Der Nebelmann

Er ratterte zweimal die Woche mit seinem alten Army-Jeep durch unsere Siedlung, hinter sich eine wallende Dunstwolke, die alle Bäume im Nirgendwo verschwinden ließ, Hügel verflachte und Häuser verschluckte, Fords, Chevys und Studebakers auslöschte, als wären sie ebenso körperlos wie die Luft, und ansonsten die Welt zu unserem Vergnügen verwandelte: Sträucher wurden zu Dinosauriern, Laternen zu Giraffen, der Asphalt auf den Straßen brodelte wie ein urzeitlicher Sumpf. Unsere Väter standen mit dem Gartenschlauch in der Hand auf ihren smaragdgrünen Rasenflächen, und sie winkten ihm lässig zu oder wandten sich ab, um einen glitzernden Regen auf die Blumenbeete oder die Forsythien zu versprühen. Wir sprangen auf unsere Räder, von der Aufregung mitgerissen, und fuhren ganz dicht hinter ihm her, hinter dem Nebelmann, kurvten durch die dichten Qualmwolken wie Kampfflieger, die über den Himmel zischen, oder wie Rennfahrer, die in der letzten Runde des Grand Prix am Gegner vorbeiziehen und die Führung übernehmen. Wir bekamen von ihm nichts weiter als jene Augenblicke der Verwandlung, aber wir jagten ihm ebenso zielstrebig nach wie dem Eismann in seinem klingelnden weißen Wagen voller Schoko-Nuß-Tüten und Zitroneneis am Stiel, jagten ihm nach, bis er seine Route durch unsere sechs Straßen beendet hatte – die eine hinauf, die andere hinunter – und dann, Nebelschwaden hinter sich herziehend, auf dem Highway zur nächsten Siedlung davonrumpelte.
Und die Schwaden legten sich, hefteten sich an das taufeuchte, nasse Gras, das Aroma der schwelenden Grillkohlen gewann langsam die Oberhand über den süßlich-narkotischen Duft, und wir waren wieder verschwunden, zerstreuten uns, identische Maschendrahttüren klappten in unseren identischen Häusern, in denen wir den behaglichen Bann des Fernsehens suchten. Mein Vater saß da, wie immer, in seinem Fernsehsessel, eine Hand vor den Augen, um ein imaginäres Blenden abzuhalten, in der anderen die schwitzende Bierdose. Meine Mutter saß daneben, die Beine auf dem Sofa angezogen, im Schoß die Zeitung ausgebreitet, ihren Drink neben sich auf dem überladenen Tisch.
»Der Nebelmann war gerade da«, verkündete ich. Eigentlich erwartete ich keine Antwort – ich sagte das nur so dahin. Die Serie im Fernsehen handelte von einer lächelnden Familie. Alle Serien handelten von lächelnden Familien. Meine Mutter nickte.
Eines Abends fügte ich eine Frage hinzu: »Der sprüht wegen Insekten, oder?« Soviel wußte ich, so war es mir erklärt worden, aber ich wollte Bestätigung, Bekräftigung, ich wollte mein Leben von Vernunft und Verständnis erhellt sehen.
Mein Vater sagte nichts. Meine Mutter sah auf. »Mücken.«
»Ja, das hab ich mir auch gedacht – aber wie kommt’s dann, daß draußen noch so viele sind? Auf der Veranda haben sie mich durchs Hemd gestochen.«
Meine Mutter schnippte die Asche weg und trank einen Schluck. »Alle erwischt man eben nicht«, sagte sie.
Ungefähr um diese Zeit schalteten die Elektrizitätswerke das erste Atomkraftwerk der Welt in Indian Point an. Zehn Jahre zuvor war die Kernspaltung ein Instrument von Krieg und Zerstörung gewesen, nun war sie sicher und beherrschbar: jetzt würde sie unsere Häuser heizen, unsere Lampen erhellen und unsere Stereoanlagen, Toaster und Geschirrspüler betreiben. Die Elektrizitätswerke bemühten sich sehr darum, daß unsere Gemeinde es so sah. Man nannte das Public Relations.
