Höhere Gewalt
Er war früher schon verheiratet gewesen,
und jetzt war er es wieder. Dixie, die letzte Frau, hatte sich das
Haus, das Auto, den Hund, den Mixer und seine Schallplattensammlung
von Glenn Miller und Tommy Dorsey genommen. Die Frau vor ihr,
Margot, war seine erste gewesen; er hatte sie bereits gekannt, als
er mit Schulterpolstern und Spikes übers Footballfeld gesprintet
war und sie an der Seitenlinie seinen Namen skandiert hatte, die
großen schokobraunen Augen weit aufgerissen, der schwarze Bubikopf
wie ein Fransenvorhang über der Stirn; sie hatte sich das erste
Haus, die Kinder und seine Selbstachtung genommen. Muriel war
anders. Sie war eine Naturkraft, eine höhere Gewalt, fordernd und
unerschütterlich; eine Königin, eine Kaiserin, geboren zum Gebieten
und Befehlen. Sie nahm sich alles, was noch übrig war.
Doch das war nicht allzuviel. Willis war
fünfundsiebzig – sechsundsiebzig im Oktober –, er hatte ein bißchen
Geld in Anleihen, ein oder zwei Grundstücke irgendwo in der Pampa
und zwei 1972er-Oltimer, Ford Fairlanes – wobei »Oldtimer« eine
Umschreibung für schrottreif war –, und seine Hüftgelenke waren so
wacklig, daß er nur im Stehen arbeitete, weil er Angst hatte, er
könnte einmal nicht mehr aus dem Stuhl hochkommen. Aber er
arbeitete. Er war Baumeister, seit sechzig Jahren im Geschäft, mit
all dem Stolz und der Zwanghaftigkeit, die ihm seine Mutter in
einer längst vergangenen Zeit mitgegeben hatte. Mit dem
Rentnerdasein hatte er nichts am Hut, keine Golfplätze oder
Clubhäuser. Wenn man nichts arbeitete, konnte man auch gleich tot
sein, so sah er das. Außerdem hatte er ohnehin keine Wahl – Muriel
würde ihn nie in den Ruhestand gehen lassen – nicht mal ausruhen
ließ sie ihn. Sie trieb ihn an wie ein Maultier, und er senkte den
Kopf und tat, was von ihm erwartet wurde.
Muriel ihrerseits war viermal verheiratet
gewesen, die derzeitige Verbindung mitgezählt. Die mittleren beiden
Ehegatten hatte sie praktisch vergessen – zwei müde Männer, müde
unter den Augen, im Blut, im Bett –, doch der erste war ein
Heiliger gewesen. Gutaussehend, Saxophonspieler, mit welligem
dunklem Haar und einem perfekten Stummfilm-Schnurrbärtchen – und
außerdem noch reich. Sein Vater besaß eine ganze Sammlung von
Mietshäusern und eine Ferienanlage in den Catskill Mountains, mit
einem See, einem Casino und pittoresken kleinen Bungalows, die
aussahen, als hätte man sie direkt in der englischen Provinz aus
ihren Fundamenten gehoben und mit allem Drum und Dran an den
Gaudinet Lake verfrachtet. Allein die Schultern dieses Lester
Gaudinet... sie wußte wahrlich nicht, warum sie sich je von ihm
hatte scheiden lassen. Natürlich, jetzt hatte sie Willis, und der
war ganz in Ordnung – solange sie ihm auf den Fersen blieb.
Trotzdem, wenn sie an den langen Nachmittagen bei einem Fläschchen
Rotwein dasaß und Artikel aus der Zeitung ausschnitt oder in der
Küche briet und kochte und buk, daß es für eine ganze Armee
gereicht hätte, obwohl sie selbst keine zwei Bissen aß und auch
Willis mit seinem mächtigen Appetit kaum merkliche Mengen davon
vertilgte, dann sehnte sie sich manchmal doch ein ganz klein wenig
nach Lester Gaudinet und der kehligen, schwungvollen Rhapsodie
seines Saxophons – und daneben konnte sie den Gedanken nicht
loswerden, daß das Leben sie jetzt, mit achtundsechzig, allmählich
überholte.
Es war ein schwüler, brütender Morgen
Ende September, und Willis war wie üblich um sechs Uhr auf, wusch
das Geschirr des Vorabends ab, kehrte den Boden und warf eine
halbverzehrte Lammkeule, die mit grünlich phosphoreszierendem Flaum
bedeckt war, in den Müll. Vom Rasen vor der Tür holte er die
Zeitung herein und wollte es sich gerade bei einer Tasse Kaffee und
einer Scheibe Toast gemütlich machen, als er merkte, daß das
Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot ausgegangen war. Zum
allmorgendlichen Frühstück, das Willis gewissenhaft und angespannt
zubereitete, ehe er zu seiner Baustelle davoneilte, aß Muriel zwei
Scheiben Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot, hell getoastet und
ohne Butter, dazu ein Zwei-Minuten-siebenundzwanzig-Sekunden-Ei,
hundertfünfzig Milliliter frisch gepreßten Florida-Orangensaft und
drei fingerhutgroße Täßchen Espresso. Mochte sie schon am Abend
schwierig sein, wenn er am liebsten bei einem großen Scotch mit
Wasser vor dem Fernseher in einen Sessel geplumpst wäre – echt
unmöglich war sie morgens, wenn sie aus der blutroten Höhle ihrer
schlaflosen Nacht hervorkroch wie eine Löwin, die man mit einem
spitzen Stock aufgestöbert hatte, und er wußte schon lange, was es
für das tägliche Überleben bedeutete, ihr das Placebo eines
makellosen Frühstücks zu servieren. Als Willis vergeblich in die
bodenlosen Tiefen des Brotkastens spähte, wurde ihm klar, daß eine
ausgewachsene Krise ins Haus stand.
Draußen brach ein Morgen ohne Sonne an und
erfüllte die Küche mit kränklichem, hoffnungslosem Licht. Einen
Moment lang stand Willis ratlos an der Anrichte und sah sich um,
als wäre ihm der Ort vollkommen fremd, dann faßte er sich wieder
und ihm fiel der Quick-Stop-Laden an der Ecke ein, der rund um die
Uhr offen war. Ob die wohl welches hatten? Keine Chance, entschied
er, nachdem er im Geiste die hellerleuchteten, aber kümmerlich
gefüllten Regale abgegangen war – Bier hatten sie, ja, Zigaretten,
Pornomagazine, Schokoriegel, Videos, Kaugummi –, aber wer brauchte
Brot? Er konnte sich die sechs alten Packungen mit Gold-Toast
vorstellen, die in der Cellophanverpackung hart wurden, dennoch
holte er seine Baseballmütze aus dem Schrank, trat zur Tür hinaus
und ging quer über den taufeuchten Rasen zum Auto, denn zu
verlieren hatte er ohnehin nichts.
Als er draußen mit den Schlüsseln an der
Tür von Muriels Wagen herumfummelte – beide nannten ihn »Muriels
Wagen«, weil sie damals darauf bestanden hatte, das Ding zu kaufen,
obwohl sie in New York aufgewachsen war und noch nie im Leben
hinter einem Lenkrad gesessen hatte –, fiel ihm eine Veränderung
auf. Was war es? Da war der scharfe Duft des Meeres, viel kräftiger
als sonst, und die Atmosphäre schien ihn direkt zu berühren, schwer
und feucht, ein Ziehen und Zerren wie von tausend kleinen Fingern.
Und die Vögel – wo waren die Vögel geblieben? Kein Laut war zu
hören, bis auf das Knattern eines Lasters auf der Schnellstraße...
aber er hatte wirklich keine Zeit zu trödeln, die Luft zu
schnuppern und sich mit den kleinen Mysterien des Lebens zu
beschäftigen wie ein einfältiges Kind auf dem Schulweg, also stieg
er ins Auto, ließ den Motor aufheulen, den kaputten Auspuff krachen
und dröhnen, daß jeder Hund in der Nachbarschaft aufheulte – laut
war es jetzt, viel zu laut –, und rumpelte in Richtung des
Quick-Stop los.
