden
dicklichen Mittsechzigerinnen, voller Stolz auf ihren
Vier-Kilometer-Aufstieg und leicht benommen von der dünnen Luft und
der Aufregung über die eigene Leistung. Elaine hatte den beiden
eine Tasse Tee angeboten und ihnen nicht den Spaß verderben wollen,
indem sie etwa darauf hinwies, daß auch der Rückweg vier Kilometer
lang war.
Sie hatte seine Schritte auf der Plattform
draußen gespürt und sich lächelnd zu ihm umgedreht. Er war groß,
mit kräftiger Brust- und Schulterpartie, und tippte sich an den
Hut, ehe er den Kopf durch die offene Tür steckte. »Schöne Aussicht
hier?« fragte er.
Etwas in seinem Blick hätte sie warnen
müssen, aber sie fühlte sich gesellig und gastfreundlich, und sie
spürte auch die Großzügigkeit in seinen Händen und seinem Wesen.
»Nichts im Vergleich zu einem Blick auf den Ventura Freeway«
erwiderte sie lässig.
Er lachte laut, und dann stand er in der
Tür, beide Hände auf dem Türrahmen. »Anscheinend hat das mönchische
Leben Ihrem Humor keinen Abbruch getan« – und dann verstummte er,
als wäre er zu weit gegangen. »Na ja, ›mönchisch‹ ist ja wohl das
falsche Wort – gibt es eine weibliche Version davon?«
Ziemlich frech. Und zum Flirten aufgelegt.
Aber sie war ebenfalls in der Stimmung dazu, sie wußte nicht, warum
– vielleicht weil Todd bei ihr war, vielleicht war es nur die
schiere sprudelnde Lust daran, auf dem Dach der Welt zu leben –,
und immerhin ödete er sie nicht nur mit der immer gleichen Leier
an, die sie an die hundertmal pro Woche über sich ergehen lassen
mußte: über das Alleinsein und die schöne Aussicht und Rauch am
Horizont. »Kommen Sie rein«, sagte sie. »Ruhen Sie einen Augenblick
aus.«
Er setzte sich auf den Bettrand und nahm
den Hut ab. Seine Frisur war ein abgewandelter Punkschnitt –
steife, unregelmäßige Zacken –, und das überraschte sie: irgendwie
paßte sie einfach überhaupt nicht zu dem Cowboyhut. Seine Jeans
waren steif und neu, die handgenähten Stiefel sahen aus wie frisch
geputzt. Er betrachtete sie – sie trug khakifarbene Shorts und ein
T-Shirt, in Erwartung der vielen Leute hatte sie sich am Morgen die
Haare gewaschen, und ihre Beine sahen gut aus – das wußte sie –,
braungebrannt und wohlgeformt durch den häufigen Auf- und Abstieg
während des Sommers. Sie spürte etwas, das sie schon sehr lange
nicht mehr gespürt hatte, seit Ewigkeiten nicht, und sie wußte, daß
ihre Wangen sich röteten. »Heute haben Sie sicher einen Sack voll
Flöhe zu hüten gehabt hier oben, was?« sagte er, und irgend etwas
stimmte nicht an der gezwungenen Lockerheit dieser Wendung, paßte
nicht zu seinem Akzent, so wie der Haarschnitt nicht zum Hut
paßte.
»Seit heute früh hab ich sechsundzwanzig
gezählt.« Sie schnitt eine Möhre in Würfel und warf sie in die
Pfanne zu den Zwiebeln und den Zucchini, die sie zuvor zerkleinert
hatte.
Er starrte aus dem Fenster und bearbeitete
seine Hutkrempe mit den Fingern. »Hoffentlich verübeln Sie mir
nicht, was ich jetzt sage – aber das Beste an der ganzen Aussicht
sind Sie. Sie sind hübsch. Wirklich hübsch.«
Das hatte sie schon gehört. Ungefähr
tausendmal. Von den Ausflüglern, die den Anstieg zum Ausguck
unternahmen, waren circa siebzig Prozent männlich, und wenn sie
allein oder mit anderen Männern unterwegs waren, versuchten neunzig
Prozent von ihnen, sie auf die eine oder andere Art anzumachen. Sie
ärgerte sich darüber, konnte es ihnen aber nicht wirklich verübeln.
Wahrscheinlich lag eben etwas Unwiderstehliches in der Kombination:
junge Frau mit blondem Haar und schönen Beinen in einem gläsernen
Turm mitten im Nirgendwo – und ganz allein. Rapunzel, laß mir dein
Haar herunter. Komplimente – oder dumme Sprüche – blockte sie
meistens ab, indem sie offiziell wurde und sich auf ihre Autorität
als Mitarbeiterin der Forstbehörde, Regierungsangestellte und
Chefin, Königin und Despotin von Needles Lookout berief. Diesmal
sagte sie gar nichts. Hob nur kurz den Kopf, um den Horizont
abzusuchen, ehe sie wieder auf Messer und Hackbrett hinuntersah und
Frühlingszwiebeln und Koriander kleinschnitt.