Ich kannte diesen Begriff damals nicht. Ich war elf Jahre, seit kurzem in der letzten Klasse der Grundschule, und wir alle fuhren zum Atomkraftwerk, im Schulbus, der bis zu den großen Fenstern vollgestopft war mit meinen aufgeregten Klassenkameraden. So etwas nannte man Schulausflug. Im Jahr davor waren wir auf einer Farm in Brewster gewesen und im New Yorker Naturgeschichtemuseum. Es war diesmal etwas früh im Jahr, aber das lag daran, daß sich diese erstaunliche, neue technologische Energie in unserer Nachbarschaft befand, diese Revolution in der Stromerzeugung, die unser Leben stromlinienförmiger gestalten sollte. Wir wußten nicht, was uns erwartete.
Der Bus holperte dahin und spotzte Qualm aus. Ich saß auf dem harten Sitz aus gesprungenem Kunstleder neben Casper Mendelson und sah die mächtige graue Betonkuppel, die sich hinter dem Wäldchen erhob und den Gipfel des Hügels ebenso wie den ruhigen, breiten, nach Fisch stinkenden Fluß jenseits davon dominierte. Es war beeindruckend, dieses gewaltige Bauwerk, in dem die Titanenkräfte des Universums zurechtgestutzt wurden. Casper sagte, es könne in die Luft gehen, so wie die Bombe, die sie auf die Japaner geworfen hatten, und daß es ganz Peterskill und Westchester dann mit in den Tod nehmen würde. Der Fluß würde dann verdampfen, übrig bliebe nichts als ein Krater von der Größe des Grand Canyon, und wir würden alle im Bett verglühen. Ich starrte ehrfürchtig durchs Fenster auf das Ding hinaus, auf die große Kuppel, unter der sich die brodelnde Komplexität verbarg, und ich war beeindruckt, aber dabei dachte ich an die frühere Verwendung des Areals als Jahrmarktgelände, an Lichtergirlanden, Zuckerwatte und Karussells. Jetzt stand hier diese graue Kuppel.
Sie führten uns in ein hellerleuchtetes Gebäude voller bunter Ausstellungsstücke, wo wir Sachen in die Hand nahmen, die dafür gedacht waren, über das schimmernde Linoleum schlitterten und einen kurzen Trickfilm sahen, in dem sich ein gewisser Johnny Atom in zwei Hälften spaltete und die Welt rettete, indem er Strom erzeugte. Das Ganze war ziemlich langweilig, abgesehen von der Kuppel selbst und dem, was Casper erzählt hatte, und nach einer Stunde veranstalteten meine Mitschüler im Saal ein wildes Getobe, brachen Handgriffe ab, kreischten, rannten herum, spielten Fangen und stellten sehr konkrete Überlegungen zum Mittagessen an – das wir, wie sich herausstellte, erst in der Schule bekommen würden, in der Cafeteria, und danach sollten wir in unsere Klassenzimmer zurück, um zu diskutieren, was wir auf dem Ausflug gelernt hatten.
An diesen Tag erinnere ich mich wegen der eindrucksvollen grauen Kuppel, aber auch weil ich damals zum erstenmal Maki Duryea näher in Augenschein nehmen konnte, das neue Mädchen, das seit kurzem in die andere sechste Klasse ging. Maki war schwarz – nein, nicht nur einfach schwarz: schwarz und zudem orientalisch. Ihr Vater war während der Besatzung in Osaka stationiert gewesen, ihre Mutter war Japanerin. Ich beobachtete sie an diesem Vormittag heimlich von ganz hinten im Bus, wo ich neben Casper saß. Sie saß irgendwo in der Mitte, neben Donna Siprelle, einem Mädchen, das ich seit Ewigkeiten kannte. Sehen konnte ich nur ihren Hinterkopf, aber das genügte: der Kopf war eine Offenbarung. Ihr Haar, von absoluter, unvermischter, interstellarer Schwärze, verschwand hinter der Rückenlehne, als wäre es unendlich lang. Es hatte glatt heruntergehangen, als wir am Morgen in den Bus eingestiegen waren, doch auf der Rückfahrt war es verwandelt, ein wüster elektrisierter Filz, der den ganzen Sitz verhüllte und den kleinen, adretten Knäuel aus blonden Löckchen auf Donna Siprelles Hinterkopf völlig verdeckte. »Maki Duryea, Maki Duryea«, skandierte Casper, obwohl ihn im Pandämonium des Schulbusses auf dem Weg zum Essen außer mir niemand hören konnte. Wütend rammte ich ihm den Ellenbogen in die Seite, aber er machte weiter, sogar noch lauter, um mich zu ärgern.
