Höhere Gewalt

Er war früher schon verheiratet gewesen, und jetzt war er es wieder. Dixie, die letzte Frau, hatte sich das Haus, das Auto, den Hund, den Mixer und seine Schallplattensammlung von Glenn Miller und Tommy Dorsey genommen. Die Frau vor ihr, Margot, war seine erste gewesen; er hatte sie bereits gekannt, als er mit Schulterpolstern und Spikes übers Footballfeld gesprintet war und sie an der Seitenlinie seinen Namen skandiert hatte, die großen schokobraunen Augen weit aufgerissen, der schwarze Bubikopf wie ein Fransenvorhang über der Stirn; sie hatte sich das erste Haus, die Kinder und seine Selbstachtung genommen. Muriel war anders. Sie war eine Naturkraft, eine höhere Gewalt, fordernd und unerschütterlich; eine Königin, eine Kaiserin, geboren zum Gebieten und Befehlen. Sie nahm sich alles, was noch übrig war.
Doch das war nicht allzuviel. Willis war fünfundsiebzig – sechsundsiebzig im Oktober –, er hatte ein bißchen Geld in Anleihen, ein oder zwei Grundstücke irgendwo in der Pampa und zwei 1972er-Oltimer, Ford Fairlanes – wobei »Oldtimer« eine Umschreibung für schrottreif war –, und seine Hüftgelenke waren so wacklig, daß er nur im Stehen arbeitete, weil er Angst hatte, er könnte einmal nicht mehr aus dem Stuhl hochkommen. Aber er arbeitete. Er war Baumeister, seit sechzig Jahren im Geschäft, mit all dem Stolz und der Zwanghaftigkeit, die ihm seine Mutter in einer längst vergangenen Zeit mitgegeben hatte. Mit dem Rentnerdasein hatte er nichts am Hut, keine Golfplätze oder Clubhäuser. Wenn man nichts arbeitete, konnte man auch gleich tot sein, so sah er das. Außerdem hatte er ohnehin keine Wahl – Muriel würde ihn nie in den Ruhestand gehen lassen – nicht mal ausruhen ließ sie ihn. Sie trieb ihn an wie ein Maultier, und er senkte den Kopf und tat, was von ihm erwartet wurde.
Muriel ihrerseits war viermal verheiratet gewesen, die derzeitige Verbindung mitgezählt. Die mittleren beiden Ehegatten hatte sie praktisch vergessen – zwei müde Männer, müde unter den Augen, im Blut, im Bett –, doch der erste war ein Heiliger gewesen. Gutaussehend, Saxophonspieler, mit welligem dunklem Haar und einem perfekten Stummfilm-Schnurrbärtchen – und außerdem noch reich. Sein Vater besaß eine ganze Sammlung von Mietshäusern und eine Ferienanlage in den Catskill Mountains, mit einem See, einem Casino und pittoresken kleinen Bungalows, die aussahen, als hätte man sie direkt in der englischen Provinz aus ihren Fundamenten gehoben und mit allem Drum und Dran an den Gaudinet Lake verfrachtet. Allein die Schultern dieses Lester Gaudinet... sie wußte wahrlich nicht, warum sie sich je von ihm hatte scheiden lassen. Natürlich, jetzt hatte sie Willis, und der war ganz in Ordnung – solange sie ihm auf den Fersen blieb. Trotzdem, wenn sie an den langen Nachmittagen bei einem Fläschchen Rotwein dasaß und Artikel aus der Zeitung ausschnitt oder in der Küche briet und kochte und buk, daß es für eine ganze Armee gereicht hätte, obwohl sie selbst keine zwei Bissen aß und auch Willis mit seinem mächtigen Appetit kaum merkliche Mengen davon vertilgte, dann sehnte sie sich manchmal doch ein ganz klein wenig nach Lester Gaudinet und der kehligen, schwungvollen Rhapsodie seines Saxophons – und daneben konnte sie den Gedanken nicht loswerden, daß das Leben sie jetzt, mit achtundsechzig, allmählich überholte.
Es war ein schwüler, brütender Morgen Ende September, und Willis war wie üblich um sechs Uhr auf, wusch das Geschirr des Vorabends ab, kehrte den Boden und warf eine halbverzehrte Lammkeule, die mit grünlich phosphoreszierendem Flaum bedeckt war, in den Müll. Vom Rasen vor der Tür holte er die Zeitung herein und wollte es sich gerade bei einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Toast gemütlich machen, als er merkte, daß das Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot ausgegangen war. Zum allmorgendlichen Frühstück, das Willis gewissenhaft und angespannt zubereitete, ehe er zu seiner Baustelle davoneilte, aß Muriel zwei Scheiben Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot, hell getoastet und ohne Butter, dazu ein Zwei-Minuten-siebenundzwanzig-Sekunden-Ei, hundertfünfzig Milliliter frisch gepreßten Florida-Orangensaft und drei fingerhutgroße Täßchen Espresso. Mochte sie schon am Abend schwierig sein, wenn er am liebsten bei einem großen Scotch mit Wasser vor dem Fernseher in einen Sessel geplumpst wäre – echt unmöglich war sie morgens, wenn sie aus der blutroten Höhle ihrer schlaflosen Nacht hervorkroch wie eine Löwin, die man mit einem spitzen Stock aufgestöbert hatte, und er wußte schon lange, was es für das tägliche Überleben bedeutete, ihr das Placebo eines makellosen Frühstücks zu servieren. Als Willis vergeblich in die bodenlosen Tiefen des Brotkastens spähte, wurde ihm klar, daß eine ausgewachsene Krise ins Haus stand.
Draußen brach ein Morgen ohne Sonne an und erfüllte die Küche mit kränklichem, hoffnungslosem Licht. Einen Moment lang stand Willis ratlos an der Anrichte und sah sich um, als wäre ihm der Ort vollkommen fremd, dann faßte er sich wieder und ihm fiel der Quick-Stop-Laden an der Ecke ein, der rund um die Uhr offen war. Ob die wohl welches hatten? Keine Chance, entschied er, nachdem er im Geiste die hellerleuchteten, aber kümmerlich gefüllten Regale abgegangen war – Bier hatten sie, ja, Zigaretten, Pornomagazine, Schokoriegel, Videos, Kaugummi –, aber wer brauchte Brot? Er konnte sich die sechs alten Packungen mit Gold-Toast vorstellen, die in der Cellophanverpackung hart wurden, dennoch holte er seine Baseballmütze aus dem Schrank, trat zur Tür hinaus und ging quer über den taufeuchten Rasen zum Auto, denn zu verlieren hatte er ohnehin nichts.
Als er draußen mit den Schlüsseln an der Tür von Muriels Wagen herumfummelte – beide nannten ihn »Muriels Wagen«, weil sie damals darauf bestanden hatte, das Ding zu kaufen, obwohl sie in New York aufgewachsen war und noch nie im Leben hinter einem Lenkrad gesessen hatte –, fiel ihm eine Veränderung auf. Was war es? Da war der scharfe Duft des Meeres, viel kräftiger als sonst, und die Atmosphäre schien ihn direkt zu berühren, schwer und feucht, ein Ziehen und Zerren wie von tausend kleinen Fingern. Und die Vögel – wo waren die Vögel geblieben? Kein Laut war zu hören, bis auf das Knattern eines Lasters auf der Schnellstraße... aber er hatte wirklich keine Zeit zu trödeln, die Luft zu schnuppern und sich mit den kleinen Mysterien des Lebens zu beschäftigen wie ein einfältiges Kind auf dem Schulweg, also stieg er ins Auto, ließ den Motor aufheulen, den kaputten Auspuff krachen und dröhnen, daß jeder Hund in der Nachbarschaft aufheulte – laut war es jetzt, viel zu laut –, und rumpelte in Richtung des Quick-Stop los.