Als Willis eintrat, zuckte der Mann hinter
der Ladentheke heftig zusammen, entspannte sich aber beinahe im
selben Moment wieder – das Geschäft wurde ein- bis zweimal pro
Woche überfallen, solange Willis denken konnte, da hatte der gute
Mann durchaus das Recht, etwas nervös zu sein. Willis trat an die
Theke, tastete seine Taschen unbewußt nach Brieftasche, Schlüssel
und Scheckheft ab, und sagte: »Brot?« Der Verkäufer war klein,
schmächtig, dunkelhäutig und blickte in stummem Unverständnis zu
Willis auf, als hätte dieser in einer fremden Sprache gesprochen –
und so war es ja wohl auch: Willis wußte nicht, woher der Bursche
kam – Pakistani, Puertoricaner oder Paschtune? –, doch ganz
offensichtlich war seine Muttersprache nicht Englisch.
»Pan?« probierte es Willis, indem er ihm ein spanisches
Nugget hinwarf, das er während des Krieges in Texas aufgelesen
hatte. Der Mann starrte ihn aus tief eingesunkenen Augen an. Er war
um die einundzwanzig – so alt mußte er sein, um hier arbeiten zu
dürfen –, aber Willis, der ihn aus der Perspektive seines
fortgeschrittenen Lebensalters sah, kam er absurd jung vor: zwölf,
zehn Jahre, ein Baby. Auf seine Frage hob der Junge/ Mann träge den
Arm, um nach hinten zu deuten, und Willis folgte der angegebenen
Richtung. Nudeln, Katzenstreu, Käsechips... und tatsächlich, da war
es – Brot, eingezwängt zwischen dem Sonnenöl und den
Wegwerfwindeln. Eine triste kleine Sammlung aus Hot-dog-Semmeln,
Weizenfladen, Tortillas und ein einziger Laib Nußbrot mit
Konservierungsstoffen begrüßten ihn: natürlich kein
Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot. Hatte er etwa Wunder
erwartet?
Als er zurück in die Küche schlurfte,
inzwischen deutlich hinter dem Zeitplan, das Nußbrot wie einen
Football unter den Arm geklemmt, traf ihn ein Schock: Muriel war
auf. Er sah ihre verräterischen Spuren auf der Arbeitsplatte, an
der Kühlschranktür und vor der Kaffeemaschine. Er sah den
Kaffeesatz vom Vortag, der in Richtung Mülleimer geschleudert
worden war und nun dahinter von der Wand herunterlief, sah die
Stelle, wo sie ihre Tasse auf dem Herd abgestellt hatte, und daß
sie auf der Suche nach dem Süßstoff und ihren Tabletten den Schrank
durchwühlt hatte; im selben Moment hörte er auch das leise
Gebrabbel des Fernsehers im Nebenzimmer. Er fummelte an der
Espressomaschine herum, nun schon leicht gestreßt – die Zimmerleute
für das Balkenwerk waren für sieben Uhr dreißig angesagt, der
Klempner für acht –, als sie in der Tür erschien.
Muriels Miene baute sich um die Spitze
ihrer irisch-schottischen Nase und den verkniffenen Schmollmund der
üppigen Lippen auf. Sie war klein und gedrungen, und ihre
Zehenspitzen lugten unter dem Saum des Nachthemds hervor. »Wo zum
Teufel bist du gewesen?« wollte sie wissen.
Er drehte sich zum Ofen. Ein stechender
Schmerz fuhr ihm durch die Hüfte – ein Wetterwechsel stand bevor,
das spürte er. »Wir hatten kein Brot mehr, Schatzi«, sagte er und
wandte ihr sein Profil zu, während er die Eier mit dem Löffel aus
der Schale hob. »Ich mußte schnell zum Quick-Stop rüber.«
Das besänftigte sie offenbar, denn sie
verschwand im Wohnzimmer und hockte sich mit ihrer Kaffeetasse vor
den Fernseher. Willis konnte die Mattscheibe von der Küche aus
sehen, wo er Toast röstete, Espresso aufbrühte und Orangen
auspreßte. Eine quietschvergnügte Frau mit breitem hellem Gesicht
und Haaren wie aus Zuckerwatte flötete irgendwas über das Abnehmen
und eine neue Keksmarke aus Seetang. Willis schob Muriels Sachen
auf einem Tablett zurecht und trug es ihr hinein.
Sie musterte ihn grimmig, als er das
Tablett auf das Tischchen stellte, doch dann lächelte sie und
packte seinen Arm, um ihn an sich zu ziehen, ihm einen Kuß
aufzudrücken und zu sagen, wie er sie doch verwöhnte. »Ich muß
jetzt los, Schatzi«, murmelte er und war am Hinausgehen, dachte
schon an das Auto, die Straße, das Haus am Meer, das sich vor
seinen Augen entwickelte wie ein wahrgewordener Traum.
»Du bist zum Mittagessen wieder zu
Hause?«
»Ja, Schatzi«, brummte er, und dann
unterlief ihm eine fatale Fehleinschätzung: er blieb kurz vor dem
flimmernden Fernseher stehen. Inzwischen war die zuckersüß flötende
Sprecherin von einem Meteorologen abgelöst worden, der in einem
albernen Anzug mit Fliege dastand und grimassierte wie der
Türsteher eines Nachtclubs, und Willis verweilte noch – er hatte
den Wetterwechsel in der Luft gerochen und spürte ihn im
Hüftgelenk, deshalb war er neugierig. Immerhin würde er diesem
Wetter den ganzen Tag lang ausgesetzt sein.
In diesem Augenblick erscholl aus den
Tiefen der Couch, wie von den Ringplätzen bei einem Boxkampf,
Muriels Schrei – schrill, keifend, fassungslos über den Treuebruch.
»Und was soll das hier sein?« gellte sie und erklärte damit
den Wettermenschen samt Karten, Zeigestock, Satellitenfotos, ja den
Fernseher selbst für null und nichtig.
»Was denn, Schatzi?« brachte Willis
heraus, und seine Stimme war ein kleines huschendes Wesen, das in
seinem Loch verschwand. Vor den Fenstern war es grau. Der
Wetterredakteur schwadronierte über Windstärken und
Temperaturen.
»Dieser, dieser... Toast.«
»Dein Brot hatten sie nicht, Schatzi, und
Waldbaums Laden macht erst in einer Stunde auf...«
»Du Dreckskerl.« Im Nu war sie auf den
Beinen, puterrot im Gesicht und nach Atem ringend. »Hab ich dir
nicht gestern abend gesagt, wir müssen noch einkaufen gehen? Hab
ich dir nicht gesagt, daß ich ein paar Sachen brauche?«
Sie waren nun seit zwei Jahren zusammen,
und Willis wußte, daß sich Debatten mit ihr nicht lohnten – nicht
zu dieser Stunde, nicht bevor sie Toast und Ei gegessen hatte,
nicht bevor sie von der endlosen Parade aus Quizshows und
Seifenopern sediert war, die unerbittlich durch ihre Vormittage
stampfte. Er konnte nichts weiter tun, als bußfertig die Schultern
hängen zu lassen und zum Ausgang zu schleichen.
Doch sie kam ihm zuvor, sie schoß auf ihn
zu und schrie dabei: »Ja, natürlich, laß mich nur allein, geh zu
deiner Arbeit und laß mich hier zurück, du Dreckskerl!« Bei ihrer
Laune konnte alles passieren, das wußte er, und er wich vor ihr
zurück, doch plötzlich änderte sie den Kurs, ließ abrupt von ihm ab
und packte das Frühstückstablett, daß Geschirr und Besteck
klapperten und siedendheiße schwarze Flüssigkeit schwappte.
»Toast!« rief sie. »Toast nennst du das?!« Und dann sah er entsetzt
zu, wie das Tablett durch den Raum segelte wie ein Cruise-Missile,
unbeirrt und pfeilschnell, haarscharf an der Lampe vorbei, knapp
über die Lehne der Couch hinweg auf sein unausweichliches Ziel zu:
das grinsende, zwinkernde, zeigestockschwenkende Abbild des
Meteorologen.