Es gab keine Schwarzen an unserer Schule und Asiaten oder Latinos auch nicht. Italiener, Polen, Juden, Iren, die Abkömmlinge der ersten holländischen und englischen Siedler im Hudson Valley, die gab es, die waren wir, aber Maki Duryea war die erste Schwarze – und die erste Asiatin. Caspers Vater war Jude, seine Mutter eine katholische Polin. Casper besaß den Spitzen-IQ eines Genies, aber er war komisch, zuinnerst irgendwie total schräg, was ihn von uns anderen unterschied. Bei allem war er der erste von uns – beim Onanieren, beim Rauchen und beim Trinken –, obwohl er sich nichts daraus machte. Einmal verursachte er in der ganzen Schule eine Panik, als er nach dem Mittagessen nicht mehr auftauchte und erst nach langer Suche, Zimmer für Zimmer und Spind für Spind, gefunden wurde: auf der Feuertreppe, in aller Ruhe ein Buch lesend; ein andermal stürzte er von seinem Platz hinten im Klassenzimmer nach vorn und machte vor dem bedauernswerten Lehrer hastig fünfzig Kniebeugen, dann steckte er den Daumen in den Mund und blies prustend die Luft aus, bis er ohnmächtig wurde. Er war mein bester Freund.
Im Bus sah er mich plötzlich an und verstummte. Seine Augen hatten die Farbe der riesigen Betonkuppel, das Haar war bis auf eine durchscheinende Bürstenfrisur geschoren. »Sie stinkt«, sagte er grinsend, und sein Blick durchbohrte mich. »Maki Duryea, Maki Duryea, Maki Duryea«, brüllte er wieder los, ehe er in Gekicher ausbrach. »Die riechen nicht so wie wir.«
Meine Familie war aus Irland. Aus Irland, mehr wußte ich nicht. Ein Hemd war aus Baumwolle oder aus Wolle. Wir waren aus Irland. Keiner redete darüber, es wurde keine exotische Sprache im Haus gesprochen, wir trugen weder Trachten noch aßen wir besondere Speisen, und zur Kirche gingen wir auch nicht. Wenn da nicht mein Großvater gewesen wäre...
In jenem Jahr besuchte er uns an Thanksgiving, ein kleiner, dicker Mann mit kurzem weißem Stoppelhaar, schlohweißen Augenbrauen und einer Melodie in der Sprache, die ich noch nie gehört hatte – höchstens in irgendeinem uralten Film, einer Fernsehwiederholung mit mieser Bildqualität – nichts, an das ich mich bewußt erinnert hätte. Meine Großmutter kam mit. Sie war dünn und ausgemergelt, am ganzen Körper mit Ekzemen überzogen, und sie war Diabetikerin; sie wog kaum mehr als vierzig Kilo, aber sie strahlte eine Fröhlichkeit aus, die ansteckend war. Mein Vater, ihr Sohn, wachte davon auf. Eine festliche Stimmung erfüllte unser Haus.
Mein Großvater, der sich Jahre später zur Beerdigung meines Vaters in einen Anzug warf und prompt für einen Bankier gehalten wurde, hatte einen Herzinfarkt hinter sich und trank keinen Alkohol. Oder vielmehr war ihm das Trinken strikt untersagt worden, und meine Eltern, die selber tranken, eine Menge tranken, zuviel tranken, gaben sich große Mühe, ihre Alkoholvorräte vor ihm zu verstecken. Alle Flaschen wurden aus der Hausbar verbannt, sogar die absonderlichen Liköre, die seit Jahren niemand angerührt hatte – außer mir, wenn ich heimlich bei dieser oder jener Flasche den Verschluß aufschraubte und daran roch oder mit der Zunge probeweise über den kalten harten Ring aus Glas strich –, und das Bier verschwand aus dem Kühlschrank. Ich wußte nicht recht, was das sollte. Alkohol war eine Tatsache des Lebens, er schmeckte komisch, und Erwachsene frönten ihm, so wie sie einer ganzen Reihe von bizarren, schlechten Angewohnheiten frönten. Ich kickte einen Football auf dem steinhart gefrorenen Rasen herum.