Er beobachtete sie immer noch. Er saß auf
ihrem großen Doppelbett, einem der wenigen leiblichen Genüsse, die
die Forstbehörde einem hier oben bot. Es hatte natürlich keine
Kopfstütze – es war nur eine große, flache, recht harte Matratze,
die auf Fensterhöhe mit der gläsernen Wand abschloß, so daß man
auch im Bett liegend seine Arbeit tun konnte. Wahrscheinlich war es
ursprünglich für Paare gedacht. Als er wieder den Mund aufmachte,
wußte sie, was er sagen würde, ehe die Worte heraus waren. »Schönes
Bett«, sagte er.
Was hatte sie erwartet? Er war nicht
anders als die anderen – warum auch? Urplötzlich fiel er ihr auf
die Nerven, und als sie ihm jetzt wieder das Gesicht zuwandte, war
ihre Stimme eiskalt. »Haben Sie schon durch das Fernrohr gesehen?«
fragte sie und deutete dabei auf das Bushnell-Teleskop, das am
Geländer des Laufstegs montiert war – jenseits des Fensters, vor
der Tür.
Er ignorierte die Aufforderung. Er erhob
sich. Sechzehn Quadratmeter: für zwei zuwenig. »Ihnen muß es ja
schrecklich einsam werden hier«, sagte er, und auch seine Stimme
klang jetzt verändert, die gespielte Lockerheit und Jovialität
waren verschwunden, »eine hübsche Frau wie Sie. Eine schöne Frau.
Ihre Beine sind echt sexy, wissen Sie?«
Sie wurde rot – er konnte es sehen, da war
sie sicher –, und das machte sie wütend. Sie wollte ihn gerade
hinauswerfen, wollte ihm sagen, er solle ihr Haus verlassen und
nicht mehr wiederkommen, verdammt noch mal, als Todd die Stufen
heraufpolterte, ganz aufgeregt und gehetzt. »Mom!« rief er atemlos,
und seine Stimme klang schrill und heiser. »Da draußen tropft
überall Wasser raus!«
Wasser. Es dauerte eine Weile, bis sie
begriff. Wasser war wertvoll hier oben, ja unersetzlich. Einmal im
Monat brachten ihr zwei bärtige Männer mit Ärmelaufnähern der
Forstbehörde sechs Fünfundsiebzig-Liter-Kanister herauf – so wie
früher, auf Mulis. Sie ging mit diesem Wasser so haushälterisch um,
als lebten sie mitten im Negev, sparte jeden Tropfen und gestattete
sich nur selten den Luxus einer kurzen Haarwäsche mit Spülung, so
wie an diesem Morgen. Im nächsten Moment stürzte sie zur Tür hinaus
und hastete ihrem Sohn hinterher die Stufen hinab. Unten, vor dem
Lagerraum, in dem die Kanister ordentlich aufeinandergestapelt
standen, sah sie sofort, daß auf dem Fels eine dünne Wasserschicht
glänzte. Sie bückte sich zu dem vordersten Kanister. Aus einem
feinen Spannungsriß im milchigweißen Plastik, etwa drei Zentimeter
über dem Boden, leckte das Wasser. »Los, faß mit an, Todd«, sagte
sie. »Wir müssen ihn umdrehen, so daß das Loch oben ist.«
Voll wog ein Kanister knapp achtzig Kilo,
und dieser war fast voll. Sie legte ihr ganzes Gewicht hinein, alle
Kraft ihrer trainierten, muskulösen Beine, schaffte es aber auch
mit Todds Hilfe nur, das Ding auf die Seite zu drehen. Sie atmete
schwer und schwitzte, hatte sich irgendwo das Bein aufgeschrammt,
so daß die Haut über der Kniescheibe von lauter Blutpünktchen
gerötet war. In diesem Augenblick wurde ihr bewußt, daß der Fremde
direkt hinter ihr stand. Sie blickte zu ihm auf, er wurde von der
Weite des Himmels eingerahmt, hatte die Sonne im Gesicht, die
großen Hände in die Hüfte gestemmt. »Kann ich Ihnen unter die Arme
greifen?« fragte er.