Als Willis eintrat, zuckte der Mann hinter der Ladentheke heftig zusammen, entspannte sich aber beinahe im selben Moment wieder – das Geschäft wurde ein- bis zweimal pro Woche überfallen, solange Willis denken konnte, da hatte der gute Mann durchaus das Recht, etwas nervös zu sein. Willis trat an die Theke, tastete seine Taschen unbewußt nach Brieftasche, Schlüssel und Scheckheft ab, und sagte: »Brot?« Der Verkäufer war klein, schmächtig, dunkelhäutig und blickte in stummem Unverständnis zu Willis auf, als hätte dieser in einer fremden Sprache gesprochen – und so war es ja wohl auch: Willis wußte nicht, woher der Bursche kam – Pakistani, Puertoricaner oder Paschtune? –, doch ganz offensichtlich war seine Muttersprache nicht Englisch. »Pan?« probierte es Willis, indem er ihm ein spanisches Nugget hinwarf, das er während des Krieges in Texas aufgelesen hatte. Der Mann starrte ihn aus tief eingesunkenen Augen an. Er war um die einundzwanzig – so alt mußte er sein, um hier arbeiten zu dürfen –, aber Willis, der ihn aus der Perspektive seines fortgeschrittenen Lebensalters sah, kam er absurd jung vor: zwölf, zehn Jahre, ein Baby. Auf seine Frage hob der Junge/ Mann träge den Arm, um nach hinten zu deuten, und Willis folgte der angegebenen Richtung. Nudeln, Katzenstreu, Käsechips... und tatsächlich, da war es – Brot, eingezwängt zwischen dem Sonnenöl und den Wegwerfwindeln. Eine triste kleine Sammlung aus Hot-dog-Semmeln, Weizenfladen, Tortillas und ein einziger Laib Nußbrot mit Konservierungsstoffen begrüßten ihn: natürlich kein Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot. Hatte er etwa Wunder erwartet?
Als er zurück in die Küche schlurfte, inzwischen deutlich hinter dem Zeitplan, das Nußbrot wie einen Football unter den Arm geklemmt, traf ihn ein Schock: Muriel war auf. Er sah ihre verräterischen Spuren auf der Arbeitsplatte, an der Kühlschranktür und vor der Kaffeemaschine. Er sah den Kaffeesatz vom Vortag, der in Richtung Mülleimer geschleudert worden war und nun dahinter von der Wand herunterlief, sah die Stelle, wo sie ihre Tasse auf dem Herd abgestellt hatte, und daß sie auf der Suche nach dem Süßstoff und ihren Tabletten den Schrank durchwühlt hatte; im selben Moment hörte er auch das leise Gebrabbel des Fernsehers im Nebenzimmer. Er fummelte an der Espressomaschine herum, nun schon leicht gestreßt – die Zimmerleute für das Balkenwerk waren für sieben Uhr dreißig angesagt, der Klempner für acht –, als sie in der Tür erschien.
Muriels Miene baute sich um die Spitze ihrer irisch-schottischen Nase und den verkniffenen Schmollmund der üppigen Lippen auf. Sie war klein und gedrungen, und ihre Zehenspitzen lugten unter dem Saum des Nachthemds hervor. »Wo zum Teufel bist du gewesen?« wollte sie wissen.
Er drehte sich zum Ofen. Ein stechender Schmerz fuhr ihm durch die Hüfte – ein Wetterwechsel stand bevor, das spürte er. »Wir hatten kein Brot mehr, Schatzi«, sagte er und wandte ihr sein Profil zu, während er die Eier mit dem Löffel aus der Schale hob. »Ich mußte schnell zum Quick-Stop rüber.«
Das besänftigte sie offenbar, denn sie verschwand im Wohnzimmer und hockte sich mit ihrer Kaffeetasse vor den Fernseher. Willis konnte die Mattscheibe von der Küche aus sehen, wo er Toast röstete, Espresso aufbrühte und Orangen auspreßte. Eine quietschvergnügte Frau mit breitem hellem Gesicht und Haaren wie aus Zuckerwatte flötete irgendwas über das Abnehmen und eine neue Keksmarke aus Seetang. Willis schob Muriels Sachen auf einem Tablett zurecht und trug es ihr hinein.
Sie musterte ihn grimmig, als er das Tablett auf das Tischchen stellte, doch dann lächelte sie und packte seinen Arm, um ihn an sich zu ziehen, ihm einen Kuß aufzudrücken und zu sagen, wie er sie doch verwöhnte. »Ich muß jetzt los, Schatzi«, murmelte er und war am Hinausgehen, dachte schon an das Auto, die Straße, das Haus am Meer, das sich vor seinen Augen entwickelte wie ein wahrgewordener Traum.
»Du bist zum Mittagessen wieder zu Hause?«
»Ja, Schatzi«, brummte er, und dann unterlief ihm eine fatale Fehleinschätzung: er blieb kurz vor dem flimmernden Fernseher stehen. Inzwischen war die zuckersüß flötende Sprecherin von einem Meteorologen abgelöst worden, der in einem albernen Anzug mit Fliege dastand und grimassierte wie der Türsteher eines Nachtclubs, und Willis verweilte noch – er hatte den Wetterwechsel in der Luft gerochen und spürte ihn im Hüftgelenk, deshalb war er neugierig. Immerhin würde er diesem Wetter den ganzen Tag lang ausgesetzt sein.
In diesem Augenblick erscholl aus den Tiefen der Couch, wie von den Ringplätzen bei einem Boxkampf, Muriels Schrei – schrill, keifend, fassungslos über den Treuebruch. »Und was soll das hier sein?« gellte sie und erklärte damit den Wettermenschen samt Karten, Zeigestock, Satellitenfotos, ja den Fernseher selbst für null und nichtig.
»Was denn, Schatzi?« brachte Willis heraus, und seine Stimme war ein kleines huschendes Wesen, das in seinem Loch verschwand. Vor den Fenstern war es grau. Der Wetterredakteur schwadronierte über Windstärken und Temperaturen.
»Dieser, dieser... Toast
»Dein Brot hatten sie nicht, Schatzi, und Waldbaums Laden macht erst in einer Stunde auf...«
»Du Dreckskerl.« Im Nu war sie auf den Beinen, puterrot im Gesicht und nach Atem ringend. »Hab ich dir nicht gestern abend gesagt, wir müssen noch einkaufen gehen? Hab ich dir nicht gesagt, daß ich ein paar Sachen brauche?«
Sie waren nun seit zwei Jahren zusammen, und Willis wußte, daß sich Debatten mit ihr nicht lohnten – nicht zu dieser Stunde, nicht bevor sie Toast und Ei gegessen hatte, nicht bevor sie von der endlosen Parade aus Quizshows und Seifenopern sediert war, die unerbittlich durch ihre Vormittage stampfte. Er konnte nichts weiter tun, als bußfertig die Schultern hängen zu lassen und zum Ausgang zu schleichen.
Doch sie kam ihm zuvor, sie schoß auf ihn zu und schrie dabei: »Ja, natürlich, laß mich nur allein, geh zu deiner Arbeit und laß mich hier zurück, du Dreckskerl!« Bei ihrer Laune konnte alles passieren, das wußte er, und er wich vor ihr zurück, doch plötzlich änderte sie den Kurs, ließ abrupt von ihm ab und packte das Frühstückstablett, daß Geschirr und Besteck klapperten und siedendheiße schwarze Flüssigkeit schwappte. »Toast!« rief sie. »Toast nennst du das?!« Und dann sah er entsetzt zu, wie das Tablett durch den Raum segelte wie ein Cruise-Missile, unbeirrt und pfeilschnell, haarscharf an der Lampe vorbei, knapp über die Lehne der Couch hinweg auf sein unausweichliches Ziel zu: das grinsende, zwinkernde, zeigestockschwenkende Abbild des Meteorologen.