Und dann eines Nachmittags – ein oder zwei Tage vor Thanksgiving, die Großeltern waren schon seit einer Woche bei uns – kam ich von draußen herein, mit tauben Fingern und laufender Nase, und im Haus herrschte ein Tohuwabohu. Ein Stuhl lag umgekippt in der Ecke, der Beistelltisch stand schräg, weil ein Bein abgebrochen war, und meine Großmutter krümmte sich auf dem Fußboden, wie ein zartes, dünnes Bündel, das der Wind beutelte. Großvater stand über ihr, wütend und puterrot im Gesicht, während meine Mutter nach seinem Ellenbogen griff, als versuchte sie sich verzweifelt vor dem Sturz in einen Abgrund zu bewahren. Mein Vater war noch nicht von der Arbeit zurück. Ich stand in der Tür, noch betäubt von der Umarmung des Windes, und hörte die beiden Frauen unartikuliert gegen das seltsam modulierte Gebrüll des Mannes anschreien. Ich wich zurück und zog die Tür hinter mir zu.
Am nächsten Tag ging mein Großvater, mit seinen achtundsechzig Jahren und den steifen Knien, bei minus fünf Grad die drei Kilometer nach Peterskill zum nächsten Schnapsgeschäft. Es war bereits dunkel, Abendessenszeit, und wir wußten einfach nicht, wo er war. »Er ist nur spazierengegangen«, sagte meine Mutter. Dann klingelte das Telefon. Es war die Nachbarin von zwei Häuser weiter. Da liege ein bewußtloser Mann in ihrem Vorgarten – und jemand habe gesagt, wir würden ihn kennen. Ob das stimmte?
Die nächsten beiden Tage – Thanksgiving und den darauffolgenden Tag – campte ich in dem kümmerlichen Wäldchen am Ende unserer Siedlung. Ich lief nicht von zu Hause weg, etwas so Extremes oder Entscheidendes tat ich nicht – ich ging nur zelten, sonst nichts. Ich kaute draußen im Wald auf kaltem Truthahn herum, stopfte mir mit klammen Fingern pappige Füllung in den Mund. Nachts lag ich bibbernd unter den Decken, nie zuvor und nie danach habe ich je so gefroren.
Wir waren Iren. Ich war Ire.
Wie alle Winter in jenen Tagen dauerte dieser Winter ewig, gefangen im festen Griff von gefrorenem Matsch und auspuffgeschwärztem Schnee. Die toten dunklen Stunden in der Schule waren Sühne für ein Verbrechen, das wir noch gar nicht begangen hatten. Der Fernseher wurde um halb vier, wenn wir heimkamen, angeschaltet, und lief immer noch, wenn wir um neun Uhr ins Bett gingen. Ich spielte in diesem Winter Basketball, in einer Liga, die ein paar Väter aus der Siedlung organisiert hatten, und dreimal die Woche ging ich mit einer Kruste aus gefrorenem Schweiß im Haar aus der fußpilzverseuchten Turnhalle nach Hause. Ich wurde vier Zentimeter größer, ließ meine Bürstenfrisur auswachsen und fing an, den Kragen meines Skianoraks hochzuklappen. Am meisten war ich mit Casper zusammen, aber während die bleichen, verkürzten Tage sich dahinzogen, freundete ich mich mehr und mehr mit dem Gedanken an Maki Duryea an.
Sie war noch immer fremd und exotisch, noch immer »die Neue« – und schlimmer, viel schlimmer: die ganze Sache komplizierte sich durch ihre Hautfarbe und ihr Haar und die schwarze, unverwandte Tiefe ihrer Augen, aber sie war einfach ebenso da wie wir alle, und nach einer Weile schien es uns, als wäre sie immer schon dagewesen. Sie war in der Parallelklasse, aber ich sah sie auf dem Spielplatz, im Gang, sah sie in der Cafeteria mit einem Tablett in der Hand Schlange stehen oder die Stufen des Schulbusses erklimmen, mit einer Strickmütze und Fäustlingen, wie sie auch die anderen Mädchen trugen. Ich hatte mit keinem der Mädchen allzuviel zu reden, aber wahrscheinlich habe ich doch hie und da im Vorbeigehen auch mit ihr gesprochen, und einmal, als ich sehr spät vom Spielplatz zu dem vollen Bus lief, kam ich neben ihr zu sitzen. Und einmal bestimmte mich die Sportlehrerin, mit einem gleichgültigen Wink ihres Handgelenks, zu ihrem Tanzpartner.