Später, als Willis zur Arbeit gegangen
war und Muriel Gelegenheit gehabt hatte, sich wieder zu beruhigen
und über den zerstörten Fernseher und die Espressoflecken auf dem
Teppich nachzudenken, empfand sie Scham und Zerknirschtheit. Sie
hatte sich von ihrem Temperament überwältigen lassen, das war
falsch gewesen, sie gestand es unumwunden ein. Schlimmer noch: wem
hatte sie damit weh getan – außer sich selbst? Es war, als hätte
sie ihren einzigen Freund ermordet, sich von der Welt abgeschnitten
wie eine Nonne im Kloster – ach was: diese Nonnen hatten wenigstens
ihre Gebete. Statt des Reparaturdienstes hätte sie aus lauter
Unruhe und Verwirrung um ein Haar die Notrufzentrale gewählt, und
als endlich jemand abhob, war sie dermaßen verzweifelt, daß der
Fernsehtechniker schneller bei ihr war, als ein Krankenwagenfahrer
gebraucht hätte, um sich auch nur die Jacke anzuziehen – leider
erklärte er die Sache für hoffnungslos. Die Bildröhre sei hin, und
sie solle am besten in ein Geschäft fahren und sich ein neues Gerät
kaufen – dann nannte der Mann ihr ein halbes Dutzend japanischer
Marken, und sie verlor gleich wieder die Beherrschung. Lieber wäre
sie von Gott verflucht und ließe sich dreimal in der Hölle braten,
ehe sie den Japsen irgendwas abkaufte, nach allem, was die ihrem
Bruder im Krieg angetan hätten, und was sei er, der
Fernsehtechniker, denn überhaupt für einer, ein Amerikaner oder
was? Wußte er denn nicht, wie sie über uns lachten, diese
Schlitzaugen? Er raste in seinem Lieferwagen davon, ohne sich
umzusehen.
Es war zehn Uhr. Willis war bei der
Arbeit, das Wetter war beschissen, sie verpaßte die Serie
»Hollywood Squares« und konnte ihrer Kränkung nicht einmal durch
den Trost eines Einkaufsbummels abhelfen – jedenfalls nicht ehe
Willis heimkam. Du liebe Güte, dieser Willis, was für ein Baby,
dachte sie bei einer Tasse schwarzen, bitteren Espressos am
Küchentisch. Er war eine totale Ruine gewesen, als sie ihn
kennenlernte – seine vorige Frau hatte ihn ausgepreßt wie einen
alten Lappen und dann zum Trocknen aufgehängt. Seine Kleider
stanken, von früh bis spät war er betrunken, aus den letzten drei
Jobs hatten sie ihn gefeuert, und sein Auto war praktisch ein Sarg
auf Rädern gewesen. Sie hatte ein Projekt aus ihm gemacht. Hatte
ihn gerettet, ihm ein Heim und saubere Unterwäsche und weiße
Taschentücher geboten, und wenn er ihr hundertmal am Tag dafür
dankte, wäre es noch nicht genug. Wenn sie die Zügel straff anzog,
dann nur, weil das eben nötig war. Ließe sie ihm freie Bahn – auch
nur eine Stunde lang –, er käme erst drei Tage später nach Hause,
nach Gin und Erbrochenem stinkend.
Das Haus war still wie ein Grab. Sie
starrte zum Fenster hinaus; tiefhängende Wolken waberten übers
Dach, langgezogen wie Würste, wie Gedärme, schwärzlich vor Blut und
Galle. Es war vor Sturm gewarnt worden, soviel hatte sie in der
Frühstücksshow noch gehört, und wieder spürte sie einen Stich der
Reue wegen des Fernsehers. Gern wäre sie aufgestanden und hätte auf
den Nachrichtenkanal geschaltet, aber es gab keine Nachrichten mehr
– zumindest nicht für sie. Da war noch das Radio – und sie
erinnerte sich mit Wehmut ihrer Kindheit und der Abende, an denen
die ganze Familie um die große »Emerson«-Musiktruhe geschart saß
und einer Sendung nach der anderen lauschte –, doch sie hatte schon
lange kein Radio mehr gehört; es verursachte ihr Kopfweh. Und mit
Willis im Haus, wer brauchte da noch mehr Kopfweh?
Dann fiel ihr die Zeitung ein, und sie
erhob sich mit einiger Überwindung vom Tisch, um im Wohnzimmer
danach zu suchen – wenn etwas Ernstes im Anzug war, müßte es auf
der Titelseite stehen. Sie sann darüber nach, konzentrierte sich
auf die Suche nach der Zeitung und dachte gar nicht mehr an den
Fernseher, so daß sein Anblick beim Betreten des Zimmers ihr einen
Schock versetzte. Die Glasscherben hatte sie aufgefegt, gedrückt
und gebrochen, doch nun klagte sie der geborstene Bildschirm von
neuem an. Schuldbewußt durchwühlte sie den Stapel Zeitschriften und
Magazine, der sich unter dem Beistelltisch türmte, dann stöberte
sie im Schlafzimmer und ging schließlich hinaus, um im Vorgarten
nachzusehen. Keine Zeitung. Ausgerechnet heute hatte Willis sie
offenbar in die Arbeit mitgenommen. Und als sie in Morgenmantel und
Pantoffeln auf dem stillen grauen Rasen stand, wurde sie plötzlich
wieder zornig. Dieser Dreckskerl. Nie dachte er an sie, nie. Jetzt
hatte sie den ganzen düsteren, vernieselten, elenden Tag vor sich –
ohne Fernsehen, ohne Freunde, ohne Freude – und nicht einmal den
Trost der Zeitung.
Als sie vor dem Haus stand, ohne viel
Hoffnung unter die Büsche sah und dabei bemerkte, wie nachlässig
der Gärtner gearbeitet hatte – na, der würde was von ihr zu hören
kriegen, mein lieber Schwan! –, bog mit einem sanften Seufzen der
Bremsen ein großer brauner UPS-Lieferwagen auf die Einfahrt ein.
Der Fahrer war ein junger Mann, gutaussehend und breitschultrig,
und einen Moment lang hatte sie eine Vision von Lester Gaudinet,
wie er damals gewesen war. Lester Gaudinet. Wo der jetzt wohl war?
Gott allein wußte, ob er überhaupt noch lebte... aber wie gern
hätte sie ihn mal wiedergesehen, das wäre doch was.
»Mrs. Willis Blythe?« Der Mann war über
den Rasen gegangen und stand jetzt dicht neben ihr, ein Paket unter
dem Arm.
»Ja?« sagte sie. Ein Wind kam auf und riß
ihr zusammengebundenes Haar auseinander.
Der Mann hielt ihr einen Block hin, der
Wind ließ die Seiten flattern. »Unterschreiben Sie hier«, bat er
und reichte ihr einen Stift. Sie sah eine Liste von Namen und
Unterschriften und das große rote X, das auf das leere Feld neben
ihren Namen gekrakelt war.
Sie nahm ihm den Block ab und lächelte in
seine meergrünen Augen, in Lesters Augen. Sie mußte einfach
versuchen, diesen Moment möglichst lange hinauszuzögern.
»Scheißwetter heute, was?« sagte sie.