Später, als Willis zur Arbeit gegangen war und Muriel Gelegenheit gehabt hatte, sich wieder zu beruhigen und über den zerstörten Fernseher und die Espressoflecken auf dem Teppich nachzudenken, empfand sie Scham und Zerknirschtheit. Sie hatte sich von ihrem Temperament überwältigen lassen, das war falsch gewesen, sie gestand es unumwunden ein. Schlimmer noch: wem hatte sie damit weh getan – außer sich selbst? Es war, als hätte sie ihren einzigen Freund ermordet, sich von der Welt abgeschnitten wie eine Nonne im Kloster – ach was: diese Nonnen hatten wenigstens ihre Gebete. Statt des Reparaturdienstes hätte sie aus lauter Unruhe und Verwirrung um ein Haar die Notrufzentrale gewählt, und als endlich jemand abhob, war sie dermaßen verzweifelt, daß der Fernsehtechniker schneller bei ihr war, als ein Krankenwagenfahrer gebraucht hätte, um sich auch nur die Jacke anzuziehen – leider erklärte er die Sache für hoffnungslos. Die Bildröhre sei hin, und sie solle am besten in ein Geschäft fahren und sich ein neues Gerät kaufen – dann nannte der Mann ihr ein halbes Dutzend japanischer Marken, und sie verlor gleich wieder die Beherrschung. Lieber wäre sie von Gott verflucht und ließe sich dreimal in der Hölle braten, ehe sie den Japsen irgendwas abkaufte, nach allem, was die ihrem Bruder im Krieg angetan hätten, und was sei er, der Fernsehtechniker, denn überhaupt für einer, ein Amerikaner oder was? Wußte er denn nicht, wie sie über uns lachten, diese Schlitzaugen? Er raste in seinem Lieferwagen davon, ohne sich umzusehen.
Es war zehn Uhr. Willis war bei der Arbeit, das Wetter war beschissen, sie verpaßte die Serie »Hollywood Squares« und konnte ihrer Kränkung nicht einmal durch den Trost eines Einkaufsbummels abhelfen – jedenfalls nicht ehe Willis heimkam. Du liebe Güte, dieser Willis, was für ein Baby, dachte sie bei einer Tasse schwarzen, bitteren Espressos am Küchentisch. Er war eine totale Ruine gewesen, als sie ihn kennenlernte – seine vorige Frau hatte ihn ausgepreßt wie einen alten Lappen und dann zum Trocknen aufgehängt. Seine Kleider stanken, von früh bis spät war er betrunken, aus den letzten drei Jobs hatten sie ihn gefeuert, und sein Auto war praktisch ein Sarg auf Rädern gewesen. Sie hatte ein Projekt aus ihm gemacht. Hatte ihn gerettet, ihm ein Heim und saubere Unterwäsche und weiße Taschentücher geboten, und wenn er ihr hundertmal am Tag dafür dankte, wäre es noch nicht genug. Wenn sie die Zügel straff anzog, dann nur, weil das eben nötig war. Ließe sie ihm freie Bahn – auch nur eine Stunde lang –, er käme erst drei Tage später nach Hause, nach Gin und Erbrochenem stinkend.
Das Haus war still wie ein Grab. Sie starrte zum Fenster hinaus; tiefhängende Wolken waberten übers Dach, langgezogen wie Würste, wie Gedärme, schwärzlich vor Blut und Galle. Es war vor Sturm gewarnt worden, soviel hatte sie in der Frühstücksshow noch gehört, und wieder spürte sie einen Stich der Reue wegen des Fernsehers. Gern wäre sie aufgestanden und hätte auf den Nachrichtenkanal geschaltet, aber es gab keine Nachrichten mehr – zumindest nicht für sie. Da war noch das Radio – und sie erinnerte sich mit Wehmut ihrer Kindheit und der Abende, an denen die ganze Familie um die große »Emerson«-Musiktruhe geschart saß und einer Sendung nach der anderen lauschte –, doch sie hatte schon lange kein Radio mehr gehört; es verursachte ihr Kopfweh. Und mit Willis im Haus, wer brauchte da noch mehr Kopfweh?
Dann fiel ihr die Zeitung ein, und sie erhob sich mit einiger Überwindung vom Tisch, um im Wohnzimmer danach zu suchen – wenn etwas Ernstes im Anzug war, müßte es auf der Titelseite stehen. Sie sann darüber nach, konzentrierte sich auf die Suche nach der Zeitung und dachte gar nicht mehr an den Fernseher, so daß sein Anblick beim Betreten des Zimmers ihr einen Schock versetzte. Die Glasscherben hatte sie aufgefegt, gedrückt und gebrochen, doch nun klagte sie der geborstene Bildschirm von neuem an. Schuldbewußt durchwühlte sie den Stapel Zeitschriften und Magazine, der sich unter dem Beistelltisch türmte, dann stöberte sie im Schlafzimmer und ging schließlich hinaus, um im Vorgarten nachzusehen. Keine Zeitung. Ausgerechnet heute hatte Willis sie offenbar in die Arbeit mitgenommen. Und als sie in Morgenmantel und Pantoffeln auf dem stillen grauen Rasen stand, wurde sie plötzlich wieder zornig. Dieser Dreckskerl. Nie dachte er an sie, nie. Jetzt hatte sie den ganzen düsteren, vernieselten, elenden Tag vor sich – ohne Fernsehen, ohne Freunde, ohne Freude – und nicht einmal den Trost der Zeitung.
Als sie vor dem Haus stand, ohne viel Hoffnung unter die Büsche sah und dabei bemerkte, wie nachlässig der Gärtner gearbeitet hatte – na, der würde was von ihr zu hören kriegen, mein lieber Schwan! –, bog mit einem sanften Seufzen der Bremsen ein großer brauner UPS-Lieferwagen auf die Einfahrt ein. Der Fahrer war ein junger Mann, gutaussehend und breitschultrig, und einen Moment lang hatte sie eine Vision von Lester Gaudinet, wie er damals gewesen war. Lester Gaudinet. Wo der jetzt wohl war? Gott allein wußte, ob er überhaupt noch lebte... aber wie gern hätte sie ihn mal wiedergesehen, das wäre doch was.
»Mrs. Willis Blythe?« Der Mann war über den Rasen gegangen und stand jetzt dicht neben ihr, ein Paket unter dem Arm.
»Ja?« sagte sie. Ein Wind kam auf und riß ihr zusammengebundenes Haar auseinander.
Der Mann hielt ihr einen Block hin, der Wind ließ die Seiten flattern. »Unterschreiben Sie hier«, bat er und reichte ihr einen Stift. Sie sah eine Liste von Namen und Unterschriften und das große rote X, das auf das leere Feld neben ihren Namen gekrakelt war.
Sie nahm ihm den Block ab und lächelte in seine meergrünen Augen, in Lesters Augen. Sie mußte einfach versuchen, diesen Moment möglichst lange hinauszuzögern. »Scheißwetter heute, was?« sagte sie.