Alles am Tanzen war nervig. Es war ganz anders als Basketball, Schlagball und Volleyball. Die potentiellen Peinlichkeiten waren unwägbar. Wir waren unruhig und gelangweilt, die Turnhalle war überheizt wegen des kalten Eisregens, der gegen die Fenster prasselte, und die Mädchen wirkten verzückt und lächelten sonderbar, als Mrs. Feldman uns die Tanzschritte demonstrierte. Wir Jungen lümmelten uns gegen die harte Wand, knufften einander, scharrten mit den Füßen und führten ein ausgefeiltes Ritual auf, um zu beweisen, daß uns nichts von alledem auch nur minimal interessierte, obwohl das nicht stimmte und wir ungewollt nervös waren. Aus beiden Klassen lehnte nur Casper es ab, mitzumachen. Mrs. Feldman schickte ihn ohne viel Palaver ins Büro des Direktors, stellte willkürlich Paare zusammen, schaltete dann den antiken Plattenspieler an, mit den seltsamen kratzenden Liedern, die keiner kannte, mit Rhythmen, denen keiner folgen konnte, und ehe ich so recht begriffen hatte, was eigentlich vorging, nahm ich Maki Duryeas feuchte Hand in meine, und mein anderer Arm schlang sich um ihren Rücken wie eine tote Ranke. Sie trug einen Pullover, der für eine Expedition in die Arktis gereicht hätte, und schwitzte in der drückenden, feuchten Dschungelatmosphäre der Turnhalle. Ich konnte sie riechen, doch trotz Caspers Bemerkung verströmte ihre Körperwärme einen angenehmen einschläfernden Duft, der mich die ganze quäkende Ewigkeit der Schallplatte hindurch verzauberte und auf den Beinen hielt.
Der Ball, der große Schulabschlußball, auf den all diese tanztechnischen Übungen hinausliefen, fand am 29. Februar statt, und auf einen bösen Wink des Schicksals hin entschied Mrs. Feldman, den Brauch zu wahren und den Mädchen die Wahl ihrer Tanzpartner zu überlassen. Während wir Jungen in Kunst perspektivisches Zeichnen übten – gewaltige, schiefe Ansichten von Gebäuden und Alleen, die einem fernen Fluchtpunkt zustrebten –, bastelten die Mädchen ihre Einladungen aus Buntpapier, Stoffschleifen und Klebstoff. Ich hatte nichts anderes im Kopf als Basketball, Eisfischen, die ferne zitternde Vision von Frühling und Sommer, die mir Befreiung von Mrs. Feldman, der Turnhalle, der Cafeteria und allem anderen verhieß, und obwohl ich es hätte voraussehen können, war ich überrascht, als Makis Einladung eintraf. Ich wollte nicht hingehen. Meine Mutter fand, ich müsse. Mein Vater sagte gar nichts.
Von da an klingelte das Telefon andauernd. Meine Mutter nahm jeden Anruf mit stiller Entschlossenheit entgegen, ungerührt, unerschüttert raunte sie ins Telefon, kritzelte auf einem Block herum, hob ihren Drink oder ihre Zigarette an die Lippen. Ich weiß nicht, was genau sie sagte, aber sie sprach mit den anderen Müttern, den Müttern der Söhne, die nicht von Maki Duryea zum Ball eingeladen worden waren, und sie erklärte ihnen haarklein, weshalb sie ihrem Sohn erlaubte, ja ihn dazu ermutigte, mit einer Negerin auf den Ball zu gehen. In späteren Jahren, als die Bürgerrechtsbewegung aufkam und Malcolm X und Martin Luther King ermordet wurden und die Ghettos brannten, hatte sie nie viel darüber zu sagen, aber damals, am Telefon, spürte ich ihre Leidenschaft, den kalten, beharrlichen Ton ihrer Stimme.
Ich ging mit Maki Duryea auf den Ball. Sie trug ein gestärktes Baumwollkleid mit kurzen Ärmeln, in dem sie komisch und irgendwie zu schlicht aussah, ich kam mit Schlips und Jackett und war extra zum Friseur gegangen. Ich nahm sie in den Arm und tanzte mit ihr, obwohl ich nicht wirklich wollte und sie anblaffte, als sie mich fragte, ob ich ein paar Kekse und eine Tasse Punsch haben wollte, obwohl ich neidisch und sehnsüchtig in die flaggengeschmückte Ecke sah, aus der Casper mich angrinste und dabei Billy Matechik in die Schulter boxte; ich tanzte mit ihr, aber das war’s auch, weiter würde ich nicht gehen, und es war mir vollkommen egal, ob der Schnee schwarz wurde oder dem Atomreaktor die Kuppel davonflog, oder Johnny Atom uns alle im Schlaf verglühen ließ.