Im nachhinein wußte sie nicht, weshalb sie
das Angebot ausgeschlagen hatte – vielleicht weil Todd den Mann so
ehrfürchtig anglotzte, weil in seinem Tonfall das bekannte
So-hübsch-und-ganz-allein-hier-oben-Klischee mitschwang oder weil
sie das Bild der hilflosen Frau einfach haßte –, doch ehe sie lange
überlegen konnte, erwiderte sie: »Ich brauche Ihre Hilfe nicht; ich
schaffe es schon selbst.«
Und dann sanken seine Hände von den Hüften
herab, er trat einen Schritt zurück, und auf einmal entschuldigte
er sich, wurde sanft und witzig und charmant, und es tue ihm leid,
daß er ihr zu nahe getreten sei, und er wolle ja nur helfen, und er
wisse sehr wohl, daß sie es auch allein schaffte, andeuten wolle er
gar nichts – und ebenso abrupt verstummte er, ließ die Schultern
hängen und verschwand ohne ein weiteres Wort die Stufen
hinunter.
Lange sah sie ihm nach, wie er auf dem
Pfad immer kleiner wurde, erst dann wandte sie sich wieder dem
Wasserkanister zu. Bis sie ihn endlich gemeinsam mit Todd ganz
umgedreht hatte, war er halb leer.
Tja. Und jetzt war er wieder hier, obwohl
er kein Recht dazu hatte, er war ein Eindringling, und er wußte es,
er war jetzt ein Irrer, der neue Ebenen des Irreseins definierte.
Ein Notruf war in Sekundenschnelle durchgegeben – da würde sie
nicht zögern –, und in weniger als fünf Minuten wäre ein
Hubschrauber hier, so schnell waren diese Feuerwehrleute, sie hatte
sie schon in Aktion erlebt. Fünf Minuten. Sie würde nicht zögern.
Sie hielt den Kopf gesenkt. Sie schnitt und kaute jedes Stück Speck
mit langsamer Entschlossenheit, und sie las denselben Absatz immer
wieder, bis er jeden Sinn verlor. Als sie wieder aufsah, war er
weg.
Danach schleppte sich der Tag dahin,
als wollte er nie zu Ende gehen. Der Kerl hatte sie keine zehn
Minuten lang mit seinem Söldnergrinsen und den lächerlichen Blumen
belästigt, aber es war ihm gelungen, ihr die Laune zu ruinieren. Er
hatte ihr Gleichgewicht gestört, und sie stellte fest, daß sie
weder lesen noch zeichnen, noch an Todds Pullover weiterstricken
konnte. Sie ertappte sich dabei, daß sie völlig geistlos
irgendeinen Punkt am Horizont fixierte, ihren Verstand treiben
ließ. Sie aß zuviel. Das Mittagessen wurde zur Zeremonie, das
Abendessen zum Ritual. Besucher kamen keine, obwohl sie sich
ausnahmsweise nach ihnen sehnte. Die Abenddämmerung verklang
allmählich im Westen, und als die Nacht hereinbrach, gab sie sich
gar nicht lange Mühe mit der Propanlampe, sondern setzte sich
einfach nur auf die Ecke ihres Betts und ließ sich gefangennehmen
von der wirbelnden Weite der Konstellationen und vom Traum der
Milchstraße.
Und dann konnte sie nicht einschlafen. Sie
mußte immer an ihn denken, an den Fremden mit den großen Händen und
dem seltsamen Blick, suchte ständig den Laufsteg nach seinem
plötzlichen schwarzen Schatten ab. Wenn er um sieben Uhr früh
auftauchte, warum dann nicht auch um drei? Was sollte ihn daran
hindern? Es war nichts zu hören, gar nichts – der Wind hatte sich
gelegt, und die Nacht war klar und ohne Mondschein. Zum erstenmal,
seitdem sie hier war, zum erstenmal in drei langen Sommern fühlte
sie sich in ihrem Glashaus nackt und verletzlich, ausgesetzt wie
ein Fisch im Aquarium. Die Nacht umfaßte sie und hielt sie in ihrem
Griff.
Dann dachte sie an Mike und an das Haus,
in dem sie gewohnt hatten, als er nach dem Studium als
Lehrbeauftragter an einer kleinen öffentlichen Uni in den schönen
einsamen Bergen von Oregon anfing. Das Haus war eine dieser
A-förmigen Satteldachkonstruktionen gewesen, Wohnraum mit
Dachkammer darüber, mitten unter den Bäumen, wie ein Haus im
Märchen. Es bestand nur aus Fenstern, und aus jedem sah man auf
Bäume hinaus, die fast ins Haus wuchsen. Der Vorbesitzer, ein alter
Witwer mit wäßrigen Augen und gelblichen Haaren in den Ohren, hatte
auf Jalousien oder Vorhänge völlig verzichtet, was Mike gar nicht
gefiel – er lag ihr dauernd in den Ohren, sie solle die Fenster
abmessen und dann Jalousien oder Vorhangstoff bestellen. Sie hatte
aufbegehrt: die Offenheit, das Licht, das Gefühl des Verbundenseins
und des Dazugehörens machten für sie ja gerade den Reiz des Hauses
aus. Sie liebten sich immer nur im Dunkeln – Mike bestand darauf –,
als wäre es etwas, dessen man sich schämen mußte. Und nach einer
Weile war es das auch.