Er wirkte angespannt und unruhig, als würde er gleich aus den Startlöchern flitzen und auf der Aschenbahn davonstieben. »Ein Sturmtief«, sagte er. »Der Hurrikan streift angeblich knapp an uns vorbei, bis auf einen Wolkenbruch heute nachmittag – wenigstens haben sie das im Radio gesagt.«
Sie hielt den Block immer noch in der Hand und beugte sich vor, um zu unterschreiben, doch dann kam ihr ein Gedanke, und sie richtete sich wieder auf. »Ja, diese Sturmtiefs«, sagte sie mit verächtlichem Unterton. »Und vermutlich heißt das jetzt Bill oder Fred oder so, nicht wie früher, als man noch so intelligent war, sie nach Frauen zu benennen. Ist doch eine Schande, finden Sie nicht?«
Der UPS-Mann trat auf dem weichen Rasenteppich verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Tja«, sagte er, »sicher – aber würden Sie bitte unterschreiben, Ma’am? Ich muß noch...«
Sie hob die Hand, um ihn zu bremsen. Mein Gott, sah der gut aus – genau wie Lester. Natürlich war Lester größer gewesen, hatte einen Schnurrbart gehabt und hübschere, irgendwie hellere Augen... »Ich weiß, ich weiß – Sie haben noch Tausende von Lieferungen zu machen.« Sie musterte ihn mit festem Blick. »Frauen sind wie Stürme, das haben die damals begriffen« – flirtete sie etwa mit ihm? Ja, wirklich, das war es –, »aber jetzt heißt es Hurrikan Tom, Dick oder Harry. Ist doch zu blöd, oder?«
»Ja«, sagte er, »sicher, aber...«
»Okay, okay, ich unterschreib schon.« Sie signierte den Lieferschein mit der sauberen, eckigen Schrift, die sie vor ewigen Zeiten in der kirchlichen Schule gelernt hatte, dann strahlte sie ihn mit ihrem kokettesten Lächeln an – warum nicht, war sie etwa zu alt? Nicht in dieser Welt, nicht bei alldem, was man heutzutage so im Fernsehen sah. Sie berührte ihn am Arm und hielt ihn kurz fest, während er ihr das Päckchen gab. »Danke schön«, murmelte sie. »Sie sehen verdammt gut aus, wissen Sie das?«
Und er stand da wie ein Trottel, wie ein Schuljunge, und wurde tatsächlich rot. »Ja, ja«, stammelte er, »ich meine, nein, ich meine, danke.« Und dann rannte er über den Rasen, der Papierblock flatterte im Wind, der jetzt auch ihr Haar wieder zerzauste. »Schönen Tag noch«, rief sie, aber er hörte sie nicht mehr.
Im Haus sah sie sich das Päckchen kurz an – auf dem Etikett stand »Frinstell Corporation« –, dann ging sie in den Hobbyraum, um eine Schere zu holen. Frinstell Corporation, dachte sie und murmelte den Namen vor sich hin, was war denn das nun wieder? Sie schnitt laufend Anzeigen aus Zeitschriften aus und schickte sie weg – lauter einmalige Angebote –, aber »Frinstell« sagte ihr nichts. Es dauerte einen Moment, die Schere blinkte matt im Zwielicht der Küche, dann hatte sie das Klebeband an der Kante aufgeschlitzt und wühlte sich durch das Packpapier im Innern. Und da – ach ja, natürlich – das war ja die Original-Heim-Wetterstation, die sie bestellt hatte, geprüft vom Meteorologischen Dienst der USA, montiert auf eine blankpolierte, mit echtem Walnußfurnier überzogene Platte: Thermometer, Barometer und Hygrometer in einem – mit lebenslanger Garantie.
Ein hübsches Gerät, dachte sie und hob es bewundernd in die Höhe. Blinkendes Messing, schöne große Ziffern und Teilstriche, für die man keinen Feldstecher brauchte, hergestellt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es würde sich sehr gut über dem Kamin machen – oder vielleicht im Eßzimmer; das Nußholz paßte genau zum Ton der Möbel dort, oder? Sie war auf dem Weg ins Eßzimmer, die Original-Heim-Wetterstation in der Hand, als sie bemerkte, daß der Barometerzeiger in der linken Ecke festhing. Verhakt. Sie schüttelte das Gerät, klopfte auf die Glasfläche. Nichts. Der Zeiger rührte sich nicht.
Plötzlich verlor sie wieder die Beherrschung; sie spürte, wie ein Zorn sie übermannte, der ebenso unausweichlich und unerbittlich war wie das Anbranden der Meeresgischt an eine Steilküste – wie viele Medikamente hatte sie gegen diesen Zorn schon geschluckt, und wie viele Ärzte, ganz zu schweigen von Ehemännern, hatten versucht, ihn zu besänftigen? Die Frinstell Corporation. Schwindler und Betrüger waren das. Man bekam heute nichts als Schrott zu kaufen – kein Wunder, daß die USA inzwischen für die ganze Welt die reinste Lachnummer waren. Keine zehn Sekunden ausgepackt, und schon konnte man das Zeug wegschmeißen. Sie kochte vor Wut. Mit Mühe bezwang sie sich, das Ding nicht gegen die Wand zu schleudern, darauf herumzutrampeln – Rauschgiftsüchtige, Haschbrüder, die Fabriken waren doch voll von denen –, dann aber fiel ihr der Fernseher ein, und sie hielt an sich, bis der erste heiße Schwall der Rage vorüber war.
Also bitte, sie würde es vernünftig angehen, na gut. Immerhin hatte das Teil angeblich eine lebenslange Garantie. Aber was für ein Witz, dachte sie bitter, und wieder mußte sie sich beherrschen, es nicht gegen die Wand zu schmettern – jetzt brauchte sie ein Glas Wein. Ja. Zur Beruhigung. Und dann würde sie das Ding wieder in die Schachtel packen und diesen Schweinen direkt zurücksenden – die würden schon sehen, wie schnell sie ihren Plunder wieder auf dem Tisch hatten, solchen Dreck ließ sie sich nicht andrehen... sie würde Willis damit auf die Post schicken, sobald er zur Tür hereinkäme. Und auf das Päckchen käme kein Penny Porto, das war klar. Zurück an Absender, würde sie draufschreiben. Beim Versand beschädigt – nehmen Sie Ihren Schrott und...
Dann sah sie auf die Uhr. Schon Viertel vor zwölf, er mußte jeden Moment kommen. Plötzlich war all ihre Wut auf die Frinstell Corporation verflogen, sie verflüchtigte sich ebenso rasch, wie sie sich aufgeschaukelt hatte, und sie empfand plötzlich heftige Zuneigung für ihren Mann, ihren Ehemann, ihren Willis – der arme Kerl, mußte bei Wind und Wetter da draußen sein und ebenso hart arbeiten wie Männer, die halb so alt waren wie er, nur weil er für sie sorgen und sie beschützen wollte... und sie war beim Frühstück so gemein zu ihm gewesen, wirklich. Er brauchte jetzt nichts so sehr wie ein anständiges Mittagessen, entschied sie, ein schönes warmes Mittagessen. Sie hob die Heim-Wetterstation so behutsam in die Schachtel, als legte sie ein Baby in die Wiege, schlug das Packpapier darum und klebte es wieder zu, dann ging sie an die Anrichte. Sie goß sich ein Glas Wein ein und machte sich daran, eine Dose Erbsensuppe mit Schinken zu öffnen – die würde sie für Willis aufwärmen, dazu einen leckeren Eiersalat auf Toast...
Toast. Aber sie hatten ja kein Brot mehr, oder? Nur diesen Dreck aus Sägemehl und Nüssen, den er ihr zum Frühstück hatte unterjubeln wollen. Sie dachte einen Moment darüber nach, und eine schwarze Wolke schien vor ihr aufzusteigen. Ehe sie sich’s versah, überkam sie die gleiche Wut wie am Morgen, durch die Tragödie mit dem Fernseher und den Schwindel mit der Heim-Wetterstation verdoppelt und vervierfacht, und als sie Willis’ Schlüssel in der Tür hörte, loderte sie innerlich wie der Vesuv.
Mochte sie morgens auch immer gereizt sein, ohne jeden Grund auf ihn loshacken und ihm beim geringsten Anlaß an die Kehle springen, bis Mittag hatte sich regelmäßig alles geändert: sobald er durch die Tür trat, umfing ihn eine allumfassende Wolke von mütterlicher Fürsorge, und wenn sie ihn eine halbe Stunde später wieder hinausgeleitete, verabschiedete sie sich mit langen, zärtlichen Umarmungen, Küssen und Schulterklopfen. Das war jedenfalls das übliche Szenario – nur heute war alles anders. Willis spürte es, noch ehe er durch den Flur in die Küche schlurfte, wo sie vor einer Suppendose und einer Schachtel mit Salzcrackers stand. Er sah, daß sie noch immer in Nachthemd und Morgenmantel herumlief – ein schlechtes Zeichen –, und er erkannte den umnebelten, gekränkten, verletzten Ausdruck in ihren Augen. Er blieb an der Küchentür stehen und wartete.