Er wirkte angespannt und unruhig, als
würde er gleich aus den Startlöchern flitzen und auf der Aschenbahn
davonstieben. »Ein Sturmtief«, sagte er. »Der Hurrikan streift
angeblich knapp an uns vorbei, bis auf einen Wolkenbruch heute
nachmittag – wenigstens haben sie das im Radio gesagt.«
Sie hielt den Block immer noch in der Hand
und beugte sich vor, um zu unterschreiben, doch dann kam ihr ein
Gedanke, und sie richtete sich wieder auf. »Ja, diese Sturmtiefs«,
sagte sie mit verächtlichem Unterton. »Und vermutlich heißt das
jetzt Bill oder Fred oder so, nicht wie früher, als man noch so
intelligent war, sie nach Frauen zu benennen. Ist doch eine
Schande, finden Sie nicht?«
Der UPS-Mann trat auf dem weichen
Rasenteppich verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Tja«, sagte
er, »sicher – aber würden Sie bitte unterschreiben, Ma’am? Ich muß
noch...«
Sie hob die Hand, um ihn zu bremsen. Mein
Gott, sah der gut aus – genau wie Lester. Natürlich war Lester
größer gewesen, hatte einen Schnurrbart gehabt und hübschere,
irgendwie hellere Augen... »Ich weiß, ich weiß – Sie haben noch
Tausende von Lieferungen zu machen.« Sie musterte ihn mit festem
Blick. »Frauen sind wie Stürme, das haben die damals begriffen« –
flirtete sie etwa mit ihm? Ja, wirklich, das war es –, »aber jetzt
heißt es Hurrikan Tom, Dick oder Harry. Ist doch zu blöd,
oder?«
»Ja«, sagte er, »sicher, aber...«
»Okay, okay, ich unterschreib schon.« Sie
signierte den Lieferschein mit der sauberen, eckigen Schrift, die
sie vor ewigen Zeiten in der kirchlichen Schule gelernt hatte, dann
strahlte sie ihn mit ihrem kokettesten Lächeln an – warum nicht,
war sie etwa zu alt? Nicht in dieser Welt, nicht bei alldem, was
man heutzutage so im Fernsehen sah. Sie berührte ihn am Arm und
hielt ihn kurz fest, während er ihr das Päckchen gab. »Danke
schön«, murmelte sie. »Sie sehen verdammt gut aus, wissen Sie
das?«
Und er stand da wie ein Trottel, wie ein
Schuljunge, und wurde tatsächlich rot. »Ja, ja«, stammelte er, »ich
meine, nein, ich meine, danke.« Und dann rannte er über den Rasen,
der Papierblock flatterte im Wind, der jetzt auch ihr Haar wieder
zerzauste. »Schönen Tag noch«, rief sie, aber er hörte sie nicht
mehr.
Im Haus sah sie sich das Päckchen kurz an
– auf dem Etikett stand »Frinstell Corporation« –, dann ging sie in
den Hobbyraum, um eine Schere zu holen. Frinstell Corporation,
dachte sie und murmelte den Namen vor sich hin, was war denn das
nun wieder? Sie schnitt laufend Anzeigen aus Zeitschriften aus und
schickte sie weg – lauter einmalige Angebote –, aber »Frinstell«
sagte ihr nichts. Es dauerte einen Moment, die Schere blinkte matt
im Zwielicht der Küche, dann hatte sie das Klebeband an der Kante
aufgeschlitzt und wühlte sich durch das Packpapier im Innern. Und
da – ach ja, natürlich – das war ja die
Original-Heim-Wetterstation, die sie bestellt hatte, geprüft vom
Meteorologischen Dienst der USA, montiert auf eine blankpolierte,
mit echtem Walnußfurnier überzogene Platte: Thermometer, Barometer
und Hygrometer in einem – mit lebenslanger Garantie.
Ein hübsches Gerät, dachte sie und hob es
bewundernd in die Höhe. Blinkendes Messing, schöne große Ziffern
und Teilstriche, für die man keinen Feldstecher brauchte,
hergestellt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es würde sich
sehr gut über dem Kamin machen – oder vielleicht im Eßzimmer; das
Nußholz paßte genau zum Ton der Möbel dort, oder? Sie war auf dem
Weg ins Eßzimmer, die Original-Heim-Wetterstation in der Hand, als
sie bemerkte, daß der Barometerzeiger in der linken Ecke festhing.
Verhakt. Sie schüttelte das Gerät, klopfte auf die Glasfläche.
Nichts. Der Zeiger rührte sich nicht.
Plötzlich verlor sie wieder die
Beherrschung; sie spürte, wie ein Zorn sie übermannte, der ebenso
unausweichlich und unerbittlich war wie das Anbranden der
Meeresgischt an eine Steilküste – wie viele Medikamente hatte sie
gegen diesen Zorn schon geschluckt, und wie viele Ärzte, ganz zu
schweigen von Ehemännern, hatten versucht, ihn zu besänftigen? Die
Frinstell Corporation. Schwindler und Betrüger waren das. Man bekam
heute nichts als Schrott zu kaufen – kein Wunder, daß die USA
inzwischen für die ganze Welt die reinste Lachnummer waren. Keine
zehn Sekunden ausgepackt, und schon konnte man das Zeug
wegschmeißen. Sie kochte vor Wut. Mit Mühe bezwang sie sich, das
Ding nicht gegen die Wand zu schleudern, darauf herumzutrampeln –
Rauschgiftsüchtige, Haschbrüder, die Fabriken waren doch voll von
denen –, dann aber fiel ihr der Fernseher ein, und sie hielt an
sich, bis der erste heiße Schwall der Rage vorüber war.
Also bitte, sie würde es vernünftig
angehen, na gut. Immerhin hatte das Teil angeblich eine lebenslange
Garantie. Aber was für ein Witz, dachte sie bitter, und wieder
mußte sie sich beherrschen, es nicht gegen die Wand zu schmettern –
jetzt brauchte sie ein Glas Wein. Ja. Zur Beruhigung. Und dann
würde sie das Ding wieder in die Schachtel packen und diesen
Schweinen direkt zurücksenden – die würden schon sehen, wie schnell
sie ihren Plunder wieder auf dem Tisch hatten, solchen Dreck ließ
sie sich nicht andrehen... sie würde Willis damit auf die Post
schicken, sobald er zur Tür hereinkäme. Und auf das Päckchen käme
kein Penny Porto, das war klar. Zurück an Absender, würde
sie draufschreiben. Beim Versand beschädigt – nehmen Sie Ihren
Schrott und...
Dann sah sie auf die Uhr. Schon Viertel
vor zwölf, er mußte jeden Moment kommen. Plötzlich war all ihre Wut
auf die Frinstell Corporation verflogen, sie verflüchtigte sich
ebenso rasch, wie sie sich aufgeschaukelt hatte, und sie empfand
plötzlich heftige Zuneigung für ihren Mann, ihren Ehemann, ihren
Willis – der arme Kerl, mußte bei Wind und Wetter da draußen sein
und ebenso hart arbeiten wie Männer, die halb so alt waren wie er,
nur weil er für sie sorgen und sie beschützen wollte... und sie war
beim Frühstück so gemein zu ihm gewesen, wirklich. Er brauchte
jetzt nichts so sehr wie ein anständiges Mittagessen, entschied
sie, ein schönes warmes Mittagessen. Sie hob die Heim-Wetterstation
so behutsam in die Schachtel, als legte sie ein Baby in die Wiege,
schlug das Packpapier darum und klebte es wieder zu, dann ging sie
an die Anrichte. Sie goß sich ein Glas Wein ein und machte sich
daran, eine Dose Erbsensuppe mit Schinken zu öffnen – die würde sie
für Willis aufwärmen, dazu einen leckeren Eiersalat auf
Toast...
Toast. Aber sie hatten ja kein Brot mehr,
oder? Nur diesen Dreck aus Sägemehl und Nüssen, den er ihr zum
Frühstück hatte unterjubeln wollen. Sie dachte einen Moment darüber
nach, und eine schwarze Wolke schien vor ihr aufzusteigen. Ehe sie
sich’s versah, überkam sie die gleiche Wut wie am Morgen, durch die
Tragödie mit dem Fernseher und den Schwindel mit der
Heim-Wetterstation verdoppelt und vervierfacht, und als sie Willis’
Schlüssel in der Tür hörte, loderte sie innerlich wie der
Vesuv.
Mochte sie morgens auch immer gereizt
sein, ohne jeden Grund auf ihn loshacken und ihm beim geringsten
Anlaß an die Kehle springen, bis Mittag hatte sich regelmäßig alles
geändert: sobald er durch die Tür trat, umfing ihn eine
allumfassende Wolke von mütterlicher Fürsorge, und wenn sie ihn
eine halbe Stunde später wieder hinausgeleitete, verabschiedete sie
sich mit langen, zärtlichen Umarmungen, Küssen und Schulterklopfen.
Das war jedenfalls das übliche Szenario – nur heute war alles
anders. Willis spürte es, noch ehe er durch den Flur in die Küche
schlurfte, wo sie vor einer Suppendose und einer Schachtel mit
Salzcrackers stand. Er sah, daß sie noch immer in Nachthemd und
Morgenmantel herumlief – ein schlechtes Zeichen –, und er erkannte
den umnebelten, gekränkten, verletzten Ausdruck in ihren Augen. Er
blieb an der Küchentür stehen und wartete.