Dann dachte sie an die Zeit davor, an die
Zeit vor Todd und dem Studium, als Mike neben ihr im
Aufenthaltsraum des Studentinnenheims saß, auf dem Tisch vor dem
Sofa aufgeklappte Lehrbücher, um sie herum die Hitze und das
Gemurmel von einem Dutzend anderer Paare, die Münder und Körper
aneinanderrieben. Man traf sich »zum Lernen«. Stundenlang klammerte
sie sich an ihn, das Sofa war wie ein schlingerndes Boot in
stürmischer See, quälende Lust, unbeholfene Unschuld, ein endloses
Vorspiel, das sie feucht werden ließ und erregte, während der Wind
hinter den hohen, zugefrorenen Fenstern heulte. Was für Gefühle.
Dann, so gegen Viertel vor eins, kam der Hausmeister und machte das
Licht ein paarmal aus und an, zum Zeichen, daß jetzt Schluß war,
und sie fielen sich ein letztes Mal in die Arme, jeder Schritt bis
zum Ausgang war in Hormone getränkt, dann ein verzweifelter
Abschied, bis er irgendwann doch ging und sie den Verlust spürte
wie eine Soldatenbraut. Bis zum nächsten Abend.
Irgendwann – es war gegen zwei, drei Uhr
morgens, der Große Bär stand bereits tief am Horizont, der Orion im
Zenit – dachte sie wieder an den Fremden, der ihr das Frühstück
verdorben hatte. Hier auf der Ecke des Betts hatte er gesessen,
hinter dem Fenster hatte er mit seinem jämmerlichen Blumenstrauß
gewedelt und den Himmel verfinstert. Als sie an ihn dachte, genau
in diesem Moment, hörte sie draußen ein leises dumpfes Geräusch auf
der Stiege, ein sachtes Rascheln, eine Bewegung, und sie konnte
weder atmen noch sich rühren. Die Sekunden pochten in ihrem
Schädel, und das Rascheln – es hatte geklungen wie das Fegen eines
Besens – war vorbei: irgendein nächtliches Tier, eine Ratte, das
flüchtige Streifen eines Eulenflügels. Sie dachte an diese Hände,
die Augen, die kantigen Schultern, und sie fühlte, wie sie in die
Nacht hineingezogen wurde, erleichtert und dann sogar
dankbar.
Sie erwachte sehr spät, als die
schrägen Sonnenstrahlen ihre Lippen berührten und ihr in die Augen
schienen. Zachary brachte über Funk die Neuigkeit, daß Oakland sich
den Titel im Baseball geholt hatte und daß ein Hurrikan die
Ostküste heimsuchte. »Du klingst ja entsetzlich«, sagte er. »Ich
hab dich doch nicht etwa aufgeweckt?«
»Hab gestern nicht einschlafen
können.«
»Wieder Sterne geguckt?«
Sie versuchte für ihn zu lachen. »Stimmt«,
sagte sie. Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Meine Güte, du
hast mich gerade erst abgelöst. Ich habe noch vier Tage vor mir,
bevor ich wieder runterkomme.«
»Werd bloß nicht mystisch. Und laß mir
diesmal genug Müsli da, ja? Falls es dir ausgeht, sag rechtzeitig
Bescheid. Wir reden hier über mein Frühstück. Und mein Mittagessen.
Und manchmal, wenn ich keine Lust zum Kochen hab –«
Sie unterbrach ihn: »– dein Abendessen,
ich weiß. Ich werd darauf achten.« Sie gähnte. »Also, bis
später.«
»Okay. Ende.«
»Ende.«
Als sie den Kessel auf den Kocher stellte,
zischte das Gas noch, aber als sie sich umdrehte, um die Butter aus
dem Kühlschrank zu holen, erlosch die Flamme. Sie versuchte es mit
einem zweiten Streichholz, aber es kam nichts. Das hieß, daß sie
den zweiten Propantank anschließen mußte: kein Problem, nur lästig.
Die Tanks, die einmal im Jahr mit dem Hubschrauber gebracht wurden,
befanden sich am Fuß der Stiege, einhundertfünfzig Stufen unter
ihr. Es gab dort einen flachen Platz, in der Nische, die auf einer
Seite über einer überhängenden, sechs Meter hohen Felswand
abgeschirmt war. Auf der anderen Seite war der nächste Vorsprung
erst dreihundert Meter weiter unten.