Es wurde ein später Frühling, und wir wollten ihm etwas nachhelfen, indem wir die Baseballsaison einläuteten, obwohl der Schnee noch auf dem toten gelben Gras und dem gefrorenen Boden darunter lag. Wir holten Bälle und Handschuhe hervor, standen in T-Shirts und mit bibbernden Schultern auf der Straße, auf den Armen eine Gänsehaut, über unseren Köpfen einen Heiligenschein aus kondensierter Atemluft. Casper spielte weder Hand-, noch Foot-, noch Base-, noch Basketball und stand daher abseits in seiner Lederjacke, in der Hand heimlich eine Zigarette, und beobachtete uns spöttisch aus seinen grauen Augen. Ich erkältete mich, bekam eine Grippe, mußte eine Woche lang im Bett bleiben. Am ersten April gingen wir Forellenfischen, ein Frühlingsritual, aber es war ein trüber, unwirscher Tag, ein kalter Wind wehte, und die Temperatur sank unter Null. Ich warf den Köder aus, bis mein Arm jedes Gefühl verlor. Die Forellen hätten ebensogut ausgestorben sein können.
Seit dem Ball hatte ich mit Maki Duryea nichts zu tun gehabt. Ich sah sie nicht einmal an. Wäre sie plötzlich auf dem Spielplatz in Flammen aufgegangen oder zur Größe eines Zeppelins angeschwollen, ich hätte es nicht bemerkt. Wegen der Tanzgeschichte war ein stetiger Strom von Schmähungen über mich hereingebrochen, und ich war verlegen und wütend. Einen vollen Monat später wurde ich noch zum Ziel eines verschärften Programms von Kopfnüssen und Ohrzwickern, von eingespeichelten Papierkügelchen und zusammengerollten Heftblättern mit hingekrakelten Herzen auf den zerknüllten Innenseiten, doch wir waren damals unschuldig, und niemand verwendete die Schimpfwörter, die wir erst später lernen sollten, die Sprache von Haß und Ausgrenzung. Sie gingen auf mich los, weil ich mit Maki Duryea getanzt hatte – oder vielmehr, weil ich zugelassen hatte, daß sie mit mir tanzte –, und weil sie anders war und weil die meisten Eltern eine Mißbilligung an den Tag legten, die ihre Kinder noch nicht begreifen konnten. Deswegen war ich sauer auf Maki und auf meine Mutter auch.
Als die ersten Gerüchte auftauchten, empfand ich deshalb eine irgendwie schuldbewußte Befriedigung. Vor Makis Haus hatte es Ärger gegeben. Vandalen – und allein dieses Wort verursachte mir einen perversen Kitzel –, Vandalen hatten rassistische Hetzparolen auf die schimmernd schwarze Fläche ihrer geteerten Einfahrt gesprayt. Meine Mutter tobte vor Wut. Sie setzte sich mit ihrem Drink und den Zigaretten ans Telefon. Sie bildete sogar ein Zwei-Personen-Komitee mit Caspers Mutter (die eine der wenigen war, die nicht wegen der Balleinladung angerufen hatten), und sie trafen sich ein- oder zweimal in Caspers Wohnzimmer, wo sie aus langstieligen Gläsern eine klare Flüssigkeit tranken, mit ihren Zigaretten gegen die Aschenbecher klopften und den tristen Zustand unserer Gemeinde, der Siedlung, der Stadt, des Landes und der ganzen Welt beklagten.
Während unsere Mütter die Hände rangen und mit kratziger, geheimnisvoller Stimme miteinander telefonierten, nahm mich Casper beiseite und zeigte mir die Zeitung, die Morty Solomon, der auf seinem Fahrrad durch die Straßen fuhr, keine fünf Minuten zuvor auf den Rasen geschleudert hatte. Ich las keine Zeitungen. Ich las keine Bücher. Ich las gar nichts. Casper drängte sie mir auf, und da stand es, das Gerücht nahm Gestalt an: VANDALEN SCHLAGEN WIEDER ZU. Diesmal war ein Kreuz vor dem Haus der Duryeas verbrannt worden. Ich sah Casper erstaunt an. Ich wollte ihn fragen, was das zu bedeuten hatte, ein Kreuz – ein Kreuz war doch was Religiöses, oder? Und das hier hatte doch gar nichts mit Religion zu tun, oder? –, aber ich fühlte mich unsicher in meiner Ratlosigkeit und schwieg deshalb lieber.