»Willis, ach, Willis«, seufzte sie – oder
nein: stöhnte, blökte, jammerte sie, als hätte sie in den fünf
Stunden, seit er sie zum letztenmal gesehen hatte, alle Prüfungen
Hiobs durchgemacht. Er kannte den Tonfall und wußte, daß Ärger in
der Luft lag – alles mögliche hätte sie ausrasten lassen können,
ein verstopfter Ausguß, der Krieg in Bosnien oder weinselige
Erinnerungen an ihren ersten Mann, den Heiligen. »Liebling«, weinte
sie und ging durch die Küche auf ihn zu, um ihn derart heftig zu
umarmen, daß ihm die Nieren schmerzten, »du mußt mir helfen – nur
einen kleinen Gefallen tun, einen ganz kleinen.« Ihre Stimme
verhärtete sich fast unmerklich, während sie sich an ihn klammerte
und in einer Art Trauertanz hin- und herschaukelte: »Alles ist
einfach so, so verdorben.«
Er war fünfundsiebzig und hatte
gearbeitet, seit er aus der Wiege geklettert war. Die meisten
Männer in seinem Alter waren tot. Er war müde. Seine Hüfte fühlte
sich an, als hätte eine ganze Armee von wahnsinnigen Akupunkteuren
glühende Nadeln hineingetrieben. Er wollte sich nur endlich
hinsetzen.
»Komm, Liebling«, säuselte sie, ganz
Anteilnahme, und führte ihn umständlich an den Tisch, immer noch
halb an ihn geklammert. »Ruh dich aus und iß, du Armer, du mußt
ausgehungert sein. Und erschöpft sicher auch. Regnet es draußen
etwa?«
Diese Frage erforderte keine Antwort, war
nur eine Variante ihres Mittagessen-Monologs, eine Ablenkung, die
ihn vom eigentlichen Thema abbringen sollte, von der Krise, worin
immer sie bestand – der kaputte Fernseher vermutlich –, der Krise,
die seine sofortige Aufmerksamkeit und Expertise erforderte. Und
nein, es regnete nicht, noch nicht, aber der Wind tobte draußen wie
ein Höllenfeuer, und der Vormittag war ein totales Desaster
gewesen, die reinste Zeitverschwendung. Die Zimmerleute waren nicht
gekommen, der verfluchte Klempner auch nicht, und so hatte er den
ganzen Vormittag in dem Skelett von Haus gewartet – die Bauarbeiten
waren längst im Verzug – und zugesehen, wie der Wind die Wellen
auftürmte und gegen die Mole branden ließ, als wäre sie aus Pappe
und nicht aus Beton. Er hatte die Mistkerle fünf- oder sechsmal von
der Zelle am Strand aus angerufen, aber keiner hatte abgehoben.
Schwächlinge waren das, hatten Angst vor ein bißchen schlechtem
Wetter. Er blickte auf, und da stand die Suppe vor ihm auf dem
Tisch, dazu ein Teller mit Sardinen, sechs Würfel Cheddar-Käse und
ein Glas Apfelsaft. Muriel stand direkt vor ihm.
Er trank einen Schluck Saft und griff nach
dem Löffel, legte ihn aber gleich wieder weg. Wozu das
Unvermeidliche hinauszögern? »Was ist denn los, Schatzi?« fragte
er.
»Ich weiß, du wirst dich nicht darüber
freuen, aber du mußt für mich zum Postamt fahren.«
»Zum Postamt?« Er wollte nicht zum Postamt
– er wollte zurück zu der Baugrube und den hölzernen Gebeinen des
entstehenden Hauses, zu den Haufen von Schutt und Abraum und dem
heißen scharfen Geruch nach Dachdeckerteer. Er dachte an den Arzt
und seine Frau, ein junges Paar Anfang Vierzig, das ihn beauftragt
hatte, ihnen ihr Traumhaus am Meer zu bauen. Er hatte ihnen
fünfhundert Quadratmeter mit Balkons, Sonnenterrasse und
Rundumblick in sechs Monaten Bauzeit versprochen – und nun waren
schon zwei Monate vergangen, aber nicht mal das verdammte
Balkenwerk war fertig. Und da wollte Muriel ihn zum Postamt
schicken.
»Es ist wegen dieser Heim-Wetterstation«,
sagte sie. »Die muß zum Hersteller zurück. Und zwar heute, sofort,
jetzt gleich.« Ihre Stimme drohte sich zu entzünden. »Ich will sie
keine Sekunde länger im Haus haben... wenn diese Schweine denken,
sie könnten mich...«
Sie steigerte sich hinein, ihr Zorn
richtete sich einstweilen gegen die Heim-Wetterstation, was immer
das war, und gegen vorläufig namenlose Schweine, wer immer die
waren, aber er wußte genau: wenn er nicht den Überblick behielt und
aufpaßte, könnte sich die volle Wut ihrer Empörung auf ihn
entladen, mit der jähen, tödlichen Schnelligkeit einer Lawine. Er
hörte sich sagen: »Ich kümmere mich darum, Schatzi, mach dir keine
Sorgen.«
Doch als er aufsah, um ihre Reaktion
abzuwägen, merkte er, daß er mit sich selbst sprach: sie war
hinausgegangen. Was war denn jetzt los? Er hörte Geräusche aus dem
Eßzimmer – das Reißen von Klebeband, ungeduldiges Rascheln mit
Packpapier, gefolgt vom lauten Stakkato ihrer Schritte –, und ehe
er den Löffel an die Lippen heben konnte, war sie zurück, mit einem
Pappkarton von der Größe eines Möbelstücks. Sie rauschte durch den
Raum und knallte das Ding mit solchem Getöse auf den Tisch, daß die
Suppenschüssel schepperte und der Saft gegen den Rand des Glases
schwappte. Draußen vor den Fenstern heulte der Wind.
»Nun sieh dir das an«, sagte sie. Ihre
Ellenbogen hüpften, als sie das Paket aufriß und ihm ein langes,
schmales Holzbrett entnahm, auf dem drei blinkende Meßinstrumente
montiert waren. Er verspürte einen Moment der Erleuchtung: offenbar
die Wetterstation. »Hast du schon je im Leben solchen Schrott
gesehen?«
Es sah ganz in Ordnung aus. Er wollte
seine Suppe essen, er wollte schlafen, er wollte, daß sich das Haus
des Arztes aus den Dünen erhob und tapfer dem Meer trotzte, perfekt
in jedem Detail. »Was ist damit, Schatzi?«
»Was damit ist?« Ihre Stimme sprang ein
Oktave in die Höhe. »Bist du denn blind? Sieh doch hin« – ein
stumpf angekauter Fingernagel pochte auf das mittlere Instrument –
»das ist damit. Schrott. Nichts als Schrott.«
Stirnrunzelnd musterte er das Ding,
während seine Suppe kalt wurde, dann holte er die Brille aus der
Hemdtasche und untersuchte es näher. Der Zeiger des Barometers hing
ganz unten links bei 700 mm fest – so etwas hatte Willis noch nie
gesehen. Er hob das Instrumentenbrett vom Tisch und schüttelte es.
Drehte es um. Klopfte an das Glas. Nichts.
Muriel kochte. Sie legte mit einer Tirade
über Schwindler und Betrüger los, über die Japaner und was sie
ihrem Bruder angetan hatten, ganz zu schweigen von der
amerikanischen Volkswirtschaft, und um sie zu beruhigen, konnte er
nichts weiter tun, als ihr in allem zuzustimmen und immer wieder
»Schatzi« zu säuseln, bis seine Suppe eiskalt war und er mit einem
Ruck vom Tisch aufstand, das Paket unter den Arm klemmte und sich
auf den Weg zum Postamt machte.