Sie zog sich Shorts an, und weil es trotz
der Sonne kalt draußen war – einmal hatte es schon an einem fünften
September geschneit, und jetzt war bald Oktober –, holte sie einen
extra großen Pullover hervor, der früher Mike gehört hatte. Sie
hatte ihn damals in dem Kissenbezug gefunden, der in der Eile des
Auszugs ihr Kleiderschrank gewesen war; Mike hatte ihn nie
zurückgefordert. Es war windig, und eine scharfe Bö durchfuhr sie,
als sie die Tür aufriß und sich an den Abstieg machte. Mächtige
flauschige Kumulusballen zogen eilig über den Himmel, schwollen an
und wurden schmaler, wechselten ständig die Form, aber sie sah
nichts, was dunkel genug – oder groß genug – gewesen wäre, um ein
Unwetter anzuzeigen. Trotzdem, man konnte nie wissen. Der Wind kam
vom Norden, und im Radio hatten sie angekündigt, daß vom Pazifik
her eine Front aufzog – es würde sie nicht überraschen, wenn es
über Nacht schneite. Ein ordentlicher Schneefall, und die
Brandgefahr wäre für diese Saison vorbei, dann konnte sie nach
Hause. Vorzeitig.
Sie dachte darüber nach – an die vier
Wände des Zimmers in der kleinen Selbstversorgerpension, das sie in
einer öden Straße in einer öden Stadt gemietet hatte, um im Winter
nahe bei Todd zu sein –, und sie hoffte, es würde nicht schneien.
Nicht jetzt schon. Noch nicht. In einem trockenen Jahr – und dies
war schon ihr drittes – blieb sie manchmal bis Mitte November oben.
Sie erreichte den Fuß der Stiege und beugte sich über die
Propantanks, zwei riesige Stahlbehälter, die im Grün der
Forstbehörde gestrichen waren, und sie fühlte sich deprimiert bei
dem Gedanken an diese vier tristen Wände und an die Kälte und den
Wetterumschwung, der kommen würde oder auch nicht. Sie hatte eine
Gänsehaut auf den Beinen, und ihr Atem hing ringsherum in der Luft.
Sie blickte einem Erdhörnchen nach, sah das hellgrau gefleckte Fell
des pummligen Wesens, das auf der überhängenden Felswand
entlanghuschte, und dann schraubte sie die Kupplung des leeren
Tanks ab und drehte den Anschlußstutzen zu dem vollen
hinüber.
»Probleme mit dem Gas?«
Die Stimme kam von hinten und etwas über
ihr, und sie fuhr zusammen, wie von einem Hornissenstich. Noch
bevor sie herumwirbelte, wußte sie, wem die Stimme gehörte.
»He, he, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Schon gut. Entschuldigung.« Da stand er, der fröhliche Camper, das
Messer ans Bein geschnallt, direkt in ihrem Rücken und zwei Stufen
über ihr. Diesmal verbargen sich seine Augen hinter einer
Sonnenbrille mit Spiegelgläsern. Die Krempe des Stetsonhuts war
tief ins Gesicht gezogen, und er trug einen Schafpelzmantel, den
flauschigen Kragen hochgestellt.
Sie konnte ihm nicht antworten, geschweige
denn ihn anlächeln oder freundlich sein. Er hatte sie außerhalb
ihres Allerheiligsten überrascht, draußen im Freien,
einhundertfünfzig ermüdende Stufen weit weg vom Funkgerät, dem
Küchenmesser, dem harten, flachen Bett mit der Aussicht. Sie duckte
sich. Er baute sich über ihr auf, seine Schultern wie aus dem
Himmel geschnitzt. Todd war in der Schule. Mike – an Mike wollte
sie gar nicht denken. Sie war mutterseelenallein.
Er stand reglos da, in seinem Gesicht
bewegte sich nur der Schnurrbart, der sich jetzt zum Grinsen hob
und die Zähne entblößte. »So was kann echt nervig sein«, sagte er,
und wieder stahl sich der joviale Ton in seine Stimme, »solche
Gastanks, meine ich. Gefährliche Dinger. Ich selber koche
elektrisch.«
Sie hatte sich vorsichtig aus der Hocke
erhoben, ihre kräftigen Beinmuskeln spannten sich an. Sie hätte es
riskiert, die Stiege hinaufzurennen, alle einhundertfünfzig Stufen,
hätte ihren Beinen voll vertraut, aber er blockierte die Treppe –
fast als wollte er ihr zuvorkommen. Sie hatte noch kein Wort
gesagt. Sie wirkte verängstigt, das wußte sie. »Campen Sie immer
noch?« fragte sie, bemühte sich darum, das Gesicht zu entspannen
und sein Lächeln zu erwidern, auf dem Banalen und Normalen zu
beharren, auf dem bedeutungslosen Geplänkel einer bedeutungslosen
Konversation.