»Willis, ach, Willis«, seufzte sie – oder nein: stöhnte, blökte, jammerte sie, als hätte sie in den fünf Stunden, seit er sie zum letztenmal gesehen hatte, alle Prüfungen Hiobs durchgemacht. Er kannte den Tonfall und wußte, daß Ärger in der Luft lag – alles mögliche hätte sie ausrasten lassen können, ein verstopfter Ausguß, der Krieg in Bosnien oder weinselige Erinnerungen an ihren ersten Mann, den Heiligen. »Liebling«, weinte sie und ging durch die Küche auf ihn zu, um ihn derart heftig zu umarmen, daß ihm die Nieren schmerzten, »du mußt mir helfen – nur einen kleinen Gefallen tun, einen ganz kleinen.« Ihre Stimme verhärtete sich fast unmerklich, während sie sich an ihn klammerte und in einer Art Trauertanz hin- und herschaukelte: »Alles ist einfach so, so verdorben.«
Er war fünfundsiebzig und hatte gearbeitet, seit er aus der Wiege geklettert war. Die meisten Männer in seinem Alter waren tot. Er war müde. Seine Hüfte fühlte sich an, als hätte eine ganze Armee von wahnsinnigen Akupunkteuren glühende Nadeln hineingetrieben. Er wollte sich nur endlich hinsetzen.
»Komm, Liebling«, säuselte sie, ganz Anteilnahme, und führte ihn umständlich an den Tisch, immer noch halb an ihn geklammert. »Ruh dich aus und iß, du Armer, du mußt ausgehungert sein. Und erschöpft sicher auch. Regnet es draußen etwa?«
Diese Frage erforderte keine Antwort, war nur eine Variante ihres Mittagessen-Monologs, eine Ablenkung, die ihn vom eigentlichen Thema abbringen sollte, von der Krise, worin immer sie bestand – der kaputte Fernseher vermutlich –, der Krise, die seine sofortige Aufmerksamkeit und Expertise erforderte. Und nein, es regnete nicht, noch nicht, aber der Wind tobte draußen wie ein Höllenfeuer, und der Vormittag war ein totales Desaster gewesen, die reinste Zeitverschwendung. Die Zimmerleute waren nicht gekommen, der verfluchte Klempner auch nicht, und so hatte er den ganzen Vormittag in dem Skelett von Haus gewartet – die Bauarbeiten waren längst im Verzug – und zugesehen, wie der Wind die Wellen auftürmte und gegen die Mole branden ließ, als wäre sie aus Pappe und nicht aus Beton. Er hatte die Mistkerle fünf- oder sechsmal von der Zelle am Strand aus angerufen, aber keiner hatte abgehoben. Schwächlinge waren das, hatten Angst vor ein bißchen schlechtem Wetter. Er blickte auf, und da stand die Suppe vor ihm auf dem Tisch, dazu ein Teller mit Sardinen, sechs Würfel Cheddar-Käse und ein Glas Apfelsaft. Muriel stand direkt vor ihm.
Er trank einen Schluck Saft und griff nach dem Löffel, legte ihn aber gleich wieder weg. Wozu das Unvermeidliche hinauszögern? »Was ist denn los, Schatzi?« fragte er.
»Ich weiß, du wirst dich nicht darüber freuen, aber du mußt für mich zum Postamt fahren.«
»Zum Postamt?« Er wollte nicht zum Postamt – er wollte zurück zu der Baugrube und den hölzernen Gebeinen des entstehenden Hauses, zu den Haufen von Schutt und Abraum und dem heißen scharfen Geruch nach Dachdeckerteer. Er dachte an den Arzt und seine Frau, ein junges Paar Anfang Vierzig, das ihn beauftragt hatte, ihnen ihr Traumhaus am Meer zu bauen. Er hatte ihnen fünfhundert Quadratmeter mit Balkons, Sonnenterrasse und Rundumblick in sechs Monaten Bauzeit versprochen – und nun waren schon zwei Monate vergangen, aber nicht mal das verdammte Balkenwerk war fertig. Und da wollte Muriel ihn zum Postamt schicken.
»Es ist wegen dieser Heim-Wetterstation«, sagte sie. »Die muß zum Hersteller zurück. Und zwar heute, sofort, jetzt gleich.« Ihre Stimme drohte sich zu entzünden. »Ich will sie keine Sekunde länger im Haus haben... wenn diese Schweine denken, sie könnten mich...«
Sie steigerte sich hinein, ihr Zorn richtete sich einstweilen gegen die Heim-Wetterstation, was immer das war, und gegen vorläufig namenlose Schweine, wer immer die waren, aber er wußte genau: wenn er nicht den Überblick behielt und aufpaßte, könnte sich die volle Wut ihrer Empörung auf ihn entladen, mit der jähen, tödlichen Schnelligkeit einer Lawine. Er hörte sich sagen: »Ich kümmere mich darum, Schatzi, mach dir keine Sorgen.«
Doch als er aufsah, um ihre Reaktion abzuwägen, merkte er, daß er mit sich selbst sprach: sie war hinausgegangen. Was war denn jetzt los? Er hörte Geräusche aus dem Eßzimmer – das Reißen von Klebeband, ungeduldiges Rascheln mit Packpapier, gefolgt vom lauten Stakkato ihrer Schritte –, und ehe er den Löffel an die Lippen heben konnte, war sie zurück, mit einem Pappkarton von der Größe eines Möbelstücks. Sie rauschte durch den Raum und knallte das Ding mit solchem Getöse auf den Tisch, daß die Suppenschüssel schepperte und der Saft gegen den Rand des Glases schwappte. Draußen vor den Fenstern heulte der Wind.
»Nun sieh dir das an«, sagte sie. Ihre Ellenbogen hüpften, als sie das Paket aufriß und ihm ein langes, schmales Holzbrett entnahm, auf dem drei blinkende Meßinstrumente montiert waren. Er verspürte einen Moment der Erleuchtung: offenbar die Wetterstation. »Hast du schon je im Leben solchen Schrott gesehen?«
Es sah ganz in Ordnung aus. Er wollte seine Suppe essen, er wollte schlafen, er wollte, daß sich das Haus des Arztes aus den Dünen erhob und tapfer dem Meer trotzte, perfekt in jedem Detail. »Was ist damit, Schatzi?«
»Was damit ist?« Ihre Stimme sprang ein Oktave in die Höhe. »Bist du denn blind? Sieh doch hin« – ein stumpf angekauter Fingernagel pochte auf das mittlere Instrument – »das ist damit. Schrott. Nichts als Schrott.«
Stirnrunzelnd musterte er das Ding, während seine Suppe kalt wurde, dann holte er die Brille aus der Hemdtasche und untersuchte es näher. Der Zeiger des Barometers hing ganz unten links bei 700 mm fest – so etwas hatte Willis noch nie gesehen. Er hob das Instrumentenbrett vom Tisch und schüttelte es. Drehte es um. Klopfte an das Glas. Nichts.
Muriel kochte. Sie legte mit einer Tirade über Schwindler und Betrüger los, über die Japaner und was sie ihrem Bruder angetan hatten, ganz zu schweigen von der amerikanischen Volkswirtschaft, und um sie zu beruhigen, konnte er nichts weiter tun, als ihr in allem zuzustimmen und immer wieder »Schatzi« zu säuseln, bis seine Suppe eiskalt war und er mit einem Ruck vom Tisch aufstand, das Paket unter den Arm klemmte und sich auf den Weg zum Postamt machte.