Der Wind hatte sich gesteigert,
peitschte die Baumwipfel hin und her wie alte Fetzen, und der
Geruch des Ozeans war stärker geworden, ranzig und durchdringend,
als hätte sich der Meeresboden nach oben gestülpt und seine
faulenden Sedimente ans Ufer gekippt. Eine Mülltonne kollerte die
Straße entlang, und über den Rasen wirbelte eine große Papiertüte,
die sich kurz um seine Beine schlang. Als er sich ins Auto setzte,
das Paket neben sich, riß ihm der Wind die Tür aus der Hand, und
ihm wurde klar, daß es an diesem Tag wohl nichts mehr mit der
Arbeit werden würde. So wie es aussah, konnte er froh sein, wenn
das, was sie bisher aufgebaut hatten, am nächsten Morgen noch
stand. Kein Wunder, daß die Zimmerleute nicht gekommen waren: das
hier war ein ausgewachsener Sturm.
Er wich Mülleimerdeckeln und Ästen aus,
die wie von Zauberhand über den Asphalt getrieben wurden, und sein
Wagen brachte ihn bis zum Postamt, treu wie ein altes Pferd. Die
Straßen waren verlassen. Er traf auf genau drei andere Autos, die
alle mit Licht fuhren und wie besessen rasten. An der Kreuzung beim
Postamt wartete er eine Ewigkeit und sah zu, wie die rote Ampel an
ihrer Aufhängung schaukelte. Es war so dunkel, als würde es
dämmern. Vielleicht kam ja tatsächlich ein Hurrikan, dachte er,
vielleicht war das der Grund. Er hätte gern Radio gehört, aber das
blöde Ding hatte ohnehin nie funktioniert, und vor zwei Monaten
hatte irgendein Idiot das Fenster auf der Fahrerseite eingeschlagen
und sich damit davongemacht.
Während er so dasaß und die Ampel über der
verlassenen Straße hüpfen und schwanken sah, verspürte er eine
plötzliche Vorahnung, einen heftigen Stich der Angst, der ihn
veranlaßte, den Motor ungeduldig aufheulen zu lassen und ein paar
Zentimeter auf die Kreuzung zu fahren. Vielleicht war es besser,
umzukehren und sich um die Fenster, um Muriel zu kümmern – in
Corpus Christi hatte er einmal einen Hurrikan erlebt, damals waren
für sechs Tage Strom und Wasser ausgefallen. Er erinnerte sich noch
an eine alte Frau, die mitten auf einer überschwemmten Straße
gesessen hatte, um den Kopf einen blutigen Verband aus einer
Wohnzimmergardine. Was für ein Bild. Und er und seine Kumpel hatten
zwei Kisten Tequila aus einem verwüsteten Schnapsgeschäft
abgeschleppt. Er sollte besser heimfahren. Das sollte er.
Doch dann schaltete die Ampel auf Grün,
und er dachte sich, da er nun schon mal hier sei, könne er die
Sache ebensogut erledigen – er würde zu Hause einen mordsmäßigen
Krach bekommen, wenn er’s nicht tat, mit oder ohne Hurrikan –, also
fuhr er auf den Parkplatz, stellte den Wagen ab und griff nach dem
Paket. Fünf Minuten, länger würde es nicht dauern. Und dann nichts
wie nach Hause.
Als er den Weg entlangging – und jetzt
blies es wirklich ordentlich, meine Herren, er bekam Dreck oder
Sand oder sonstwas in die Augen –, sah er den Postamtsleiter und
einen bärtigen Kerl mit Pferdeschwanz mit einer Spanplatte
herumhantieren, die groß genug war, um ein Einkaufszentrum zu
vernageln. Der Postamtsleiter hielt einen Hammer in der Hand und
rief dem anderen etwas zu, doch in diesem Moment packte eine Bö die
Spanplatte, und sie wurden beide ins Gebüsch geschleudert. Willis
duckte sich und griff nach seiner Baseballmütze, aber zu spät: sie
flog ihm vom Kopf und segelte hoch über den Bäumen davon, wie eine
Tontaube. Er ging schneller und kämpfte sich durch die schwere
Doppeltür ins Postamt.
Hinter dem Schalter saß niemand, es
wartete auch keine Schlange; im ganzen Gebäude war, soweit er sah,
kein Mensch. Alle Lampen brannten, und die blankgebohnerten Dielen
erstreckten sich wie immer durch den Korridor, aber es herrschte
eine gespenstische Stille. Draußen toste der Wind gegen die
Glasfenster und trieb jetzt erste Regenspritzer vor sich her.
Willis drückte auf die Glocke, nur um sicherzustellen, daß niemand
im Sortierraum oder auf der Toilette oder so war, und wandte sich
dann zum Gehen. So schwer es war, Muriel mußte es einsehen: die
Post hatte geschlossen. Ein Hurrikan war im Anzug. Er hatte getan,
was er konnte.
Er hatte gerade die innere Tür aufgezogen,
als das große Glasfenster in der Eingangshalle zerbrach, mit einem
Knall wie ein Champagnerkorken, gefolgt vom Scheppern des Glases.
Vergiß das blöde Paket, sagte ihm sein Verstand, schmeiß
es weg, fahr nach Hause und verkriech dich im Keller mit Muriel und
der Katze und einem Satz Büchsen mit Schweinefleisch und
Bohnen, aber die Beine versagten ihm den Dienst. Er war wie
erstarrt, als weiter hinten noch ein Fenster splitterte und das
Licht erst flackerte, dann ganz ausging. »He, Sie da, Alterchen!«
rief jemand, und da stand der Postamtsleiter direkt neben ihm,
bleich und nervös, das Haar zerzaust. Der bärtige Mann war auch
dabei, und in ihren Augen flackerte die Aufregung. Im nächsten
Moment hatten sie Willis am Arm gepackt; der Wind gellte in seinen
Ohren. Ein Wirbel aus weißen Briefkuverts erhob sich plötzlich in
die Luft, und er rannte, rannte sehr schnell, durch einen Korridor,
hinein in Dunkelheit und Stille.
Er roch den Postamtsleiter und den
anderen, roch die Nässe und ihre Angst. Ihr Atem war ein rasches,
gieriges Keuchen. Von draußen, von weit weg, hörte er immer noch
das gedämpfte Heulen des Windes.
»Hat jemand Zündhölzer?« Es war die Stimme
des Postamtsleiters, eine Stimme, die er gut kannte, vom
Schlangestehen, vom Schalterfenster und der glänzenden, gefliesten
Weite der Eingangshalle.
»Hier«, sagte eine zweite Stimme, und das
aufflammende Streichholz beleuchtete das pockennarbige Gesicht des
Bärtigen und einen Lagerraum aus Beton voller Postsäcke,
Pappkartons, Papierstapel.
Der Postamtsleiter wühlte hinter sich in
einem Schrank und förderte eine Taschenlampe zutage, einen dieser
dicken Kästen, die einen leuchtturmartigen Lichtstrahl an einem und
eine kleine rote Notlampe am anderen Ende haben. Er schwenkte die
Lampe durch den Raum, dann stellte er sie auf einem Karton ab und
schaltete sie aus. Nun glomm nur noch ein gespenstischer rötlicher
Schein. »Meine Güte«, sagte er, »habt ihr gesehen, wie dieses
Fenster zersprungen ist? Irgendwelche Splitter abgekriegt,
Bob?«
Bob verneinte.
»Mann, da haben wir noch mal Glück
gehabt.« Der Postamtsleiter war ein großer Bär von Mitte Fünfzig,
der jahrelang Vollbart getragen hatte, jetzt aber das typische
bleiche Stoppelkinn der Männer zeigte, die gerade erst
Bekanntschaft mit einem Rasierapparat geschlossen hatten. Eine
Weile schwieg er. In der Ferne heulte der Wind. »Mein Gott, ich
hoffe nur, Becky ist nicht da draußen – sie wollte heute Jimmy zum
Zahnarzt bringen, zum Kieferorthopäden, meine ich...«
Bob antwortete nicht, aber beide sahen
gleichzeitig zu Willis, als hätten sie ihn erst jetzt
bemerkt.
»Sind Sie in Ordnung?« fragte der
Postamtsleiter.
»Ja, schon«, sagte Willis. Das stimmte
doch, oder? Aber was war mit dem Auto? Was war mit Muriel? »Hören
Sie, ich muß nach Hause –«
Der Postamtsleiter lachte laut auf. »Nach
Hause? Begreifen Sie denn nicht? Das da draußen ist der Hurrikan
Leroy – Sie können von Glück reden, wenn Sie Ihr Zuhause nachher
überhaupt noch haben – welcher Teufel hat Sie eigentlich geritten,
bei dem Wetter Auto zu fahren? Haben Sie keinen Fernseher? Meine
Güte«, endete er, als faßte das alles zusammen.