Er sah weg von ihr, das Licht blitzte auf
den leicht konvexen Gläsern der Sonnenbrille, und er tippte eine
der hölzernen Stufen mit seiner silbernen Stiefelspitze an. Dann
wandte er sich wieder zu ihr um und nahm die Sonnenbrille ab. »Ja«,
sagte er achselzuckend, »schon irgendwie.«
Die Antwort war unerwartet. Schon
irgendwie? Was sollte das bedeuten? Er hatte sich nicht bewegt und
betrachtete sie mit diesem Blick – sie kannte den Blick, kannte die
Pose, kannte den Schnurrbart und den Hut, aber seinen Namen kannte
sie nicht. Er kannte ihren, aber sie kannte seinen nicht, nicht mal
den Vornamen. »Entschuldigung«, sagte sie, und als sie jetzt zum
Schutz vor der Sonne eine Hand an die Augen führte, zitterte sie,
»wie war doch gleich Ihr Name? Ich meine, ich kenne Sie, nicht nur
von gestern früh, sondern auch von damals, so etwa vor einem Monat,
aber...« Sie verstummte.
Er schien sie nicht gehört zu haben. Der
Wind rauschte in den Bäumen. Sie blinzelte tatenlos in die Sonne –
sonst konnte sie nichts tun. »Also, campen war ich eigentlich
nicht«, sagte er. »Nicht daß ich die Natur nicht liebe – und ich
campe schon manchmal, mit Rucksack und so –, aber ich... ich
dachte, das war es, was Sie hören wollten.«
Was sie hören wollte? Wovon redete er? Sie
warf rasch einen Blick auf den Ausguck, die Sonne blitzte auf den
Fenstern, hinter dem Dach türmten sich Wolken auf, und er wirkte so
weit weg wie die Sterne in der Nacht. Wenn sie nur dort oben wäre,
könnte sie einen Notruf durchgeben, ganz bestimmt, und innerhalb
von fünf Minuten wäre Hilfe da...
»In Wirklichkeit« – und er sah jetzt
beiseite, ließ die Schultern hängen, wie ein geschlagener Hund, so
wie damals, als sie seine Hilfe mit dem Wasserkanister abgelehnt
hatte –, »in Wirklichkeit hab ich eine Hütte in der Nähe von Cedar
Slope. Ich dachte mir nur, na, daß Sie es lieber hätten, wenn ich
campen würde.« Er hatte auf seine Stiefelspitzen gestarrt, aber
jetzt sah er plötzlich zu ihr auf und grinste so breit, daß seine
Backenzahnfüllungen in der Sonne blitzten. »Ich finde, Elaine ist
ein schöner Name, hab ich Ihnen das schon gesagt?«
»Danke«, sagte sie, fast wider Willen und
ganz leise, so leise, daß sie sich selbst kaum hörte. Er konnte sie
hier vergewaltigen, konnte sie umbringen, alles mögliche. Wollte er
das? War es das? »Hören Sie«, sagte sie gepreßt, obwohl sie sich
zur Ruhe zwang, »hören Sie, ich muß zurück an die Arbeit...«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und hob die
massige Hand, »zurück ins Nest, was? Ich weiß, ich geh Ihnen
bestimmt mordsmäßig auf die Nerven damit, und sicher bin ich nicht
der erste, der das sagt, aber Sie sehen einfach zu gut aus, als daß
Sie hier an die Eichhörnchen und Coyoten verschwendet werden
sollten.« Er kam die Stufen herunter, kam auf sie zu, und sie
dachte in diesem Augenblick daran, an ihm vorbeizuflitzen, ein
wilder Gedanke, instinktiv und verzweifelt, ein Gedanke, der sich
wie mit Krallen in ihr Gehirn bohrte und dort gefror, ehe sie sich
regen konnte. »Meine Güte«, sagte er, und in seiner rauhen Stimme
lag unerschütterliche Gewißheit, »wird’s Ihnen hier denn nicht
einsam?«
Und dann sah sie die Bewegung, ein Stück
rechts und weiter unten: zwei rosa Jagdmützen, die den Pfad
heraufkamen. Es war vorbei. So einfach. Sie konnte jetzt
davongehen, die Stiege hinaufsteigen, sich im Ausguck einschließen.
Aber warum raste ihr Herz immer noch, warum hatte sie das Gefühl,
als hätte es noch nicht einmal angefangen? »Verdammt«, sagte sie
und sah ins Tal hinab, »noch mehr Besucher. Jetzt muß ich aber
wirklich zurück.«
Er folgte ihrem Blick und sah ebenfalls zu
den Jägern, die abwechselnd verschwanden und wieder zu sehen waren,
während sie sich den Weg hinaufarbeiteten. Sie erkannte jetzt ihre
Gesichter – zwei ältere Männer, strähniges Haar unter den grellen
Mützen. Unbewaffnet. Nur Fotoapparate. Er musterte die beiden einen
Moment, dann sah er ihr in die Augen, ganz tief, als hätte er etwas
darin verloren. Schließlich zuckte er die Achseln, drehte sich um
und ging den Pfad entlang auf die Männer zu.