Der Wind hatte sich gesteigert, peitschte die Baumwipfel hin und her wie alte Fetzen, und der Geruch des Ozeans war stärker geworden, ranzig und durchdringend, als hätte sich der Meeresboden nach oben gestülpt und seine faulenden Sedimente ans Ufer gekippt. Eine Mülltonne kollerte die Straße entlang, und über den Rasen wirbelte eine große Papiertüte, die sich kurz um seine Beine schlang. Als er sich ins Auto setzte, das Paket neben sich, riß ihm der Wind die Tür aus der Hand, und ihm wurde klar, daß es an diesem Tag wohl nichts mehr mit der Arbeit werden würde. So wie es aussah, konnte er froh sein, wenn das, was sie bisher aufgebaut hatten, am nächsten Morgen noch stand. Kein Wunder, daß die Zimmerleute nicht gekommen waren: das hier war ein ausgewachsener Sturm.
Er wich Mülleimerdeckeln und Ästen aus, die wie von Zauberhand über den Asphalt getrieben wurden, und sein Wagen brachte ihn bis zum Postamt, treu wie ein altes Pferd. Die Straßen waren verlassen. Er traf auf genau drei andere Autos, die alle mit Licht fuhren und wie besessen rasten. An der Kreuzung beim Postamt wartete er eine Ewigkeit und sah zu, wie die rote Ampel an ihrer Aufhängung schaukelte. Es war so dunkel, als würde es dämmern. Vielleicht kam ja tatsächlich ein Hurrikan, dachte er, vielleicht war das der Grund. Er hätte gern Radio gehört, aber das blöde Ding hatte ohnehin nie funktioniert, und vor zwei Monaten hatte irgendein Idiot das Fenster auf der Fahrerseite eingeschlagen und sich damit davongemacht.
Während er so dasaß und die Ampel über der verlassenen Straße hüpfen und schwanken sah, verspürte er eine plötzliche Vorahnung, einen heftigen Stich der Angst, der ihn veranlaßte, den Motor ungeduldig aufheulen zu lassen und ein paar Zentimeter auf die Kreuzung zu fahren. Vielleicht war es besser, umzukehren und sich um die Fenster, um Muriel zu kümmern – in Corpus Christi hatte er einmal einen Hurrikan erlebt, damals waren für sechs Tage Strom und Wasser ausgefallen. Er erinnerte sich noch an eine alte Frau, die mitten auf einer überschwemmten Straße gesessen hatte, um den Kopf einen blutigen Verband aus einer Wohnzimmergardine. Was für ein Bild. Und er und seine Kumpel hatten zwei Kisten Tequila aus einem verwüsteten Schnapsgeschäft abgeschleppt. Er sollte besser heimfahren. Das sollte er.
Doch dann schaltete die Ampel auf Grün, und er dachte sich, da er nun schon mal hier sei, könne er die Sache ebensogut erledigen – er würde zu Hause einen mordsmäßigen Krach bekommen, wenn er’s nicht tat, mit oder ohne Hurrikan –, also fuhr er auf den Parkplatz, stellte den Wagen ab und griff nach dem Paket. Fünf Minuten, länger würde es nicht dauern. Und dann nichts wie nach Hause.
Als er den Weg entlangging – und jetzt blies es wirklich ordentlich, meine Herren, er bekam Dreck oder Sand oder sonstwas in die Augen –, sah er den Postamtsleiter und einen bärtigen Kerl mit Pferdeschwanz mit einer Spanplatte herumhantieren, die groß genug war, um ein Einkaufszentrum zu vernageln. Der Postamtsleiter hielt einen Hammer in der Hand und rief dem anderen etwas zu, doch in diesem Moment packte eine Bö die Spanplatte, und sie wurden beide ins Gebüsch geschleudert. Willis duckte sich und griff nach seiner Baseballmütze, aber zu spät: sie flog ihm vom Kopf und segelte hoch über den Bäumen davon, wie eine Tontaube. Er ging schneller und kämpfte sich durch die schwere Doppeltür ins Postamt.
Hinter dem Schalter saß niemand, es wartete auch keine Schlange; im ganzen Gebäude war, soweit er sah, kein Mensch. Alle Lampen brannten, und die blankgebohnerten Dielen erstreckten sich wie immer durch den Korridor, aber es herrschte eine gespenstische Stille. Draußen toste der Wind gegen die Glasfenster und trieb jetzt erste Regenspritzer vor sich her. Willis drückte auf die Glocke, nur um sicherzustellen, daß niemand im Sortierraum oder auf der Toilette oder so war, und wandte sich dann zum Gehen. So schwer es war, Muriel mußte es einsehen: die Post hatte geschlossen. Ein Hurrikan war im Anzug. Er hatte getan, was er konnte.
Er hatte gerade die innere Tür aufgezogen, als das große Glasfenster in der Eingangshalle zerbrach, mit einem Knall wie ein Champagnerkorken, gefolgt vom Scheppern des Glases. Vergiß das blöde Paket, sagte ihm sein Verstand, schmeiß es weg, fahr nach Hause und verkriech dich im Keller mit Muriel und der Katze und einem Satz Büchsen mit Schweinefleisch und Bohnen, aber die Beine versagten ihm den Dienst. Er war wie erstarrt, als weiter hinten noch ein Fenster splitterte und das Licht erst flackerte, dann ganz ausging. »He, Sie da, Alterchen!« rief jemand, und da stand der Postamtsleiter direkt neben ihm, bleich und nervös, das Haar zerzaust. Der bärtige Mann war auch dabei, und in ihren Augen flackerte die Aufregung. Im nächsten Moment hatten sie Willis am Arm gepackt; der Wind gellte in seinen Ohren. Ein Wirbel aus weißen Briefkuverts erhob sich plötzlich in die Luft, und er rannte, rannte sehr schnell, durch einen Korridor, hinein in Dunkelheit und Stille.
Er roch den Postamtsleiter und den anderen, roch die Nässe und ihre Angst. Ihr Atem war ein rasches, gieriges Keuchen. Von draußen, von weit weg, hörte er immer noch das gedämpfte Heulen des Windes.
»Hat jemand Zündhölzer?« Es war die Stimme des Postamtsleiters, eine Stimme, die er gut kannte, vom Schlangestehen, vom Schalterfenster und der glänzenden, gefliesten Weite der Eingangshalle.
»Hier«, sagte eine zweite Stimme, und das aufflammende Streichholz beleuchtete das pockennarbige Gesicht des Bärtigen und einen Lagerraum aus Beton voller Postsäcke, Pappkartons, Papierstapel.
Der Postamtsleiter wühlte hinter sich in einem Schrank und förderte eine Taschenlampe zutage, einen dieser dicken Kästen, die einen leuchtturmartigen Lichtstrahl an einem und eine kleine rote Notlampe am anderen Ende haben. Er schwenkte die Lampe durch den Raum, dann stellte er sie auf einem Karton ab und schaltete sie aus. Nun glomm nur noch ein gespenstischer rötlicher Schein. »Meine Güte«, sagte er, »habt ihr gesehen, wie dieses Fenster zersprungen ist? Irgendwelche Splitter abgekriegt, Bob?«
Bob verneinte.
»Mann, da haben wir noch mal Glück gehabt.« Der Postamtsleiter war ein großer Bär von Mitte Fünfzig, der jahrelang Vollbart getragen hatte, jetzt aber das typische bleiche Stoppelkinn der Männer zeigte, die gerade erst Bekanntschaft mit einem Rasierapparat geschlossen hatten. Eine Weile schwieg er. In der Ferne heulte der Wind. »Mein Gott, ich hoffe nur, Becky ist nicht da draußen – sie wollte heute Jimmy zum Zahnarzt bringen, zum Kieferorthopäden, meine ich...«
Bob antwortete nicht, aber beide sahen gleichzeitig zu Willis, als hätten sie ihn erst jetzt bemerkt.
»Sind Sie in Ordnung?« fragte der Postamtsleiter.
»Ja, schon«, sagte Willis. Das stimmte doch, oder? Aber was war mit dem Auto? Was war mit Muriel? »Hören Sie, ich muß nach Hause –«
Der Postamtsleiter lachte laut auf. »Nach Hause? Begreifen Sie denn nicht? Das da draußen ist der Hurrikan Leroy – Sie können von Glück reden, wenn Sie Ihr Zuhause nachher überhaupt noch haben – welcher Teufel hat Sie eigentlich geritten, bei dem Wetter Auto zu fahren? Haben Sie keinen Fernseher? Meine Güte«, endete er, als faßte das alles zusammen.