Es wurde still, und Bob ließ sich mit
einem Seufzer in ein Polster aus zusammengefalteten Kartons sinken.
»Tja«, sagte er, und das matte Rotlicht schimmerte auf der
Whiskeyflasche, die er aus seinem Hemd zog, »wir können uns
ebensogut ein bißchen amüsieren – sieht aus, als wär’n wir noch ’ne
Weile hier.«
Willis mußte eingenickt sein. Die
Flasche war ein paarmal herumgegangen, und er hatte das schöne,
tiefe Brennen des Whiskeys gespürt – ein Geschmack, den Muriel ihm
verwehrte; wenn es darum ging, war sie schlimmer als diese
Entwöhnungsgruppen, dabei nuckelte sie doch selbst den ganzen Tag
an der Weinflasche –, und dann hatte Bob mit gepreßter, kehliger
Stimme zu jammern angefangen: über seine Ehe, seine
Rückenschmerzen, daß seine Schwester Fürsorge bezog und sein Kater
alle Bettpfosten und Tischbeine markierte, und Willis fand es
zunehmend schwieriger, das rotglühende Leuchten nicht verschwimmen
zu lassen. Er saß vornübergebeugt auf einem Klappstuhl, den der
Postamtsleiter aus einem Büro geholt hatte, und als er sich seiner
Umwelt wieder bewußt wurde, zählte Bob gerade die tragischen Tricks
der Autoversicherungsbranche auf, sein Gesicht gespenstisch in dem
fahlen Höllenlicht. Einen Augenblick lang wußte Willis nicht, wo er
war, doch dann hörte er den Wind in der Ferne heulen, und es fiel
ihm wieder ein.
»Nach bloß zwei Unfällen, Bob? Das glaub
ich dir nicht«, sagte der Postamtsleiter gerade.
»Mann«, erwiderte Bob, »ich zeig dir gern
die Rechnung.«
Willis versuchte aufzustehen, aber seine
Hüfte spielte nicht mit. »Muriel«, sagte er.
Beide Gesichter wandten sich ihm zu, das
bärtige und das andere, das eigentlich auch hätte bärtig sein
sollen, und sie wirkten befremdlich und bedrohlich in diesem
unnatürlichen Licht. »Alles okay, Alterchen?« fragte der
Postamtsleiter.
Willis fühlte sich wie Methusalem, wie Rip
Van Winkle nach seinem langen Schlaf; er fühlte sich müde und
hoffnungslos, als wäre alles umsonst gewesen, was er in seinem
Leben gelernt und getan hatte. »Ich muß jetzt« – er bremste sich;
fast hätte er gesagt: Ich muß jetzt nach Hause, aber sie
hätten ihn wahrscheinlich aufzuhalten versucht, und er wollte sich
auf keine Diskussion einlassen. »Ich muß mal pinkeln«, sagte
er.
Der Postamtsleiter musterte ihn kurz.
»Geht noch immer ein ziemlicher Sturm da draußen«, sagte er, »aber
im Radio sagen sie, das Schlimmste ist vorbei.« Nun hörte auch
Willis das leise Gebrabbel des Radios – eines dieser kleinen
Transistorgeräte, wie sie jetzt alle Jugendlichen hatten; es
steckte in der Brusttasche des Postamtsleiters. »Warten Sie noch
eine Stunde«, sagte er, »und dann kümmern wir uns darum, daß Sie
gut heimkommen. Ihr Auto ist übrigens okay, falls Sie sich deswegen
Sorgen machen. Höchstens daß vielleicht ein Ast aufs Dach gekracht
ist.«
Willis sagte gar nichts.
»Den Gang runter und dann links«, sagte
der Postamtsleiter.
Er brauchte einen Moment, um gegen das
Beharrungsvermögen seines Hüftgelenks anzukämpfen, dann tauchte er
aus dem Dunkel des Lagerraums auf und trat in das düstere graue
Zwielicht des Korridors. Nuggets aus Glas knirschten und
schlitterten unter seinen Füßen davon, und alles war naß. Draußen
regnete es stark, und dieser ranzige Geruch lag immer noch in der
Luft, aber der Wind schien nachgelassen zu haben. Er gelangte zur
Toilette und ging daran vorbei.
In der Schalterhalle herrschte ein Chaos
aus feuchtem Papier und Laub, doch die Tür ließ sich problemlos
öffnen, und im nächsten Augenblick stand Willis auf der Treppe, und
der Regen prasselte mit aller Macht auf seinen unbedeckten kahlen
Kopf herab. Automatisch griff er nach der Baseballmütze, doch dann
fiel ihm ein, daß sie weg war, und er zog die Schultern hoch und
ging über den Parkplatz. Er stapfte vorsichtig durch das glitschige
grüne Durcheinander aus Laub und angewehtem Gerümpel, und bis er zu
seinem Wagen kam, war er völlig durchnäßt. Ein einzelner
abgebrochener Ast lag über der Windschutzscheibe, hatte aber keinen
Schaden angerichtet; er warf ihn zu Boden und setzte sich hinters
Steuer.
Sein Verstand arbeitete nicht allzugut –
vielleicht war es der Schock des Sturms oder die Nachwirkung des
Whiskeys und seines Schläfchens auf dem Klappstuhl. Die Schlüssel.
Zweimal durchwühlte er Hose und Jacke, ehe er sie endlich fand,
dann versuchte er den Motor anzulassen, und er mußte lange mit dem
Fuß auf dem Gas bleiben, während der Starter heulte und der Regen
über die Scheibe strömte. Endlich sprang der Wagen an, und er legte
krachend den Gang ein; erst jetzt bemerkte er, daß die Ausfahrt von
einem Baum versperrt war. Und was nun? Muriels Phantom stieg vor
ihm auf, bleich und zitternd, und dann blickte er auf und sah den
Postamtsleiter und Bob, die auf der Treppe standen und ihn
anglotzten, als stammte er von einem anderen Stern. Ach, was soll,
dachte er, winkte ihnen beschwingt zu, ließ den Motor aufheulen und
rumpelte quer über den Bürgersteig auf die Straße.
Hier nun war die Welt wahrhaftig eine
andere geworden. Es war, als hätte eine riesige Hand durch die
Straße gewischt und dabei Bäume und Telefonmasten umgeworfen,
Fenster eingedrückt, Dachschindeln abgetragen. Die Straße zur
Autobahn war völlig unpassierbar, überschwemmt von gurgelndem
kackbraunem Wasser, in dem eines dieser kleinen japanischen Autos
mit dem Fahrgestell nach oben trieb. Willis probierte es mit der
Meridian Street, dann mit der Seaboard, aber beide waren blockiert.
Bei dem Haus, in dem Joe Diggs gewohnt hatte, bevor er gestorben
war, hatte eine mindestens fünfhundert Jahre alte Eiche die Veranda
abgerissen, und davor peitschten Elektrodrähte von einem
gesplitterten Leitungsmast. Obwohl der Regen auf das Autodach
trommelte, hörte Willis die Sirenen, ihren beständigen,
langgezogenen Klagelaut.
Er war jetzt in großer Sorge – das war
genauso schlimm wie in Corpus Christi damals, nein, schlimmer –,
und seine Hände zitterten auf dem Lenkrad, als er die Straße
erreichte, in der er wohnte, und sie von Schutt und umgestürzten
Bäumen versperrt fand. Das Haus an der Ecke – das von den
Needlemans – war unversehrt, aber gegenüber, auf seiner
Straßenseite, hatte das von den Stovers kein Dach mehr. Und die
Straße selbst, die friedliche, baumbestandene Straße, in die sich
Muriel damals sofort verliebt hatte, war nicht wiederzuerkennen,
die Doppelreihe aus Ahornbäumen lag platt auf dem Boden wie
Spielkarten. Willis setzte zurück, das Wasser stand bis zu den
Radkappen, bog links in die Susan Street ein, dann wieder links in
die Massapequa, um so einmal um den Block zu fahren und vom anderen
Ende her zu seinem Haus zu gelangen.