»Weißt du, was wir machen sollten?« fragte er und sah mich dabei scharf an.
Ich dachte an Maki Duryea, an ihr Haar und die ruhigen Augen, dachte an die lodernden Flammen und an die Parolen auf ihrer Einfahrt. »Was denn?«
»Wir sollten sie mit Eiern beschmeißen.«
»Aber –« Ich wollte fragen, wie das möglich wäre, da wir doch gar nicht wüßten, wer es getan hatte, doch dann ahnte ich die Richtung, in die sein Vorschlag ging, und in meiner Verwunderung stieß ich hervor: »Aber wieso?«
Er zuckte die Achseln, zog den Kopf ein, scharrte mit einem Fuß auf dem Teppich. Wir standen im Flur neben dem Telefontisch. Ich hörte meine Mutter im Nebenzimmer, obwohl die Tür geschlossen war und sie im Flüsterton sprach. Caspers Mutter antwortete ihr in gerauntem Einverständnis. Casper starrte die geschlossene Tür an, wie um zu sagen: Da, da hast du die Antwort.
Nach kurzer Pause fragte er: »Was ist denn los – hast du Schiß?«
Ich war zwölf Jahre alt, zwölfeinhalb. Wie kann irgend jemand in diesem Alter Angst eingestehen? »Nein«, sagte ich, »ich hab keinen Schiß.«
Die Duryeas wohnten ein Stück außerhalb der Siedlung in einem gemieteten zweistöckigen Einfamilienhaus mit Doppelgarage, das ein paar neue Schindeln und einen Anstrich bitter nötig hatte und am Ende einer steilen Schotterstraße mit tiefen Spurrinnen stand, knapp einen Kilometer von uns entfernt. Die Straße wurde nicht von Lampen erhellt, war aber mit großen Bäumen bestanden, so daß auch die dunkelsten Schatten darunter noch dunkler wurden. Es war eine warme, glitzernd feuchte Nacht Ende Mai, eine dieser Nächte, die einen mit ihrer üppigen Intensität überraschen, in denen alle Gerüche kräftiger, alle Geräusche gedämpft und die Lichter leicht verschwommen sind. Es nieselte, als wir von Caspers Haus aufbrachen.
Casper kaufte die Eier, zwei Dutzend, in dem kleinen Laden am Highway. Seine Eltern waren reich – verglichen mit meinen jedenfalls –, und irgendwie hatte er immer Geld. Der Ladenbesitzer war eine tragische Erscheinung: ein Mann mit geschwollenen lila Tränensäcken unter den Augen und einem gewaltigen Bauch, der unter seiner fleckigen weißen Schürze wie eine Lawine aussah. Casper steckte sich rasch zwei Zigarren ein, während ich den Mann mit einer Frage über den Kakao ablenkte – gab es den auch in kleineren Portionen?
Während wir die Schotterstraße entlanggingen, in der Hand die Eier, war Casper merkwürdig still. Als uns von der Einfahrt eines dunklen Hauses ein Hund anbellte, ergriff er meinen Arm, und im nächsten Augenblick, als ein Auto in die Straße einbog, zog er mich in die Büsche und kauerte sich schwer atmend nieder, bis die Scheinwerfer nicht mehr zu sehen waren. »Maki Duryea«, leierte er flüsternd herunter, wie er es schon hundertmal getan hatte, »Maki Duryea, Maki Duryea.« Mein Herz hämmerte. Ich wollte es nicht tun. Ich wußte nicht, warum ich es tat, begriff noch nicht, daß der Zweck der Übung nur darin bestand, die Werte unserer Eltern ins Gegenteil zu verkehren, sie zu besudeln und in den Schmutz zu ziehen, und daß angesichts dieses uralten Imperativs alle ethischen Erwägungen null und nichtig wurden. Ich war ein Freiheitskämpfer. Die Eier waren Handgranaten. Ich barg sie an meiner Brust.