Es wurde still, und Bob ließ sich mit einem Seufzer in ein Polster aus zusammengefalteten Kartons sinken. »Tja«, sagte er, und das matte Rotlicht schimmerte auf der Whiskeyflasche, die er aus seinem Hemd zog, »wir können uns ebensogut ein bißchen amüsieren – sieht aus, als wär’n wir noch ’ne Weile hier.«
Willis mußte eingenickt sein. Die Flasche war ein paarmal herumgegangen, und er hatte das schöne, tiefe Brennen des Whiskeys gespürt – ein Geschmack, den Muriel ihm verwehrte; wenn es darum ging, war sie schlimmer als diese Entwöhnungsgruppen, dabei nuckelte sie doch selbst den ganzen Tag an der Weinflasche –, und dann hatte Bob mit gepreßter, kehliger Stimme zu jammern angefangen: über seine Ehe, seine Rückenschmerzen, daß seine Schwester Fürsorge bezog und sein Kater alle Bettpfosten und Tischbeine markierte, und Willis fand es zunehmend schwieriger, das rotglühende Leuchten nicht verschwimmen zu lassen. Er saß vornübergebeugt auf einem Klappstuhl, den der Postamtsleiter aus einem Büro geholt hatte, und als er sich seiner Umwelt wieder bewußt wurde, zählte Bob gerade die tragischen Tricks der Autoversicherungsbranche auf, sein Gesicht gespenstisch in dem fahlen Höllenlicht. Einen Augenblick lang wußte Willis nicht, wo er war, doch dann hörte er den Wind in der Ferne heulen, und es fiel ihm wieder ein.
»Nach bloß zwei Unfällen, Bob? Das glaub ich dir nicht«, sagte der Postamtsleiter gerade.
»Mann«, erwiderte Bob, »ich zeig dir gern die Rechnung.«
Willis versuchte aufzustehen, aber seine Hüfte spielte nicht mit. »Muriel«, sagte er.
Beide Gesichter wandten sich ihm zu, das bärtige und das andere, das eigentlich auch hätte bärtig sein sollen, und sie wirkten befremdlich und bedrohlich in diesem unnatürlichen Licht. »Alles okay, Alterchen?« fragte der Postamtsleiter.
Willis fühlte sich wie Methusalem, wie Rip Van Winkle nach seinem langen Schlaf; er fühlte sich müde und hoffnungslos, als wäre alles umsonst gewesen, was er in seinem Leben gelernt und getan hatte. »Ich muß jetzt« – er bremste sich; fast hätte er gesagt: Ich muß jetzt nach Hause, aber sie hätten ihn wahrscheinlich aufzuhalten versucht, und er wollte sich auf keine Diskussion einlassen. »Ich muß mal pinkeln«, sagte er.
Der Postamtsleiter musterte ihn kurz. »Geht noch immer ein ziemlicher Sturm da draußen«, sagte er, »aber im Radio sagen sie, das Schlimmste ist vorbei.« Nun hörte auch Willis das leise Gebrabbel des Radios – eines dieser kleinen Transistorgeräte, wie sie jetzt alle Jugendlichen hatten; es steckte in der Brusttasche des Postamtsleiters. »Warten Sie noch eine Stunde«, sagte er, »und dann kümmern wir uns darum, daß Sie gut heimkommen. Ihr Auto ist übrigens okay, falls Sie sich deswegen Sorgen machen. Höchstens daß vielleicht ein Ast aufs Dach gekracht ist.«
Willis sagte gar nichts.
»Den Gang runter und dann links«, sagte der Postamtsleiter.
Er brauchte einen Moment, um gegen das Beharrungsvermögen seines Hüftgelenks anzukämpfen, dann tauchte er aus dem Dunkel des Lagerraums auf und trat in das düstere graue Zwielicht des Korridors. Nuggets aus Glas knirschten und schlitterten unter seinen Füßen davon, und alles war naß. Draußen regnete es stark, und dieser ranzige Geruch lag immer noch in der Luft, aber der Wind schien nachgelassen zu haben. Er gelangte zur Toilette und ging daran vorbei.
In der Schalterhalle herrschte ein Chaos aus feuchtem Papier und Laub, doch die Tür ließ sich problemlos öffnen, und im nächsten Augenblick stand Willis auf der Treppe, und der Regen prasselte mit aller Macht auf seinen unbedeckten kahlen Kopf herab. Automatisch griff er nach der Baseballmütze, doch dann fiel ihm ein, daß sie weg war, und er zog die Schultern hoch und ging über den Parkplatz. Er stapfte vorsichtig durch das glitschige grüne Durcheinander aus Laub und angewehtem Gerümpel, und bis er zu seinem Wagen kam, war er völlig durchnäßt. Ein einzelner abgebrochener Ast lag über der Windschutzscheibe, hatte aber keinen Schaden angerichtet; er warf ihn zu Boden und setzte sich hinters Steuer.
Sein Verstand arbeitete nicht allzugut – vielleicht war es der Schock des Sturms oder die Nachwirkung des Whiskeys und seines Schläfchens auf dem Klappstuhl. Die Schlüssel. Zweimal durchwühlte er Hose und Jacke, ehe er sie endlich fand, dann versuchte er den Motor anzulassen, und er mußte lange mit dem Fuß auf dem Gas bleiben, während der Starter heulte und der Regen über die Scheibe strömte. Endlich sprang der Wagen an, und er legte krachend den Gang ein; erst jetzt bemerkte er, daß die Ausfahrt von einem Baum versperrt war. Und was nun? Muriels Phantom stieg vor ihm auf, bleich und zitternd, und dann blickte er auf und sah den Postamtsleiter und Bob, die auf der Treppe standen und ihn anglotzten, als stammte er von einem anderen Stern. Ach, was soll, dachte er, winkte ihnen beschwingt zu, ließ den Motor aufheulen und rumpelte quer über den Bürgersteig auf die Straße.
Hier nun war die Welt wahrhaftig eine andere geworden. Es war, als hätte eine riesige Hand durch die Straße gewischt und dabei Bäume und Telefonmasten umgeworfen, Fenster eingedrückt, Dachschindeln abgetragen. Die Straße zur Autobahn war völlig unpassierbar, überschwemmt von gurgelndem kackbraunem Wasser, in dem eines dieser kleinen japanischen Autos mit dem Fahrgestell nach oben trieb. Willis probierte es mit der Meridian Street, dann mit der Seaboard, aber beide waren blockiert. Bei dem Haus, in dem Joe Diggs gewohnt hatte, bevor er gestorben war, hatte eine mindestens fünfhundert Jahre alte Eiche die Veranda abgerissen, und davor peitschten Elektrodrähte von einem gesplitterten Leitungsmast. Obwohl der Regen auf das Autodach trommelte, hörte Willis die Sirenen, ihren beständigen, langgezogenen Klagelaut.
Er war jetzt in großer Sorge – das war genauso schlimm wie in Corpus Christi damals, nein, schlimmer –, und seine Hände zitterten auf dem Lenkrad, als er die Straße erreichte, in der er wohnte, und sie von Schutt und umgestürzten Bäumen versperrt fand. Das Haus an der Ecke – das von den Needlemans – war unversehrt, aber gegenüber, auf seiner Straßenseite, hatte das von den Stovers kein Dach mehr. Und die Straße selbst, die friedliche, baumbestandene Straße, in die sich Muriel damals sofort verliebt hatte, war nicht wiederzuerkennen, die Doppelreihe aus Ahornbäumen lag platt auf dem Boden wie Spielkarten. Willis setzte zurück, das Wasser stand bis zu den Radkappen, bog links in die Susan Street ein, dann wieder links in die Massapequa, um so einmal um den Block zu fahren und vom anderen Ende her zu seinem Haus zu gelangen.