Er hatte Glück. In keiner der beiden
Straßen war allzuviel verwüstet worden, und an der Ecke Massapequa
konnte er sich einen Weg um einen umgestürzten Telefonmast bahnen,
indem er über den Bordstein fuhr, so wie er es beim Postamt getan
hatte. Und dann bog er in seine, in die Laurel Street ein, durch
Schutt und Dreck, machte einen weiten Bogen um den verstopften
Gully an der Ecke. Die Menschen standen in ihren Vorgärten und
begutachteten die Schäden – er sah, wie Mrs. Tilden oder Tillotson,
oder wie immer sie hieß, eine Zypresse aufzurichten versuchte, die
sich an ihre Veranda klammerte wie ein nasser Schnurrbart. Es
wirkte fast komisch, die kleine Frau und dieser große, schlaffe
Baum, und er entspannte sich etwas – alles würde in Ordnung kommen,
an diesem Ende der Straße war kaum etwas passiert, und da stand
dieser dicke Kerl – wie hieß er gleich? – und tanzte händeringend
um den Kadaver seines zertrümmerten Cadillac. »Ja«, sagte er laut
vor sich hin, »alles wird in Ordnung kommen«, und er wiederholte es
immer wieder, machte ein kleines Gebet daraus.
Inzwischen hatte er mehr Angst vor Muriel
als vor dem Sturm – er konnte sie schon hören: Wie konnte er sie
mitten in einem Hurrikan allein lassen? Wo war er gewesen? Hatte er
etwa eine Schnapsfahne? Die Schäden ließen sich beheben –
schließlich war er vom Bau. Es war nur eine Frage von Materialien,
sonst nichts – Ziegel, Bauholz, Gipskartonplatten, Schindeln. Und
Glas. Die Glaser bekamen jetzt viel zu tun, soviel stand fest. Als
er einen Rasenmäher umrundete, der verloren mitten auf der Straße
lag, und die weite geschwungene Kurve nahm, von der aus er sein
Haus sehen konnte, rechnete er mit dem Schlimmsten – abgerissene
Fensterläden, ein Loch im Dach, die Ulme quer über der Garage
liegend wie ein verstümmeltes Tier –, doch die Wirklichkeit ließ
ihm das Herz stillstehen.
Es war nichts mehr da. Nichts. Wo keine
zwei Stunden zuvor das Haus gestanden hatte, die hohe Ulme und die
Doppelgarage mit seiner Werkbank, seinen Werkzeugen und allem
anderen, war nur mehr ein leerer Fleck. Das Grundstück war
kahlgefegt bis auf die abgebrochenen, schartigen Reste des
Fundaments, mit Gerümpel übersät, wie eine antike Ruine. Panik
ergriff ihn, ein Schock, und er trat instinktiv auf die Bremse, so
daß der Wagen ins Schleudern geriet, quer über die Straße rutschte
und mit einem Ruck gegen den Bordstein krachte.
Schlotternd löste er die Finger vom
Lenkrad. Über dem rechten Auge spürte er einen pulsierenden
Schmerz, wo er gegen den Rückspiegel geprallt war. Seine Hände
zitterten. Nein, dachte er und blickte wieder auf, das konnte doch
nicht wahr sein. Er war in der falschen Straße, das mußte es sein –
er war falsch abgebogen und stand jetzt vor dem Grundstück von
jemand anderem. Er brauchte einen Moment, doch dann stieß er die
Tür auf und stieg vorsichtig aus, auf die trümmerübersäte Straße,
und da war die Zahl am Bordstein, die ihn widerlegte, dort der
Briefkasten mit seinem Namen darauf in sauberen weißen
Blockbuchstaben, unberührt, das rote Fähnchen fröhlich
aufgerichtet. Und nebenan stand das Haus der Novaks, kein Zweifel,
dieses widerliche Lindgrün mit den rosa Einfassungen...
Dann dachte er an Muriel. Muriel. Sie war,
sie war... er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken und
stolperte über den Rasen wie ein Betrunkener, um dann benommen in
das gräßliche Loch in der Erde zu starren. »Muriel«, schrie er,
»Muriel!« Der Regen hämmerte auf ihn nieder.
Lange Zeit stand er so da, den Kopf
gesenkt, fühlte sich so alt wie die Steine, so alt wie die
aufgerissene Erde und der tote graue Himmel. Und dann, das Auto
hinter ihm bullerte und spotzte noch, kam ihm die erste Ahnung
eines Gedankens, der funkensprühend größer wurde, bis er wie eine
Fackel in seinem Kopf brannte: Scotch mit Wasser. Er sah
sich selbst, wie er gewesen war, als Muriel auf ihn stieß: wie für
immer verschmolzen mit dem vinylbezogenen Barhocker des Dew Drop
Inn, und seine Lippen bildeten unwillkürlich wieder die Worte: »Für
mich einen Scotch mit Wasser.« Das Haus war weg, aber er hatte
schon öfter Häuser verloren – meistens an Ehefrauen, die ja sowieso
eine Art Naturkatastrophe waren; damit konnte er leben –, und er
hatte auch Ehefrauen verloren, allerdings niemals so.
Jetzt traf es ihn, eine Welle des Kummers,
die in seiner Hüfte anfing und in seine Kehle hinaufbrandete:
Muriel. Er sah sie lebhaft vor sich, die mittägliche Muriel, die
ihm die Schultern massierte und um ihn herumwuselte, ihm diese
kleinen Crackers mit Sardellenpaste und Avocadocreme machte... er
sah sie, wie sie abends die Bettdecke zurückschlug, sah sie
stirnrunzelnd über einem Kreuzworträtsel sitzen, die Brille auf der
Nasenspitze festgeklemmt – kleine Dinge, traute Dinge. Er spürte
einen Stich, als er sich daran erinnerte, wie sie ihn wegen einer
Fernsehsendung oder einem Footballspiel aufgezogen hatte und wie
sie in der Küche herumgetanzt war, in der Hand eine Flasche Wein
oder ein Stück mit Knoblauchzehen gespickter Rinderbrust... und nun
sollte das vorbei sein. Er war fünfundsiebzig – sechsundsiebzig im
Oktober –, und er starrte in die Grube, spürte den eisigen Hauch
der Ewigkeit im Gesicht.
Seine Jacke war klatschnaß, und die Arme
hingen ihm schlaff herab, als er sich endlich abwandte und über den
matschigen Rasen davonhinkte, ein Soldat, der aus dem Krieg
heimkehrte. Er schleppte sich über die Straße zum Auto, konnte an
nichts anderes denken als an Ted Casselman, den Barkeeper vom Dew
Drop – der würde wissen, was zu tun war –, und er hatte schon die
Tür geöffnet, einen Fuß auf dem Trittbrett, als er sich für einen
letzten verwirrten Blick umdrehte und eine Bewegung auf Novaks
Veranda seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Plötzlich ging dort die
Windfangtür auf, ein mattes Licht drang heraus, und da war sie,
Muriel, der Vergessenheit entrissen. Sie trug immer noch ihren
Morgenmantel, der jetzt naß und zerknittert war, das lange weiße
Haar hing ihr wirr über die Schultern, so daß sie aussah wie eine
alte Waldhexe aus dem Märchen. Hinter ihr stand Anna Novak, einen
tragischen Ausdruck zwischen den unbewegten Fältchen rund um ihre
slawischen Augen. Muriel stand einfach da, starrte auf die Straße,
wo er an der Tür seines Wagens verharrte, einen halben Herzschlag
von der Erlösung entfernt.
Der Wind erhob sich erneut und zerrte an
den Ästen der übriggebliebenen Bäume. Ein paar Häuser weiter rief
jemand einen Hund: »Hermie, Hermie! Hierher, komm!« Der Regen ließ
etwas nach. »Willis!« rief Muriel plötzlich, »Willis«, und der Bann
war gebrochen. Sie lief die Stufen hinunter, großartig und
unbesiegbar, die Arme weit ausgebreitet.
Was konnte er tun? Er stellte den Fuß auf
den Asphalt, achtete nicht auf den Schmerz, der ihm dabei in die
Hüfte fuhr, und öffnete die Arme, um sie aufzunehmen.