Sie war in guter Form, in der besten ihres
Lebens. Die Stiege hatte sie schon tausendmal, zweitausendmal
hinter sich gebracht, aber nie war sie schneller oben gewesen als
jetzt. Sie flog die Stufen hinauf wie vom Wind getrieben, dabei
hämmerte ihr das Herz in Panik gegen die Rippen, und sie roch das
heraufziehende Unwetter, fühlte die Kälte bis ins Mark. Und dann
war sie an der Tür, knallte sie hinter sich zu und tastete nach dem
Riegel. Dann, erst dann fielen ihr die Blumen auf. Sie standen in
der Mitte des Tisches, in einer Kristallglasvase, Lupinen,
Kreuzkraut, Vergißmeinnicht.
Über Nacht fiel Schnee, übergroße,
monströse, taumelnde Flocken, die an den Fenstern klebten und sie
mit Verzweiflung erfüllten. Bei Licht hätte sie sich nur schutzlos
und ausgeliefert gefühlt, und deshalb saß sie jetzt schon die
zweite Nacht im Dunkeln, mit dem Küchenmesser im Schoß, und horchte
auf seine Schritte auf der Stiege, während ringsherum der Himmel
barst. Aber er würde nicht kommen, nicht nachts, nicht bei diesem
Wetter – sie war kindisch und albern, es gab keinerlei Grund zur
Sorge. Außer dem Schnee. Er bedeutete, daß ihre Saison vorbei war.
Und wenn ihre Saison vorbei war, mußte sie vom Berg hinunter in die
wirkliche Welt, in die wirkliche Zeit steigen, zurück zu Smog, Lärm
und Wirrwarr.
Sie dachte an die vier Wände, die sie
erwarteten, an den jämmerlichen Job – Kellnern, Kassiererin in
einem Schnellimbiß oder irgendeine ähnliche langsame Kreuzigung des
Geistes –, und sie dachte an Mike, kurz bevor sie ihn verlassen
hatte, sah ihn vor sich auf der schwarzen Fensterscheibe,
geschlechtslos, bleich, die schmale schmetterlingsförmige
Lesebrille ganz vorn auf die Nase geklemmt, auf seine
Schreibmaschine einhackend, tipp-tipp, tipp-tipp, verliebt in
Dryden, Swift und Pope, verliebt in tote Dichter, verliebt in den
Tod selbst. Einen Monat nachdem sie ihn verlassen hatte, war sie
auf einer Party einem Mann begegnet, der Mike in allem geähnelt
hatte, nur daß dieser in Gliederfüßler verliebt war. Gliederfüßler.
Danach hatte sie den Posten im Ausguck angenommen.
Wieder wachte sie spät auf. Als erstes
verspürte sie Erleichterung: die Sonne schien, und der Schnee – es
war nur ein dünner Zuckerguß, nichts Ernstes – begann sich bereits
von der nackten Felsenzinne zurückzuziehen. Sie stellte den Kessel
auf und ging ans Funkgerät. »Zack«, rief sie, »hier Needle Rock.
Bist du auf Empfang?«
Er war es, antwortete ihr praktisch auf
Knopfdruck. »Auf Empfang. Kommen.«
»Hier oben hat’s geschneit – nicht
allzuviel, eigentlich ist es nur leicht angezuckert. Jetzt ist der
Himmel klar.«
»Damit kommst du etwas spät – diese
Information hab ich schon längst von Lewis auf Mule Peak gekriegt.
Wieder verschlafen?«
»Ja, scheint so.« Sie beobachtete, wie
ferne Wipfel ihre Patina aus Schnee abschüttelten. Ein Bussard
segelte vor dem Fenster vorbei. Sie hielt sich das Mikro so dicht
vor die Lippen, daß es ein Teil von ihr hätte sein können.
»Zack...« Sie wollte ihm von dem Verrückten erzählen, von dem Mann
mit dem Stetson, von seinen Händen, wollte ihn für alle Fälle
alarmieren, aber sie zögerte. Ihre Stimme klang dünn und
distanziert, verloren im elektronischen Geknister von Zeit und
Raum.
»Lainie?«
»Ja. Ja, ich bin noch da.«
»Es kommt noch eine Kaltfront und
anschließend ein Unwetter. Könnte einiges an Schnee bringen. Die
Brandwachen sind noch nicht abgesagt – Reichert sagt, so bleibt’s,
bis wir nennenswerte Niederschläge haben. Na, und diesmal könnte es
soweit sein. Aber entscheide selber: willst du lieber runterkommen
oder oben abwarten, was passiert?«
Reichert war der Chef, fünfzig,
glatzköpfig, weich wie eine Auster. Die Bergregion war wie verdorrt
– eine pulvrige Schicht aus abgestorbenem Material lag fünfzehn
Zentimeter dick in den Wäldern, und jeder zweite Bach war
ausgetrocknet. Die Saison konnte ebensogut bis November dauern.