Wir versteckten uns in dem wild wuchernden Gestrüpp vor dem Haus und beobachteten das Geschehen hinter den stillen, matterleuchteten Fenstern. Mein Haar war von Nieselregen angeklatscht. Casper kauerte auf den Fersen und befingerte seinen Eierkarton. Ich konnte ihn kaum erkennen. Einmal ging eine Gestalt hinter dem Fenster vorbei – ich sah das Haar, den glatten, schimmernden Glanz –, und es hätte Maki sein können, aber ich war mir nicht sicher. Vielleicht war es auch ihre Mutter. Oder ihre Schwester, Tante, Großmutter – irgend jemand eben. Endlich, als mich das Herumhocken in den Büschen bereits so anödete, wie mich noch nie etwas angeödet hatte, nicht mal ein Zahnarztbesuch, gingen die Lichter aus. Oder nein, sie gingen nicht einfach aus – sie explodierten zu Dunkelheit, und der schwarze Sturzbach der Nacht raste heran und erfaßte das Haus.
Casper stand auf. Ich hörte, wie er seinen Eierkarton aufklappte. Wir sprachen nichts – Worte wären überflüssig gewesen. Auch ich stand auf. Die Eier paßten rund und glatt in meine Handfläche, als wären sie dafür geformt. Ich hob den Arm – Baseball, Football, Basketball –, und Casper regte sich neben mir. Die vertraute Wurfbewegung, das Zischen der Luft: nie werde ich das Aufklatschen jenes ersten Eis vergessen, das gegen die Vorderfront des Hauses flog, diese samtene Feuchtigkeit, wie die Geburt von etwas. Keine Waffe und dennoch eine Waffe.
Der Sommer war heiß, ungebändigt, endlos, und er gab mir Kraft. Am ersten Ferientag kletterte ich auf den Apfelbaum am Ende der Sackgasse, die unsere Siedlung begrenzte, und sann über die Zeit und Lebenslust nach, die vor mir lagen, und danach würde der Herbst kommen und ich in die Junior High-School gehen. Maki Duryea war fortgezogen. Das hatte ich von Casper gehört, und eines Nachmittags am Ende des Sommers wanderte ich die lange steile Schotterstraße hinauf, um nachzusehen. Das Haus stand leer. Ich kletterte auf den Hügel dahinter, um durch die kahlen Fenster zu spähen und mich zu vergewissern. Nackte Dielenböden erstreckten sich vor nackten Wänden.
Und dann, im Chaos des großen Parkplatzes vor der Junior High, auf dem fünfzig Busse die Kinder aus einem Dutzend Grundschulen ausluden – ich fühlte mich verloren und fehl am Platz und eingezwängt in ein langärmliges kariertes Hemd, das ich am Morgen frisch aus dem Cellophan gezogen hatte –, da sah ich sie. Sie sprang aus einem der anderen Busse, in einer Kaskade aus Beinen und Armen und nervösen Gesichtern, eine Büchertasche über die Schulter geworfen, das Haar bis zur Taille, wie festgebügelt. Ich konnte mich nicht rühren. In diesem Moment blickte sie auf, sah mich und lächelte. Dann war sie verschwunden.
Als ich an diesem Abend einen harten schwarzen Ball gegen die Hausmauer knallte und an nichts weiter dachte, spürte ich den schwachen, elektrisierenden Hauch eines vergessenen Dufts in der Luft, und da war er, der Nebelmann, ratterte in seinem offenen Jeep am Haus vorbei. Mein Fahrrad lag am Straßenrand, und mein erster Impuls war, mich darauf zu schwingen, aber dann hielt ich inne. Etwas war anders diesmal, und anfangs wußte ich nicht genau, weshalb. Dann aber bemerkte ich, was es war: der Nebelmann trug eine Maske, eine Gasmaske, wie man sie in Kriegsfilmen manchmal sah. Er hatte die übliche Eskorte von strampelnden Radlern hinter sich geschart, als er zum zweitenmal an unserem Haus vorbeikam, und ich stand jetzt auf dem Gehsteig, um dieses Phänomen zu studieren, diese subtile Veränderung in der Struktur der Dinge. Er wirkte anders mit der Maske, irgendwie finster, und seine Augen schienen zu glitzern.
Der Sprühnebel verwischte den Blick auf die Häuser gegenüber, die radelnden Kinder verschwanden, die niedrigen dunklen Wolken ballten sich über dem perfekt gepflegten Rasen und trieben auf mich zu. Und dann, ehe ich noch wußte, was ich tat, war ich auf dem Fahrrad, zusammen mit den anderen, und jagte dem Nebelmann durch den Dunst hinterher, jagte ihm nach, als hinge mein Leben davon ab.