Er hatte Glück. In keiner der beiden Straßen war allzuviel verwüstet worden, und an der Ecke Massapequa konnte er sich einen Weg um einen umgestürzten Telefonmast bahnen, indem er über den Bordstein fuhr, so wie er es beim Postamt getan hatte. Und dann bog er in seine, in die Laurel Street ein, durch Schutt und Dreck, machte einen weiten Bogen um den verstopften Gully an der Ecke. Die Menschen standen in ihren Vorgärten und begutachteten die Schäden – er sah, wie Mrs. Tilden oder Tillotson, oder wie immer sie hieß, eine Zypresse aufzurichten versuchte, die sich an ihre Veranda klammerte wie ein nasser Schnurrbart. Es wirkte fast komisch, die kleine Frau und dieser große, schlaffe Baum, und er entspannte sich etwas – alles würde in Ordnung kommen, an diesem Ende der Straße war kaum etwas passiert, und da stand dieser dicke Kerl – wie hieß er gleich? – und tanzte händeringend um den Kadaver seines zertrümmerten Cadillac. »Ja«, sagte er laut vor sich hin, »alles wird in Ordnung kommen«, und er wiederholte es immer wieder, machte ein kleines Gebet daraus.
Inzwischen hatte er mehr Angst vor Muriel als vor dem Sturm – er konnte sie schon hören: Wie konnte er sie mitten in einem Hurrikan allein lassen? Wo war er gewesen? Hatte er etwa eine Schnapsfahne? Die Schäden ließen sich beheben – schließlich war er vom Bau. Es war nur eine Frage von Materialien, sonst nichts – Ziegel, Bauholz, Gipskartonplatten, Schindeln. Und Glas. Die Glaser bekamen jetzt viel zu tun, soviel stand fest. Als er einen Rasenmäher umrundete, der verloren mitten auf der Straße lag, und die weite geschwungene Kurve nahm, von der aus er sein Haus sehen konnte, rechnete er mit dem Schlimmsten – abgerissene Fensterläden, ein Loch im Dach, die Ulme quer über der Garage liegend wie ein verstümmeltes Tier –, doch die Wirklichkeit ließ ihm das Herz stillstehen.
Es war nichts mehr da. Nichts. Wo keine zwei Stunden zuvor das Haus gestanden hatte, die hohe Ulme und die Doppelgarage mit seiner Werkbank, seinen Werkzeugen und allem anderen, war nur mehr ein leerer Fleck. Das Grundstück war kahlgefegt bis auf die abgebrochenen, schartigen Reste des Fundaments, mit Gerümpel übersät, wie eine antike Ruine. Panik ergriff ihn, ein Schock, und er trat instinktiv auf die Bremse, so daß der Wagen ins Schleudern geriet, quer über die Straße rutschte und mit einem Ruck gegen den Bordstein krachte.
Schlotternd löste er die Finger vom Lenkrad. Über dem rechten Auge spürte er einen pulsierenden Schmerz, wo er gegen den Rückspiegel geprallt war. Seine Hände zitterten. Nein, dachte er und blickte wieder auf, das konnte doch nicht wahr sein. Er war in der falschen Straße, das mußte es sein – er war falsch abgebogen und stand jetzt vor dem Grundstück von jemand anderem. Er brauchte einen Moment, doch dann stieß er die Tür auf und stieg vorsichtig aus, auf die trümmerübersäte Straße, und da war die Zahl am Bordstein, die ihn widerlegte, dort der Briefkasten mit seinem Namen darauf in sauberen weißen Blockbuchstaben, unberührt, das rote Fähnchen fröhlich aufgerichtet. Und nebenan stand das Haus der Novaks, kein Zweifel, dieses widerliche Lindgrün mit den rosa Einfassungen...
Dann dachte er an Muriel. Muriel. Sie war, sie war... er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken und stolperte über den Rasen wie ein Betrunkener, um dann benommen in das gräßliche Loch in der Erde zu starren. »Muriel«, schrie er, »Muriel!« Der Regen hämmerte auf ihn nieder.
Lange Zeit stand er so da, den Kopf gesenkt, fühlte sich so alt wie die Steine, so alt wie die aufgerissene Erde und der tote graue Himmel. Und dann, das Auto hinter ihm bullerte und spotzte noch, kam ihm die erste Ahnung eines Gedankens, der funkensprühend größer wurde, bis er wie eine Fackel in seinem Kopf brannte: Scotch mit Wasser. Er sah sich selbst, wie er gewesen war, als Muriel auf ihn stieß: wie für immer verschmolzen mit dem vinylbezogenen Barhocker des Dew Drop Inn, und seine Lippen bildeten unwillkürlich wieder die Worte: »Für mich einen Scotch mit Wasser.« Das Haus war weg, aber er hatte schon öfter Häuser verloren – meistens an Ehefrauen, die ja sowieso eine Art Naturkatastrophe waren; damit konnte er leben –, und er hatte auch Ehefrauen verloren, allerdings niemals so.
Jetzt traf es ihn, eine Welle des Kummers, die in seiner Hüfte anfing und in seine Kehle hinaufbrandete: Muriel. Er sah sie lebhaft vor sich, die mittägliche Muriel, die ihm die Schultern massierte und um ihn herumwuselte, ihm diese kleinen Crackers mit Sardellenpaste und Avocadocreme machte... er sah sie, wie sie abends die Bettdecke zurückschlug, sah sie stirnrunzelnd über einem Kreuzworträtsel sitzen, die Brille auf der Nasenspitze festgeklemmt – kleine Dinge, traute Dinge. Er spürte einen Stich, als er sich daran erinnerte, wie sie ihn wegen einer Fernsehsendung oder einem Footballspiel aufgezogen hatte und wie sie in der Küche herumgetanzt war, in der Hand eine Flasche Wein oder ein Stück mit Knoblauchzehen gespickter Rinderbrust... und nun sollte das vorbei sein. Er war fünfundsiebzig – sechsundsiebzig im Oktober –, und er starrte in die Grube, spürte den eisigen Hauch der Ewigkeit im Gesicht.
Seine Jacke war klatschnaß, und die Arme hingen ihm schlaff herab, als er sich endlich abwandte und über den matschigen Rasen davonhinkte, ein Soldat, der aus dem Krieg heimkehrte. Er schleppte sich über die Straße zum Auto, konnte an nichts anderes denken als an Ted Casselman, den Barkeeper vom Dew Drop – der würde wissen, was zu tun war –, und er hatte schon die Tür geöffnet, einen Fuß auf dem Trittbrett, als er sich für einen letzten verwirrten Blick umdrehte und eine Bewegung auf Novaks Veranda seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Plötzlich ging dort die Windfangtür auf, ein mattes Licht drang heraus, und da war sie, Muriel, der Vergessenheit entrissen. Sie trug immer noch ihren Morgenmantel, der jetzt naß und zerknittert war, das lange weiße Haar hing ihr wirr über die Schultern, so daß sie aussah wie eine alte Waldhexe aus dem Märchen. Hinter ihr stand Anna Novak, einen tragischen Ausdruck zwischen den unbewegten Fältchen rund um ihre slawischen Augen. Muriel stand einfach da, starrte auf die Straße, wo er an der Tür seines Wagens verharrte, einen halben Herzschlag von der Erlösung entfernt.
Der Wind erhob sich erneut und zerrte an den Ästen der übriggebliebenen Bäume. Ein paar Häuser weiter rief jemand einen Hund: »Hermie, Hermie! Hierher, komm!« Der Regen ließ etwas nach. »Willis!« rief Muriel plötzlich, »Willis«, und der Bann war gebrochen. Sie lief die Stufen hinunter, großartig und unbesiegbar, die Arme weit ausgebreitet.
Was konnte er tun? Er stellte den Fuß auf den Asphalt, achtete nicht auf den Schmerz, der ihm dabei in die Hüfte fuhr, und öffnete die Arme, um sie aufzunehmen.