»Hier oben abwarten«, entschied sie.
»Okay, es liegt bei dir. Lewis bleibt auch
auf dem Posten, falls dich das beruhigt. Ich setze mich in
Verbindung, wenn wir hier irgendwas Neues erfahren.«
»Gut. Danke.«
»Ende.«
»Ende.«
Am späten Nachmittag ballten sich die
Wolken, und der Himmel zog sich wieder über ihr zusammen. Das
Thermometer fiel abrupt. Es sah schlecht aus. Für Schneefall war es
noch früh, aber in dieser Höhe konnte es immer schneien, egal
welcher Monat gerade war. Jährlich gingen siebeneinhalb Meter
nieder, aber sie hatte auch schon Schneestürme erlebt, bei denen
ein bis anderthalb Meter auf einmal herunterkamen. Um vier sprach
sie noch einmal mit Zachary, und er erzählte ihr von den eher
miesen Aussichten – die Chancen für weiteren Schneefall standen bei
siebzig Prozent, inzwischen bis auf neunhundert Meter hinab. »Ich
laß es darauf ankommen«, sagte sie. Schlimmstenfalls hatte sie ein
Paar Schneeschuhe im Lagerraum.
Eine Stunde später begann es zu schneien.
Sie machte sich gerade das Abendessen – braunen Reis mit Gemüse –
und hatte die Flasche Wein geöffnet, die sie mitgenommen hatte, um
ihren letzten Tag zu feiern. Die Flocken waren kleine, winzige
Kugeln, die zischend herabsausten, und normalerweise verhieß das
einen ernsthaften Schneesturm. Die Saison war vorbei. Sie konnte
ihren Wein trinken und langsam darangehen, Ofen und Kühlschrank zu
putzen und ihre Sachen zu packen. Sie legte ein Holzscheit nach und
knöpfte sich die Jacke zu.
Die Flasche war halb leer, und sie wollte
sich gerade zum Essen setzen, als sie den Rauch bemerkte. Zuerst
dachte sie, es sei ein Schabernack des Windes, der den Rauch ihres
eigenen Ofens zurückwehte. Aber nein. Direkt unter dem Ausguck,
keine hundertfünfzig Meter weiter unten, etwa da, wo der Pfad
anfing, sah sie ein Feuer. Der Wind wehte einen Vorhang aus Schnee
vor das Fenster. Es hatte nicht geblitzt – aber trotzdem brannte
dort unten Feuer, sie war ganz sicher. Sie stand vom Tisch auf,
nahm den Feldstecher vom Haken an der Tür und trat hinaus auf den
Laufsteg, um es sich näher anzusehen.
Der Sturm raubte ihr den Atem. Das ganze
Universum war bleich geworden, oben weiß und unten weiß: und sie
saß hoch oben auf den Wolken, lebte in ihrem durchsichtigen,
gespenstischen Inneren. Jetzt roch sie auch den Rauch, den der Wind
herantrug. Sie hob den Feldstecher an die Augen, doch der Schnee
bildete eine Mauer; sie versuchte es noch einmal, aber diesmal
wehte ihr Haar vor die Objektive. Es dauerte eine Weile, aber da,
da war es: ein Feuer, das aus dem wirbelnden Strudel des Schnees
emporstieg. Ein Lagerfeuer. Oder nein, es war viel größer:
umgestürzte Bäume, zu einer Pyramide geschichtet – das war ein
Freudenfeuer, absichtlich aufgetürmt, es war ein Zeichen. Wieder
nahm ihr der Schnee die Sicht. Ihre Finger waren taub. Als das
Feuer erneut scharf ins Bild kam, sah sie eine Bewegung, einen
Schatten, der um die Flammen sprang, sie nährte und sich an ihnen
labte, und sie hielt den Atem an. Dann sah sie auch die schwarze
Spitze des Stetsonhutes, und da begriff sie.
Er campte tatsächlich.
Er campte. Er konnte umkommen da draußen –
er war wirklich verrückt –, es konnte ohne weiteres ein Blizzard
aufziehen, und dann würde es tagelang schneien. Aber er campte. Und
dann wurde ihr klar: er campte für sie.
Später, als der Ausguck einsam über dem
Schneesturm aufragte und die Kohlen im Ofen glühten und die
Finsternis sich um sie legte wie eine Decke, schaltete sie das
Funkgerät aus und legte das Messer zurück in die Schublade, wo es
hingehörte. Dann setzte sie sich im Bett auf, hoch oben über dem
Abgrund, und sah seinem Feuer zu, das im kalten Herzen der Nacht
brannte. Er würde wiederkommen, das wußte sie jetzt, und sie war
bereit für ihn.
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